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Karl Liebknecht 19110527 Animierkneipen—ein Teil der sozialen Frage

Karl Liebknecht: Animierkneipen – ein Teil der sozialen Frage

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zu einem Antrag der Konservativen Partei1

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 6. Bd., Berlin 1911, Sp. 7122-7125 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 424-430]

Meine Herren, das Animierkneipenwesen ist sicherlich eine sehr böse und hässliche Erscheinung in unserem groß- und kleinstädtischen Leben. Wer als Anwalt öfters mit Konzessionssachen und Konzessionsentziehungssachen zu tun hat, wer als Anwalt bei Strafsachen mitzuwirken hat, wie sie sich aus dem Animierkneipenwesen ergeben: bei Polizeikontraventionen, bei Körperverletzungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt usw., gewinnt einen sehr lebendigen Einblick in dieses Animierkneipenwesen, und es wird von keinem geleugnet werden, dass es wahrhaftig kein Unglück wäre, im Gegenteil ein Glück sein würde, wenn die unglückseligen Existenzen verschwänden, die in diesem Sumpfboden ihr Dasein meist jämmerlich genug fristen. Sicherlich haben wir durchaus nicht die Neigung, hier mit großem sittlichen Pathos uns gegen die Inhaber dieser Wirtschaften zu wenden oder gar gegen die Kellnerinnen; das wäre durchaus deplatziert, einer solchen Auffassung der Sache müssten wir auf das Schroffste widersprechen. Das Animierkneipenwesen gehört durchaus in dasselbe Gebiet wie die Prostitution. Es ist in gewissem Sinne eine ebenso organische Erscheinung unseres modernen Lebens wie eben die Prostitution.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sowohl die Mädchen, die in diesen Kneipen untergebracht sind und dort ihrem Beruf nachgehen, wie die Inhaber dieser Wirtschaften sind zum großen Teil als Opfer unserer bedauernswerten wirtschaftlich-sozialen Zustände zu betrachten.

Und das Bedürfnis nach diesen Wirtschaften ist nicht so sehr ein Bedürfnis der Schichten, bei denen man sonst so häufig glaubt, einen Mangel an genügender Moral voraussetzen zu müssen, ist nicht das Bedürfnis der Jugend der Arbeiterklasse. Die Jugend der Arbeiterklasse hat wenig Gelegenheit und Lust, in diese Kneipen hineinzugehen; es ist die Jugend der „besseren" Stände, es ist die studentische Jugend usw., die – wie ich gern zugeben will, heute nicht mehr in demselben Umfange wie früher, aber immerhin noch in erheblichem Umfange – dazu beiträgt, dass derartige Erscheinungen wirtschaftlich noch möglich sind.

Nun ist ja zweifellos, dass wir hier verschiedene Gesichtspunkte zu erwägen haben. Einmal handelt es sich darum, dass die Damenbedienung in den Lokalen an und für sich durchaus nicht verboten werden darf. Es schießt weit über das Ziel hinaus, wenn man aus seiner Abneigung gegen die Missstände heraus, die mit den Animierkneipen zusammenhängen, sich überhaupt gegen die weibliche Bedienung, gegen die Kellnerinnen an und für sich, wendet. Es ist Ihnen bekannt, dass vor einigen Jahren in Süddeutschland von einer recht angesehenen Stelle eine Agitation gegen das sogenannte Kellnerinnenunwesen mit der Begründung eingeleitet wurde, dass die Kellnerinnen summa summarum nichts anderes als eine besondere Abteilung der Prostituierten seien. Dass man so weit nicht gehen darf, ist ganz selbstverständlich. Es gibt durchaus anständige und brave Mädchen in Hülle und Fülle, die in diesem Berufe, der gerade den Frauen naheliegt, tätig sind. Es muss also zunächst zwischen Lokalen mit weiblicher Bedienung an und für sich und den Animierkneipen mit jenen hässlichen und gefährlichen Eigentümlichkeiten scharf geschieden werden.

