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Karl Liebknecht 19110228 Die Binnenschiffer im Netz preußischer Polizeiverordnungen

Karl Liebknecht: Die Binnenschiffer im Netz preußischer Polizeiverordnungen

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Handels- und Gewerbeetat

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 3. Bd., Berlin 1911, Sp. 3021-3028 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 137-151]

Meine Herren, ich habe weder die Absicht, über Hausierer und Wanderlager zu reden, noch über Pflastersteine, sondern zu dem Titel, um den es sich hier handelt: über die Schifffahrtspolizei. Ich habe sehr ernste Beschwerden über die Handhabung der Schifffahrtspolizei vorzubringen.

Die Schiffer beschweren sich allgemein über die Art, wie die Schifffahrtspolizei ausgeübt wird, die durchaus nicht den berechtigten Anforderungen entspreche. Sie bezeichnen die Art, wie sie behandelt werden, als rekrutenmäßig und klagen über vielfache Beschimpfungen und Rohheiten, die doch auf das Äußerste vermieden werden müssten. Wenn wir bedenken, wie schwer schon an sich der Beruf der Privatschiffer ist, wenn wir weiter bedenken, welche Schwierigkeiten den Binnenschiffern durch ungezählte Polizeiverordnungen, nach denen sie sich zu richten haben, bereitet werden, dann wird man fordern dürfen, dass diese Polizeiverordnungen, überhaupt die Polizeigewalt wenigstens in einer Form gehandhabt werden müssten, die einigermaßen den Ansprüchen einer billigen Rücksicht und des Anstandes Rechnung trägt.

Die Polizeiverordnungen, mit denen die Schiffer bedacht sind, sind geradezu Legion. Der Beruf der Schiffer besteht aus einer Art Spießrutenlaufen; sie haben vom Morgen bis zum Abend unausgesetzt mit den kompliziertesten polizeilichen Bestimmungen zu kämpfen; es ist ein wahres Gestrüpp von solchen Bestimmungen, durch das sie sich tagaus, tagein durch zu winden haben. Von dem polizeilichen An- und Abmeldungswesen, das sich auf allerhand Einzelheiten erstreckt, die sonst dabei nicht in Frage kommen, abgesehen, sind die Schiffer durch die Vorschriften über die Art, wie sie sich beim Anliegen, beim Verladen bei der Polizei zu melden haben, durch die Nachweise, die sie dabei zu führen haben, allerhand Scherereien und Schikanen ausgesetzt, die sie schwer empfinden. Über die Art der Besatzung sind sehr komplizierte Bestimmungen getroffen, die nicht überall die gleichen sind, sondern örtlich wechseln, so dass die Schiffer fortgesetzt damit rechnen müssen, dass sie auf ihrer Fahrt in ein Gebiet gelangen, in dem in dieser Richtung ganz andere Bestimmungen bestehen als in dem Orte, wo sie ihre Fahrt angetreten haben oder den sie gerade erst verlassen haben. Meine Herren, es gibt Bestimmungen, die sich beziehen auf die Art, wie die Kähne anzulegen haben, wie die Schiffer zu fahren haben; die sich beziehen auf die Art der Anmeldung des Frachtgutes, für die man, selbst wenn der Irrtum offensichtlich auf Seiten des Verfrachters gelegen hat, doch den Schiffer verantwortlich zu machen pflegt. Meine Herren, mir ist eine Polizeiverordnung zur Hand, die sich erstreckt auf den „Verkehr und das Liegen der Fahrzeuge und Flöße in der Stromelbe bei Magdeburg von der Hornspitze Kilometer 323 bis zur Nordecke des Herrenkrugparkes Kilometer 330“ – also auf eine Strecke von ganzen sieben Kilometern; und 23 lange Paragraphen beschäftigen sich mit der Art, wie die Schiffe auf dieser Stromstrecke von sieben Kilometern zu liegen und sich zu bewegen haben. Und, meine Herren, das ist bloß ein kleiner Ausschnitt aus all den Paragraphen, mit denen die Schiffer wie mit einem Netz umgeben sind.

