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Karl Liebknecht 19110515 Für eine gründliche Reform des Gemeindewahlrechts

Karl Liebknecht: Für eine gründliche Reform des Gemeindewahlrechts

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zu einer Petition des Magistrats von Stettin1

I

15. Mai 1911

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 5. Bd., Berlin 1911, Sp. 6387-6389, 6419/6420. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 378-384]

Meine Herren, die Ausführungen des Herrn Vorredners2 waren in der Tat von einer großen Verlegenheit diktiert. Sie waren ein „sowohl als auch", „einerseits andererseits" und schlossen mit einer Ablehnung der Petition. Meine Herren, ich glaube, dass die Gründe, die angeführt worden sind, so unglücklich waren wie nur gerade eben möglich; einer von ihnen hat den anderen totgeschlagen.

Der Herr Vorredner hat zunächst gemeint, dass allerdings die Lehrer ein sehr wichtiger Bestandteil für unsere Stadtvertretungen sein könnten. Durchaus zutreffend! Kein Wort darüber zu verlieren, dass für gewisse Angelegenheiten die Lehrer die denkbar geeignetsten, geradezu die geborenen Mitwirkenden in den Stadtverordnetenversammlungen sein würden.

Meine Herren, dass nun der Herr Vorredner trotz alledem meint, die Lehrer sollten doch nicht zugelassen werden, sucht er mit verschiedenen Gründen zu erklären. Einmal: Die Lehrer hätten viel zu tun, man könne ihnen das nicht wohl zumuten. Ja, meine Herren, wir haben auch andere Staatsbeamte und auch andere Leute, die nicht Beamte sind und die auch viel zu tun haben und die sich eben der Öffentlichkeit widmen und ihre Schuldigkeit durchaus tun.

Warum will man denn gerade bei den Lehrern dieses Bedenken für so außerordentlich ernst ansehen? („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, viel zu tun haben bei uns ja doch nahezu alle Beamten in Preußen – abgesehen vielleicht von den Landräten, die häufig sehr wenig zu tun haben (Heiterkeit rechts. „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) und die deshalb in so sehr großer Zahl in ihrem Amte entbehrlich sind und in diesem Hause sitzen können, wenn sie auch hier wiederum vielfach durch Abwesenheit glänzen. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Also, das ist ein Argument, mit dem man nicht weit kommt. Mit dieser Argumentation kommt man wiederum zu derselben Konsequenz, die die Herren vom Zentrum angeblich so sehr bekämpfen: Lassen wir die Geschäfte vom König machen, das ist die unparteiischste Instanz, wozu überhaupt erst die Staatsbürger, die so viel zu tun haben, bemühen! Da werden sie am besten besorgt werden.

Dann hat der Herr Vorredner gemeint, der Lehrer käme zu viel ins politische Parteigetriebe, und das sei nicht angängig. Ja, meine Herren, um alles in der Welt, wie können Sie hier eine solche Stellung der Lehrerschaft gegenüber einnehmen, die gerade Sie doch eine große Zahl von Mitgliedern unter sich haben, die entweder Beamte oder Geistliche sind und die sich doch vor dem politischen Parteigetriebe nicht im Mindesten scheuen und dies für Ihresgleichen als selbstverständlich in Anspruch nehmen! Wer ist bei uns stärker politisiert als der Beamte, als der Landrat! Wer ist bei uns stärker politisiert als der Geistliche, speziell der Geistliche derjenigen Partei, die hier gerade diese Argumentation in die Welt hineingesetzt hat! („Sehr richtig!" links.)

Wenn der Herr Vorredner meint, dass bei den Lehrern es anders stünde als bei den anderen Beamten, weil beim Lehrer ein besonderes Vertrauensverhältnis vorausgesetzt sei: à la bonne heure, dieses Vertrauensverhältnis vorausgesetzt! Aber ich denke, die Stellung der Herren Geistlichen beruht auch auf diesem Vertrauensverhältnis. Dass man natürlich von den Herren Landräten desgleichen nicht sagen kann, dass es eine „fromme" preußische Lüge ist zu sagen, dass der Landrat von dem Vertrauen der Bevölkerung getragen werde, ist selbstverständlich. Ja, meine Herren vom Zentrum: „Man spricht vergebens viel, um zu versagen. Der andre hört von allem nur das Nein."

Dann folgte weiter ein Argument, das deutlich zeigt, wie die Haltung der Herren im Grunde nur so von ihrer Abneigung gegen die Lehrerschaft diktiert ist: Der Lehrerstand wünscht nicht, in Stadt und Land verschieden behandelt zu werden. Und weil die Herren nun den Lehrern auf dem Lande nicht weh tun wollen, so wollen sie den Lehrern in den Städten das hier geforderte Recht nicht gewähren.

Ja, meine Herren, wenn man einmal auf dem Standpunkte steht, dass den Lehrern dieses Recht gebührt, dann, meine Herren, ergäbe sich doch für die Herren vom Zentrum, wenn jene Worte ehrlich gemeint sind, nur eine Konsequenz; sie müssten sich sagen: Gut, die Lehrer in den Städten sollen das Recht haben, aber es muss schleunigst auch für die Lehrer auf dem Lande geschaffen werden. Sie müssten, mit anderen Worten, den Antrag nicht ablehnen, sondern erweitern. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Ihre Haltung charakterisiert sich schon dadurch als außerordentlich widerspruchsvoll. Das zeigen ja allerdings die nicht eben von großer Sachkunde getragenen Ausführungen über die besondere Notwendigkeit und Nützlichkeit der Lehrer auf dem Lande: Dort könnte ihre Intelligenz eine noch größere Rolle spielen.