Nun ist es sehr schwer, das im Einzelnen jeweils zu fassen. Wir können eigentlich nicht darüber klagen, dass wir nicht bereits genügende Bestimmungen hätten, um das Animierkneipenwesen zu restringieren. Wer die Polizeiverordnungen kennt, die speziell in Berlin darüber erlassen sind, der weiß, dass, wenn nach diesen Polizeiverordnungen verfahren würde, es schlechthin ausgeschlossen wäre, dass in den Animierkneipen Unsittlichkeiten vorkommen könnten. Der Witz ist aber, dass diese Polizeiverordnungen nicht durchgeführt werden und wohl auch gar nicht durchgeführt werden können, und zwar zum Teil infolge der besonderen sozialen Lage, in der sich einmal die Inhaber der Lokale und dann die Kellnerinnen befinden. Die Inhaber dieser Lokale würden vielfach überhaupt keine Kundschaft bekommen, wenn die Animiertätigkeit der Kellnerinnen aufhörte. Wenn sie deshalb auch an und für sich den Kellnerinnen scheinbar die Innehaltung der Polizeiverordnungen anempfehlen, so haben sie vielfach notwendig innerlich den Wunsch, dass diesen Bestimmungen entgegengehandelt werde, weil sie nur dann die Möglichkeit vor sich sehen, etwas zu verdienen. Und die Kellnerinnen wiederum werden von diesen Inhabern in einer Form entlohnt, dass sie durchaus nicht in der Lage sind, auch nur in der notdürftigsten Weise zu existieren, ohne zu animieren.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie bekommen festen Lohn gewöhnlich überhaupt nicht, sie werden auf Prozente gesetzt, sie werden, abgesehen davon, auch leicht entlassen, wenn sie nicht in gehöriger Weise animieren.

Diese Mädchen sind oft geradezu in einer entsetzlichen Lage. Ich habe in meiner Anwaltspraxis einen Fall gehabt in einem kleinen Ort in der Nähe von Berlin, der nicht mehr den Charakter eines Vororts trägt, in dem festgestellt wurde, dass eine Kellnerin, die hochschwanger war, sich bis zu dem Tage vor ihrer Entbindung den Gästen noch geschlechtlich hingegeben hat,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

ein Vorgang, der in der Tat geeignet war, geradezu Entsetzen zu erregen. Nun, die Abhängigkeit von dem Inhaber der Wirtschaft und andererseits die Sklaverei, in der sich diese unglücklichen Wesen einfach infolge der Notlage, in der Notwendigkeit befinden, in irgendeiner Weise ihr Leben zu fristen, bringt sie dazu, dass sie Zwittergeschöpfe werden, dass sie einerseits zwar eine Erwerbstätigkeit, bei der sie sehr stark in Anspruch genommen werden – denn diese Mädchen bummeln durchaus nicht, sie müssen scharf arbeiten –, aber gleichzeitig doch auch noch ein der Prostitution gleiches oder verwandtes Gewerbe ausüben müssen. Das ist es, was diese Geschöpfe so besonders bedauernswert macht, weil sie, auch wenn sie mit zu den Prostituierten selbst zu zählen sind, dennoch nicht zu den Prostituierten gehören, die im Nichtstun, unter Ausnutzung ihrer Reize, dahinleben.

Das Wichtigste, was auf diesem Gebiete zu geschehen hat, ist nicht, mit Polizeiverordnungen dazwischenzufahren, ist auch nicht, mit gesetzlichen Bestimmungen, Abänderungen der Gewerbeordnung usw., vorzugehen, sondern, da wir es hier mit einem Stück der sozialen Frage zu tun haben, so hat im Wesentlichen die soziale Fürsorge einzugreifen. Es müssen sozialpolitische Gesetze zum Schutz der Kellnerinnen geschaffen werden, wie das ja zum Teil auch, wie ich gern zugeben will, von dem Herrn Vorredner und Antragsteller in der früheren Verhandlung vom Jahre 1909 angeregt worden ist, wobei er allerdings auch sozialpolitische Vorschläge gemacht hat, die ich nicht billigen kann, unter anderem über Arbeitsbücher usw., die übrigens schon durch Polizeiverordnung bei uns im Wesentlichen eingeführt sind, ohne dass dadurch im geringsten Abhilfe geschaffen wäre.