Meine Herren, die Polizeiverordnungen sind oftmals, wie mir scheint, unter vollkommener Unkenntnis der besonderen Verhältnisse erlassen, unter denen die Schifffahrt betrieben wird. Da wird von den Kähnen verlangt, dass sie gestreckt am Ufer liegen müssten; es wird gegen denjenigen, der dagegen verstößt, eine Polizeistrafe in oft recht erheblicher Höhe verhängt. Dabei wird nicht beachtet, dass die Schiffer gar vielfach durch den Strom und durch den Wind abgetrieben werden, ohne dass die Schiffer in der Lage sind, dagegen Abhilfe zu schaffen. Die Strompolizei nimmt nur allzu oft keinerlei Rücksicht auf derartige höhere Gewalt, der der Schiffer so vielfach unterworfen ist. Meine Herren, es liegen mir eine ganze Reihe von Strafverfügungen vor, die sich gerade darauf beziehen, dass die Schiffer in irgendeiner Weise den Anliegebedingungen nicht entsprochen haben, Fälle, in denen aber die Schiffer nicht schuldig waren, sondern wo sie durch höhere Gewalt verhindert worden waren, den Bestimmungen der Strompolizei nachzukommen. Ich möchte besonders betonen, dass die Schiffer vielfach gar keine Möglichkeit haben, in derjenigen Weise anzulegen, wie es die Polizeiverordnungen verlangen, wenn sie durch irgendeinen Zufall genötigt sind, plötzlich ihre Fahrt zu unterbrechen. Es ist ihnen verboten, die Kähne an den Bäumen zu befestigen, Pfähle sind sehr oft nicht da – naturgemäß –, die Möglichkeit, sie in anderer Weise zu befestigen, besteht gleichfalls häufig gar nicht, und so ist den Schiffern durch die generelle Bestimmung, dass sie nicht an Bäumen festmachen dürfen, oftmals die Möglichkeit absolut genommen, überhaupt anzulegen, selbst wenn sie durch unabwendbare Umstände dazu genötigt werden.

Meine Herren, besonders wird über die vielfachen Schikanen geklagt, denen die Schiffer bei den Schleusen ausgesetzt sind. Da werden die Kähne mit großer Willkür bald als zu lang bezeichnet, bald als zu breit. In Berlin wurden und werden vielfach Besitzer von Kähnen, die seit Jahrzehnten bereits die Berliner Schleusen passiert haben, nun plötzlich genötigt, besondere Passierscheine sich ausfertigen zu lassen, die dem Schiffer natürlich Geld kosten und die vollkommen sinnlos sind, weil ja eben durch das Alter des Schiffes und durch die notorische Tatsache, dass das Schiff früher diese Schleuse passiert hat, nachgewiesen ist, dass das Schiff auch gegenwärtig für die Passage geeignet ist.

Meine Herren, häufig kommt es vor, dass der Schiffer durch den Verlader über die Art der Ladung irregeführt wird; dann ist er es, der dafür zu büßen hat: Er wird in eine Polizeistrafe genommen. Ein Fall dieser Art, der sich vor nicht langer Zeit in der Nähe von Berlin abgespielt hat, liegt mir hier vor; ich will natürlich darauf verzichten, Einzelheiten dieses Falles vorzutragen.

Meine Herren, viele Beschwerden richten sich gegen die Art, wie das Meldewesen besonders in Berlin gehandhabt wird. Einmal sind die Räume, die ihnen bei den Anmeldungen zur Verfügung stehen, durchaus unzureichend; bloß drei oder vier Stühle stehen zur Verfügung; oftmals warten 30, 40 Schiffer auf Erledigung ihrer An- oder Abmeldung, sie müssen stundenlang warten und haben gar keine Gelegenheit, sich in der Zwischenzeit in angemessener Weise unterzubringen. Meine Herren, es müsste dafür gesorgt werden, dass die Schiffer, deren Zeit auch Geld ist, die oftmals sehr pressiert sind, die durch Zeitversäumnis oftmals erhebliche Schädigungen zu gewärtigen haben, rascher abgefertigt werden können und dass ihnen für die Zeit ihres Aufenthaltes auf den Polizeiämtern eine gewisse Bequemlichkeit gegeben wird. Weiter wird darüber geklagt, dass die Schiffer stets persönlich die Anmeldung vollziehen müssen und dass sie dabei auf Herz und Nieren inquiriert werden, nicht nur über sich und ihre eigenen Personalien, sondern auch über die Personalien jedes einzelnen Menschen, der mit auf dem Kahne ist; das ruft eine lebhafte Missstimmung bei den Schiffern hervor.

Meine Herren, um Ihnen zu zeigen, welche Schwierigkeiten für einen Schiffer entstehen können durch die Buntscheckigkeit der Polizeiverordnungen auf den verschiedenen Stromgebieten, will ich auf ein Beispiel zurückgreifen. Es existiert im Berliner Gebiet eine Verordnung, wonach auf einem Schiff kein Mann der Besatzung unter 16 Jahre alt sein darf. Außerhalb Berlins besteht eine entsprechende Verordnung zumeist nicht. Nun kommen die Schiffer mit ihren Bootsleuten angefahren, die oftmals erst 14, 15 Jahre alt sind – ein Alter, das nach unserer Auffassung allerdings für diesen Beruf noch nicht wohl geeignet ist –, sie kommen nach Berlin, es wird festgestellt, dass der Junge nicht das für Berlin erforderliche Alter hat – die Polizeistrafe ist dem Schiffer gewiss. Es müsste wahrhaftig eine etwas größere Übereinstimmung der Polizeiverordnungen über unser ganzes Stromgebiet herbeigeführt werden, damit die Schiffer nicht immer auf dem Quivive und besorgt sein müssen, in ein Gebiet hineinzugeraten, in dem in Bezug auf Ausrüstung, Bemannung usw. Abweichendes verordnet ist.

Meine Herren, ein besonders charakteristischer Fall von Kleinlichkeit der Strompolizei ist mir aus dem Odergebiet bekannt. Es existiert eine Polizeiverordnung vom 27. April 1907, die sich auf das Gebiet der Staufelder zwischen Frauendorf und Neißemündung bezieht. Dort wird den Schiffern der Regel nach nur eine geringe Zeit für den Aufenthalt gegeben. Nun war im Jahre 1909 eine große Anzahl von Schiffern wegen des ungünstigen Wasserstandes genötigt, sich auf diesen Staufeldern aufzuhalten. Es wurde ihnen bei Androhung einer ziemlich beträchtlichen Exekutivstrafe anheim gegeben, binnen 14 Tagen ihre Schiffe zu leichtern und die Staufelder zu verlassen. Es wurden dann gegen einige Schiffer Exekutivstrafen erlassen, ebenso Polizeistrafen, weil sie den Anordnungen der Strompolizei nicht nachgekommen seien. Die Schiffer haben zum größten Teil aus gutem Grunde diesen Anordnungen nicht nachkommen können; die Frachten waren in der damaligen Zeit so ungemein ungünstig, dass das Ableichtern sie mehr gekostet haben würde, als ihnen die ganzen Frachten eingebracht hätten. Viele von den Schiffern, die damals durch diese Polizeiverfügungen getroffen wurden, erhoben Widerspruch und führten gerichtliche Entscheidungen herbei. Diese gerichtlichen Entscheidungen sind günstig ausgefallen. Die anderen hatten sich darauf verlassen, dass derartige Entscheidungen auch ihnen zugute kommen würden. Statt dessen wird in sehr rigoroser Weise mit der Vollstreckung der gegen sie rechtskräftig gewordenen polizeilichen Strafverfügungen vorgegangen. Meine Herren, es ist mir gerade in den letzten Tagen von einem Schiffer, von einem alten Kriegsveteranen, der recht königstreu gesonnen war, berichtet worden, dass er wegen einer derartigen Strafverfügung vom Jahre 1909 jetzt exekutiert worden ist. Ich meine, die Strompolizeiverwaltung sollte doch in solchen Fällen ein Einsehen haben und, wenn in vollkommen gleich liegenden Fällen von den ordentlichen Gerichten Polizeistrafen aufgehoben worden sind, auch ihrerseits davon Abstand nehmen, die rechtskräftig gewordenen Polizeistrafen auf Grund ihres formalen Rechts beizutreiben. Das ist eine Anforderung der Humanität, geradezu eine Anforderung des Anstandes.