Meine Herren, ich muss auf das Lebhafteste bedauern, dass der Herr Vorredner in Bezug auf das Berliner Animierkneipenwesen so außerordentlich übertrieben hat. Die Zettel, die er da in die Hand gedrückt bekommen hat, Gott um Himmels willen, sind die denn so schlimm! Und wer beachtet sie denn noch! In der Beziehung ist es ja schon viel besser geworden als früher. Wer kann denn heute noch davon reden, dass die Animierkneipen in den Straßen von Berlin noch besonders auffällig wären? Sie werden schon im höchsten Maße restringiert – das weiß jeder, der mit den Konzessionsangelegenheiten zu tun hat – dadurch, dass die Polizei mit der Konzessionsentziehung sehr rigoros vorgeht, und die Verwaltungsgerichte sind sehr bereit, diesbezüglichen Anträgen der Polizeiverwaltungen stattzugeben; und die Neubewilligungen werden nur unter den allergrößten Schwierigkeiten erteilt. Die Zahl der Animierkneipen mit Damenbedienung zweifelhaften Charakters ist in Berlin bereits ganz kolossal zurückgegangen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Man soll doch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten! Man kann doch wirklich nicht sagen: Seht den Mord in der Animierkneipe, da sehen wir wiederum, wie die Animierkneipen an allen möglichen schrecklichen Erscheinungen unseres gegenwärtigen Lebens schuld sind! Ja, meine Herren, Mordfälle kommen auch anderwärts vor. Wenn ein Mord im Grunewald vorkommt, wird man nicht sagen: Der Grunewald muss abgeschafft und schleunigst niedergehauen werden! Solche Erscheinungen sind Einzelerscheinungen, aus denen man keine weitgehenden Konsequenzen ziehen kann. Und wir haben noch ganz andere Erscheinungen in der Großstadt, die sicherlich in dasselbe Gebiet hineingehören. Wenn man da so weit gehen will, überall mit Polizeiverordnungen und Strafgesetzen einzugreifen, mag man auch gegen gewisse Tanzsalons einschreiten, diese Tanzsäle, von denen man wohl sagt, dass sie besonders stark zu den Zeiten besucht werden, wo gewisse Organisationen, die mit gewissen großen Parteien dieses Hauses hier eine nahe verwandtschaftliche Fühlung haben, ihre Tagungen usw. hier in Berlin abhalten.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, sicherlich hat man hier einen wunden Punkt vor sich, der nach aller Möglichkeit der Heilung bedarf; aber man soll nicht meinen, dass man hier mit Polizeimitteln helfen kann. Man muss vor allem verstehen lernen, dass hier Selbsthilfe des Volkes durch Aufklärung Not tut. Jedes Bemühen um die Gesundung der Lebensanschauungen, vor allem in der Jugend, eine Verbesserung unserer Erziehungsweise, eine Einwirkung zur Idealisierung der Jugend gerade der besitzenden Klassen – all das würde weit mehr dazu beitragen können, hier Abhilfe zu schaffen. Wenn man die Jugend im ödesten patriotischen Klimbim aufwachsen lässt, in den Idealen des Korpsburschentums und dergleichen; wenn man sie von vornherein erfüllt mit der Abneigung gegen alle großzügigen, auf eine Umgestaltung unserer Gesamtverhältnisse hinzielenden Bestrebungen, wenn man sie, mit anderen Worten, mit derjenigen Politik erfüllt, die die großen Parteien dieses Hauses hier vertreten, dann ist es ganz natürlich, dass sie im öden Materialismus dahinleben und dass sie leicht derartigen Versuchungen unterliegen, die bei einer gesunden und idealen Jugend wirkungslos abprallen werden.