Nun, meine Herren, ist mir hier ein Schriftstück in die Hände gelangt, das verdient, der Öffentlichkeit unterbreitet zu werden. Es überschreibt sich „Erklärung" und lautet folgendermaßen:

Der Unterzeichnete ist verpflichtet, für wasserstandsgemäße Ableichterung des zur Beladung in Cosel (Hafen) bestimmten Fahrzeuges Nr. … nach den Bestimmungen der Polizeiverordnung vom 27. April 1907, betr. die Liegezeit auf der oberen Oder, zu sorgen. Er hinterlegt einen Betrag von 80 Mark und erklärt sich damit einverstanden, dass der hinterlegte Betrag bei Nichterfüllung vorstehender Verpflichtung zur Deckung der Kosten gegen das Fahrzeug etwa anzuwendender schifffahrtspolizeilicher Zwangsmaßnahmen sowie, soweit ausreichend, zur Begleichung einer etwa auf Grund der vorbezeichneten Polizeiverordnung verfügten Polizeistrafe herangezogen wird."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das ist geradezu unglaublich! Hier hat sich die Strompolizeiverwaltung einen besonders für die Lebensverhältnisse der Schiffer sehr reichlichen Vorschuss nicht nur für die etwa zu verhängenden Exekutivmaßregeln – schon das ist gesetzlich unzulässig –, sondern einen Vorschuss auf eine etwa zu verhängende Polizeistrafe – das ist ein unerhörter Fall – geben lassen! Ich meine, die Strompolizeiverwaltung sollte dafür Sorge tragen, dass einem solchen, ich möchte fast sagen, erpresserischen Vorgehen gegen diese unglückseligen Schiffer ein Riegel vorgeschoben wird. Es ist ein Skandal, dass sich die Polizeiverwaltung in dieser Weise Vorschuss geben lässt, um künftig etwa zu verhängende Polizeistrafen bequemer exekutieren zu können. Ich weiß nicht, ob irgendwo sonst in Preußen jemals gleiche Verfügungen getroffen worden sind. Ich glaube, dass die Strompolizeiverwaltung hier in gewissem Sinne den Vogel abgeschossen hat; und das will bei der preußischen Polizei in der Tat etwas heißen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, den Schiffern wird weiterhin vielfach eine große Schwierigkeit bereitet, und kleinlichen Schikanen wird Tür und Tor geöffnet durch die Vorschriften über die Papiere, die sie bei sich haben müssen. Der Schiffer muss ja seine Schifffahrtsabgaben mit großer Promptheit entrichten, sonst kommt er ja auf seiner Fahrt nicht einen Meter voran. Die Strompolizei ist energisch genug, um ihm sofort das Handwerk zu legen, wenn er irgendwo seinen Verpflichtungen zur Entrichtung von Schifffahrtsabgaben nicht genügt haben sollte. Nun werden Formulare ausgestellt, „Anmeldungen zur Entrichtung von Schifffahrtsabgaben". Diese Formulare enthalten auf der Rückseite einen Stempelvermerk über die erfolgte Zahlung oder Stundung der Abgabe. Meine Herren, Sie können hier ein solches Formular mit den Nachweisen, mit diesen Stempeln, einsehen, die auf das deutlichste einen dokumentarischen Beweis, ein öffentliches Dokument dafür bilden, dass die Abgaben tatsächlich gezahlt sind. Nun schreiben aber die Polizeiverwaltungen vor, dass der Schiffer außerdem noch die sogenannten Fahrkarten, grüne Bons, wie ich sie Ihnen hier zeige, stets bei sich führe. Mir liegt hier ein Erkenntnis des Amtsgerichts Spandau vor, wo ein Schiffer vor etwa zwei Jahren verurteilt worden ist wegen Übertretung der Strompolizeiverordnung, weil er zwar die Anmeldung zur Entrichtung von Schifffahrtsabgaben mit den Quittungen über die Zahlungen bei sich hatte, nicht aber die Bons. Meine Herren, aus der „Anmeldung" ist doch wirklich alles Erforderliche ersichtlich, und es ist wahrlich eine Kleinigkeitskrämerei, dass man außerdem noch dem Schiffer die Aufbewahrung der Bons zur Pflicht macht.

In dem erwähnten Erkenntnis von Spandau ist ausgesprochen, dass der Schiffer die Papiere unter allen Umständen bei sich zu führen habe und dass er der Polizeistrafe verfalle, wenn die Papiere, gleichviel aus welchen Gründen, jeweils von Bord geschafft sind. Nun ist der Schiffer aber doch vielfach genötigt, sich mit diesen Dokumenten zur Strompolizeiverwaltung und zu den Stellen zu begeben, wo er die Schifffahrtsabgabe zu bezahlen hat. Er muss also zeitweilig das Schiff mit diesen Papieren verlassen. Für das Berliner Gebiet – ich weiß nicht, ob das auch anderwärts geschehen ist – ist wohl mit Rücksicht hierauf vorgeschrieben, dass die „Anmeldungen" in drei Exemplaren ausgefertigt sein müssen, von denen eines in den Händen der Behörde verbleibt und zwei dem Schiffer ausgeantwortet werden, von denen eines zeitweilig von Bord gebracht werden kann zum Ausweis bei den Behörden, während das andere ständig da sein muss. Meine Herren, das heißt nun doch die bürokratische Vielschreiberei auf die Spitze treiben! Es liegt doch wahrhaftig nicht die geringste Veranlassung vor, in dieser Weise hier überall herum zu reglementieren! Man macht damit den Leuten das Leben sauer ohne jeden vernünftigen Zweck.

Meine Herren, sehr ernst und vielfältig sind die Klagen der Schiffer über die Art, wie man die Bestimmungen über die Fahrgeschwindigkeit ausführt. Es ist ja wohl ganz in der Ordnung, wenn über die Geschwindigkeit, die die Schiffe innezuhalten haben, gewisse Anordnungen getroffen werden. Es muss aber immer bedacht werden, dass der Schiffer nicht vollkommen Herr seines Fahrzeuges ist, dass er von Wind und Wetter abhängig ist, von Stromverhältnissen und dergleichen. Aber weiterhin muss auch darauf Rücksicht genommen werden, dass dem Schiffer schlechterdings jede Kontrollmöglichkeit über die genaue Geschwindigkeit seines Fahrzeuges fehlt. Auf stehendem Wasser, auf See usw. ist man in der Lage, die Geschwindigkeit des fahrenden Schiffes einigermaßen festzustellen, weil da die Geschwindigkeit im Verhältnis zu dem Lande die gleiche ist wie im Verhältnis zu dem Wasser, auf dem man fährt. Der Schiffer hingegen auf fließenden Binnengewässern muss mit der Stromgeschwindigkeit rechnen und ist meist nur auf sein Augenmaß angewiesen, um festzustellen, wie sich die Geschwindigkeit, mit der das Boot jeweils fährt, in Verhältnis zu dem Lande stellt, und dass das stets nur eine approximative Schätzung sein kann, ist selbstverständlich. Trotz alledem verfährt die Schifffahrtspolizei hier außerordentlich kleinlich. Der Schiffer darf hier nicht nur nicht zu schnell, er darf auch nicht zu langsam fahren. Es werden genauso viele oder fast genauso viele Strafen erlassen wegen zu langsamen Fahrens wie wegen zu schnellen Fahrens.

Wie stellt nun die Schifffahrtspolizei die Geschwindigkeit des Schiffes fest? Es werden an zwei verschiedenen Stellen, die oftmals sehr nahe beieinander sind, Personen aufgestellt, oder auch eine und dieselbe Person begibt sich rasch hintereinander auf schnellerem Fahrzeug an zwei verschiedene Stellen, stellt die Uhr und misst die Entfernung, und danach wird die Geschwindigkeit berechnet, und wenn auf dieser ausgemessenen kleinen Strecke der Kahn nicht die nötige Geschwindigkeit hat, regnet es Polizeistrafen. Hier habe ich einen Fall aus dem Jahre 1910. Da ist die Messung erfolgt auf eine Länge von 300 Metern, und weil auf dieser Strecke zu langsam gefahren ist, nämlich nur 1,64 Kilometer im Durchschnitt, während 3 Kilometer gefahren werden müssten, so ist dem Schiffer eine ziemlich erhebliche Strafe, nämlich eine Strafe von 15 Mark, auferlegt worden. Es ist naturgemäß, dass auf eine geringe Strecke unter Umständen die Fahrgeschwindigkeit von der normalen Fahrgeschwindigkeit differieren muss.