Das andere ist die soziale Fürsorge, deren allerdings die auf diesem Gebiete beschäftigten Mädchen in ganz besonderem Maße bedürftig sind.

Es ist sehr zu beklagen, dass der Herr Vorredner diese Gelegenheit nicht hat vorübergehen lassen, ohne seinen muckerischen Anschauungen in Bezug auf das Freibad Wannsee Ausdruck zu verleihen. Er ist hierbei so prüde gewesen, dass er den Artikel der „Kreuz-Zeitung", den er zum Anlass genommen hat, die Regierung zum Kampfe gegen das Freibad Wannsee aufzurufen, uns nicht einmal zur Kenntnis gegeben hat. Diese Schamhaftigkeit macht es mir unmöglich, mich mit einer speziellen Begründung gegen seine Angriffe zu wenden, weil mir der Artikel der „Kreuz-Zeitung" nicht bekannt ist. Aber Sie wissen, dass die Polizeiverwaltung sich bereits eingehend mit dem Freibad Wannsee zu befassen gehabt hat, speziell mit dem Familienbad, dem Zusammenbaden der beiden Geschlechter, dass die Polizeiverwaltung auf Grund sorgfältiger Prüfung zu der Auffassung gelangt ist, dass denjenigen Missständen, die vielleicht eingetreten sein mögen, in anderer Weise als durch Beseitigung des Familienbades abgeholfen werden kann und dass infolgedessen kein Anlass vorliegt, gegen die bisherige Gestaltung des Freibades Wannsee wesentliche Einwendungen zu erheben. Man möge doch endlich einmal die Hetzereien gegen diese harmlose Einrichtung lassen. Warum soll nicht in Wannsee ein Familienbad sein, wie es als selbstverständlich in all den großen fashionablen Seebädern gefordert wird, wie Sie (nach rechts) es selbst frequentieren und wie es auch – davon bin ich überzeugt – Herr von Wenden frequentiert, wenn er mal nach Ostende kommt oder in unsere Seebäder an der Nord- und Ostsee. Warum soll für die oberen Zehntausende eine erlaubte Sittlichkeit sein, was, wenn es für die große Masse der Bevölkerung verlangt wird, eine unerlaubte Unsittlichkeit sein soll?

(Zuruf des Abgeordneten von Wenden: „Ich bin noch in keinem Familienbad gewesen!")

Dann tun Sie mir leid; ich wünsche Ihnen, dass Sie recht bald Gelegenheit haben, dorthin zu kommen.

Ich meine, wenn wir auch gern zugeben, dass diesem Antrage ein an und für sich richtiger Gedanke zugrunde liegt, dass hier etwas nach Abhilfe schreit, dass doch dasjenige, was von dem Herrn Antragsteller im Speziellen gewünscht wird, nicht das richtige Mittel ist, um hier Abhilfe zu schaffen. Wir sind nicht in der Lage, dem Ersuchen, das sich in dieser Form an die preußische Staatsregierung richtet, zu entsprechen.

(Zuruf rechts: „Ist auch gar nicht nötig!")

Wir sind selbstverständlich geneigt, sobald uns konkret Vorschläge gemacht werden, diese Vorschläge, wenn sie nach unserer Auffassung irgendwie geeignet sind, den anerkannten Missständen entgegenzutreten, zu prüfen und ihnen zuzustimmen. Aber in dieser generellen Form hier anzuerkennen, dass alle bisher beschrittenen Wege nicht zum Ziele geführt haben, und nun sofort die Gesetzgebungsmaschinerie und die Polizei weiter in Bewegung zu setzen, dafür scheint uns vorläufig kein Anlass.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der Antrag forderte schärfere Maßnahmen gegen Animierkneipen. Die Red.

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