Meine Herren, durch diese Art der Durchführung der Strompolizeibestimmungen wird eine solche Missstimmung bei den Schiffern erzeugt, und es wird allen kleinlichen Schikanen derart Vorschub geleistet, dass der Herr Minister alle Veranlassung haben sollte, hier Remedur eintreten zu lassen. Besonders verurteilenswert ist, dass die Polizei vielfach die allergeringste Differenz der Geschwindigkeit bereits zum Anlass für die Verhängung von Polizeistrafen nimmt. Mir sind Fälle bekannt, in denen auf längeren Strecken eine nur um Bruchteile von Minuten größere oder geringere Geschwindigkeit ausgerechnet worden ist und ohne weiteres Polizeistrafen verhängt worden sind. Angesichts der Schwierigkeiten, die Geschwindigkeiten zu messen, von denen ich eben gesprochen habe, dürfte ein solches Verfahren wohl auf allseitige Missbilligung stoßen.

Wie verfährt nun die Strompolizei, um sich das für all diese Polizeikleinlichkeit erforderliche Polizeipersonal zu verschaffen zur Kontrolle über die Befolgung aller der Polizeibestimmungen, insbesondere der Geschwindigkeit, mit der die Schiffer fahren sollen? Es hat sich hier ein wahres Spitzelwesen herausgebildet, das in der Öffentlichkeit einmal angenagelt werden muss. Die Strompolizeiverwaltung verwendet und zwingt vielfach Wasserbauarbeiter, sich in ihren Arbeitskleidern auf die Lauer zu legen an verschiedenen Stellen der Kanäle und Ströme und die Schiffer heimlich zu belauschen und dann zu denunzieren. Besonders werden derartige Spitzelfallen gelegt, um die Übertretungen der auf die Geschwindigkeit der Fahrzeuge gerichteten Bestimmungen besser ermitteln zu können.

Ich komme nun zu einem anderen Punkt, der gleichfalls einer sehr ernsten Beachtung von Seiten der Staatsregierung wert wäre. Die Schiffer beklagen sich darüber – und auch das muss einmal öffentlich zur Sprache gebracht werden –, dass das Trinkgelderunwesen auf dem Gebiete der Strompolizei einen erschreckenden Umfang angenommen hat. Es gilt unter den Schiffern ganz allgemein die Anschauung: Trinkgeld nehmen sie alle, die Strompolizeibeamten, da heißt es, die Schutzleute nehmen die Trinkgelder, die Schleusenmeister, es gibt niemand, der kein Trinkgeld nimmt. Es wird geradezu von erpresserischen Bestechungen geredet, denen die Schiffer ausgesetzt sind. Ich mache diese Mitteilungen, die mir von aktiven Schiffern, von Vertretern von Schifferorganisationen gegeben sind, nicht nach Angabe von „unkontrollierbaren Zeitungsnachrichten", wie sie heute Herr Hammer mit besonderer Vorliebe benutzt hat. Es gibt unter den Schiffern eine beinahe zur Usance gewordene Frage, wenn sie zum Beispiel bei Schleusen zusammentreffen: „Hast du schon mit dem Daumen gewackelt?" Das heißt, hast du auch schon das nötige Trinkgeld bezahlt an den Strompolizeibeamten? Hier müsste mit allem Nachdruck eingegriffen werden. So sind die Schiffer nicht gestellt, dass sie bei ihrem geringen Lohn sich derartige Abgaben noch aufzwingen lassen könnten. Es kann von der Verwaltung hier Remedur geschaffen werden, und ich bin fest überzeugt, dass es nur eines energischen Eingreifens von oben mit gutem Willen bedürfte, um diesem Missstande ein Ende zu machen. Es wird von den Schiffern allgemein gesagt: Wenn ihr nicht die gesetzwidrigen Abgaben an die Polizei leistet, so bekommt ihr Anzeige auf Anzeige auf den Hals gehetzt und habt's zu büßen.

Eine bedauerliche Praxis ist es, dass von den Gerichten vielfach, wenn gegen polizeiliche Strafverfügungen Widerspruch erhoben ist, dieselben Beamten, die die Verfügungen erlassen oder die die Anzeige erstattet haben, als Sachverständige gehört werden, ähnlich, wie wir es leider auch auf dem Gebiet der Eisenbahnverwaltung zu verzeichnen haben. Das ist durchaus unangemessen. Diese Beamten sind Partei und sollten nie und nimmer als Sachverständige fungieren können. Die Strompolizeiverwaltung sollte eine generelle Verfügung erlassen, wonach ihre Beamten, die mit der Strafverfolgung betraut gewesen sind, überhaupt zur Sachverständigentätigkeit nicht zugelassen werden sollen.

Die Schiffer sind der Ansicht, dass es kaum einen Stand gibt, der so verfolgt wird durch Polizeiverordnungen und Strafverfügungen aller Art wie der der Binnenschiffer. Es wird von den Organisationen der Betrag der allein auf dem Gebiet der Oder und märkischen Wasserstraßen pro Jahr verhängten Polizeistrafen auf etwa 150.000 Mark berechnet. Ob diese Berechnung richtig ist, lässt sich leider nicht nachkontrollieren, weil unser Etat darüber eine genügende Klarheit nicht bietet. Ich möchte den Herrn Minister bitten, uns bei Gelegenheit einmal eine Aufstellung über diese Polizeistrafen zugehen zu lassen und darüber, wohin diese Polizeistrafen fließen.

Selbstverständlich ist keine Rede davon, dass durch die Fülle der Polizeiverordnungen etwa wirklich ein Vorteil erzielt werden könnte. Es ist eine alte Lehre, die der bürokratische Staat ja unausgesetzt an seinem Leibe erfahren muss, dass, je mehr Verordnungen erlassen werden, diese um so weniger befolgt werden und befolgt werden können. Die Reglementierungssucht, von der auch unsere Schifffahrtspolizei beseelt ist, ist ein echt preußisches Gewächs, und es hat sich auf Grund dieser Reglementierungssucht ein – ich möchte sagen – aktiver Verfolgungswahnsinn der Schifffahrtspolizei gegenüber den Schiffern herausgebildet. Was sollen die Schiffer denn machen, und wie soll es ihnen möglich sein, alle diese auf dem Papier so leicht auszuführenden Vorschriften zu befolgen, ohne ihr Gewerbe allzu sehr zu schädigen! Wenn wir die große Zahl der Verfügungen und ihre Buntscheckigkeit bedenken, wenn wir weiter daran denken, wie diese Verfügungen und Verordnungen örtlich unausgesetzt wechseln, wie rasch sie auch zeitlich aufeinander folgen und wie unberechenbar sie wechseln, wie Polizeiverordnungen, Polizeiverfügungen und Polizeistrafen folgen wie im April die Regengüsse, dann würde man die Unzufriedenheit der Binnenschiffer wohl begreifen. Die Schifffahrtspolizei ist eben auch ein Stück der preußischen Polizei, sie kann aus der Haut der preußischen Polizei nicht heraus, und der bürokratische Zopf hängt ihr nun einmal hinten. Es wäre endlich an der Zeit, dass der Herr Minister hier ein klein bisschen modernere und minder bürokratische Zustände schafft.

Sie alle wissen, unter welcher schweren großkapitalistischen Konkurrenz die Privatbinnenschiffer zu leiden haben, welche großen Unternehmungen – wie zum Beispiel die Frankfurter Gütereisenbahn, Cäsar Wollheim, Friedländer, die Schlesische Dampferkompanie usw. – mit ihrer ungeheuren Flotte von Schiffen, Dampfern und Kähnen den Binnenschiffern das Leben sauer machen und wie diese großen Unternehmungen auf der Elbe die kleine Privatschifffahrt bereits tot gemacht haben. Sie können daraus ermessen, einen wie schweren Kampf ums Dasein die Schiffer zu kämpfen haben.

Es haben sich nun alle möglichen Parteien der Schiffer angenommen, um ihnen angeblich das Leben zu erleichtern. Es ist von den Schiffern aber begriffen worden, dass die Parteien meist nur den Wunsch hatten, sich als Böcke zu Gärtnern bei ihnen einzusetzen. In neuester Zeit, am 23. Januar 1911, ist ein Reichsverband deutscher Schiffervereine gegründet worden, ein „nationaler Schifferbund". Zu dieser Gründung sind Mitglieder aller Parteien, nur nicht der Sozialdemokratie, eingeladen worden. Man will mit diesem Bund den sozialdemokratischen Bestrebungen innerhalb der Schifferbevölkerung möglichst viele Schwierigkeiten bereiten. Ja, meine Herren, es wird Ihnen das schwerlich gelingen. Die bestehenden Schifferorganisationen sind zu einem sehr großen Teil von einer recht klaren Einsicht in die soziale Lage des Standes beseelt. Die Schiffer haben begriffen, dass sie, wenn sie auch äußerlich dem Mittelstand angehören, doch zum größten Teil proletarische Existenzen sind. Die Parteien, die hier in erster Linie behaupten, die Politik des Mittelstandes zu vertreten, sind weit davon entfernt, irgend etwas vorgeschlagen zu haben oder vorschlagen zu können, was den Schiffern in der Tat nützt. Diese müssen sich zu einer Art Klassenkampforganisation zusammenschließen; denn sie werden bedrückt und bedrängt von den großen Kapitalisten, sie werden bedrückt und bedrängt von dem Staat, von der Polizei durch die unausgesetzte Reglementierungs- und Verfolgungssucht. Da gilt es einen energischen Kampf zu kämpfen. Zahlreiche Schiffer haben das eingesehen, und ich kann versichern, dass ein sehr starker Stamm von Schiffern zu den besten und tüchtigsten Mitkämpfern der Sozialdemokratie zählt. Es kann keine Rede davon sein, dass man diese Aufklärung unter den Schiffern durch „patriotische" Verirrung unterbinden könnte, dass man die Schiffer durch allerhand Versprechungen und Redensarten zu treuen Stützen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung machen könnte. Die Schiffer werden sich durch alle derartigen Versprechungen und Schwätzereien nicht irreführen lassen. Ihre persönlichen Erfahrungen lehren sie, allen deutlich, dass der preußische Staat durch seine besonderen charakteristischen Eigentümlichkeiten ihr geschworener Feind ist, und lehren sie weiterhin, dass ihr Wohl und Wehe mit dem Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung verknüpft ist und dass sie nur in derselben Weise fortschreiten und ihre Lage verbessern können, wie das beim gesamten Proletariat der Fall ist. Sie sind mehr und mehr geneigt, sich auch politisch zu organisieren, und sie hatten ja vor kurzem auch bereits einen kräftigen Anlauf genommen, um sich eine ausgesprochenermaßen auf dem Boden des Klassenkampfes stehende gewerkschaftliche Organisation zu schaffen.

Meine Herren, die Schifferkirche, die man hier in Berlin eingerichtet hat, ist ja auch gedacht gewesen als ein Mittel, um die Schiffer zu hindern, die klare Klasseneinsicht zu gewinnen, die für sie eine absolute Lebensnotwendigkeit ist. Man hat auch gegenüber den Schiffern die Religion und die Kirche als das bequeme Mittel zu verwenden gedacht, um sie zu verdummen, zu verwirren und den Anschauungen der herrschenden Klassen gefügig zu machen. Meine Herren, Sie können noch ein Dutzend Schifferkirchen in Berlin bauen, das wird Ihnen nicht helfen. Steuern Sie der Not der Schiffer, erleichtern Sie den Schiffern ihre Lage, soweit das in unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung möglich ist, sorgen Sie dafür, dass die polizeiliche Reglementierungssucht und Vielregiererei ein Ende nimmt – dann könnte es Ihnen vielleicht gelingen, die Schiffer zu der Gesinnung zu veranlassen, wie sie Ihnen erwünscht sein mag. Nie und nimmer wird es Ihnen aber gelingen auf dem Wege der Verdummungsversuche, von denen ich eben gesprochen habe.

Die Schiffer sind zum größten Teil kluge Leute, Leute, die wissen, wo sie der Schuh drückt, durch die Lebenserfahrung so gereift und so verständig geworden, dass, wo immer sie in unsere Versammlungen kommen, sie mit zu dem besten Publikum gehören, das wir überhaupt haben können. Ich habe wiederholt Gelegenheit gehabt, in Schifferversammlungen zu sprechen; das Verständnis und die Begeisterung gerade auch für den politischen Kampf der Sozialdemokratie sind bei den Schiffern sehr groß. Das Feld zu bebauen, müssen Sie uns schon überlassen; Sie werden auf die Dauer keine Erfolge erzielen bei Ihren Versuchen, die Schiffer an sich zu fesseln. Die Schiffer werden mehr und mehr der Sozialdemokratie zufallen als Früchte einmal der kapitalistischen Unterdrückung und andererseits der politischen, der polizeilichen Unterdrückung und Reglementierung, wie sie dem preußischen Staat eigen ist, mit andern Worten: als Früchte der echt preußischen Polizeipolitik, die hier in diesem Hause in erster Linie getrieben wird und die ja das beste Agitationsmittel für unsere Partei ist, die das ganze preußische Volk mehr und mehr auf die Seite der Sozialdemokratie treibt.

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