Wir sind sonst gewohnt, so viel Lieder zu hören, wenn sie auch nicht gerade für unsere Ohren schöne Lieder sind, über die große Überlegenheit der ländlichen Bevölkerung in dieser Beziehung über die städtische Bevölkerung, über die Besonnenheit der ländlichen Bevölkerung, die Fähigkeit, sich selbst zu dirigieren und in praktischer Weise ihre eigenen Angelegenheiten zu übersehen, zu erörtern und zu besorgen. Hier plötzlich hören wir diese sehr charakteristischen Bemerkungen, die vielleicht in einem unbedachten Momente entfahren sind. Ja, meine Herren, die bäuerliche Bevölkerung, die so von Ihnen charakterisiert worden ist, ist ja ein Opfer der Mehrheitsparteien dieses Hauses („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), wenn Sie recht haben. Sie ist ein Opfer der miserablen Schulbildung, die speziell auf dem Lande erteilt wird, ein Opfer von allen diesen Verdummungsbemühungen, die auf der ländlichen Bevölkerung viel mehr lasten als auf der städtischen Bevölkerung. („Sehr richtig!")

Meine Herren, wir können also nur sagen, dass ein besseres Mittel, unseren Antrag zu rechtfertigen, gar nicht gedacht werden kann als die gegen die Petition gerichteten Ausführungen des Herrn Vorredners. Wir unsererseits stehen auf dem Standpunkt des von der Fortschrittlichen Volkspartei gestellten Antrages. Wir wünschen, dass diese Petition zur Berücksichtigung überwiesen werde. Ich verkenne aber nicht, dass es an und für sich eine sehr peinliche Sache ist, in die Frage des Gemeindewahlrechts einzugreifen bei einem solchen einzelnen, speziellen Punkt …

Wir meinen, dass selbstverständlich nicht nur die eine in der vorliegenden Petition behandelte Bestimmung einer Korrektur bedarf, sondern dass es notwendig ist, in eine gründliche Reform unseres ganzen Gemeindewahlrechts, des aktiven wie des passiven, hineinzugehen, und dass es eine kaum akzeptable Abschlagszahlung sein würde, wenn uns ein Entwurf vorgebracht würde, der sich nur mit diesem einen Punkte befasste. Das Kommunalwahlrecht, sowohl das aktive wie auch viele Bestimmungen über das passive Wahlrecht sind absolut veraltete, unbrauchbare, rechtliche Gebilde, Gebilde, die lieber heute als morgen beseitigt, exstirpiert, werden sollten, um an ihre Stelle ein wirklich demokratisches, den Volkswillen frei und ungehemmt zur Geltung bringendes Wahlrecht treten zu lassen. Es ist notwendig, das bei jeder Gelegenheit zu betonen; und wenn man auch in diesem Hause tauben Ohren predigt, draußen versteht man das, was wir sagen, und unsere Bemühungen, schließlich auf Sie denjenigen Zwang auszuüben, dass Sie unserem Willen und damit dem Willen der großen Masse des Volkes nachgeben, werden schließlich doch nicht vergebens sein. Wenn Sie nicht wollen, werden Sie müssen.

II

16. Mai 1911

Meine Herren, ich sehe das Gaudium der Herren auf der Rechten, die in diesem Falle, ich will nicht sagen, die lachenden Dritten, sondern die lachenden Zweiten sind. Diejenigen, die bei dieser Debatte außerordentlich ungünstig abschneiden, sind nur die Herren vom Freisinn. Es ist ein außerordentlich gefährliches Gebiet für sie; sie sollten sich nicht darauf wagen.

Wir haben gewiss keine Veranlassung, bei dieser Debatte heute besonders scharfe Worte zu gebrauchen: Diese Diskussion ist uns aufgezwungen worden, und wir müssen zur Steuer der Wahrheit diese Feststellung machen. Es ist doch gleichgültig, mit welchen Formulierungen man seine Stellungnahme bemäntelt, es kommt auf den Sinn und auf das Wesen dieser Stellungnahme an.

Wenn man in Bezug auf das kommunale Wahlrecht den Standpunkt vertritt, dass derjenige, der nicht mit tatet in dem Sinne der Steuerzahlung, was in Wahrheit kein richtiges Mittaten ist, auch nicht mit raten soll, kein Wahlrecht haben soll, dann erkennt man damit im Prinzip an, dass die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte abhängig gemacht werden kann von der materiellen Position, vom Geldsack. Meine Herren, das ist das Grundprinzip, von dem alle übrigen reaktionären Wahlrechte ausgehen; es ist – nur etwas stärker betont, etwas rücksichtsloser durchgeführt – dasselbe, was die Herren auf der Rechten wollen, wie das, was in Bezug auf das kommunale Wahlrecht die Herren Freisinnigen akzeptieren.

Nun soll man mir nicht kommen mit der Differenzierung zwischen Gemeindewahlrecht und Staatswahlrecht. Natürlich ist es etwas anderes, aber in den wesentlichen Punkten nichts Verschiedenes. Genauso gut können Sie einen Unterschied machen, wie die Herren von der Rechten, zwischen Reichstags- und Landtagswahlrecht. Da sagen Sie: Es ist etwas anderes mit den Interessen in Gemeinde und Staat. Wir kommen aber darüber nicht hinaus, dass wirtschaftliche, soziale, politische Interessen vertreten werden auf verschiedenen Gebieten in verschiedenem Grade – aber genau wesensgleich in der Gemeinde, im Reiche und im Staate. Und alle Voraussetzungen, die dazu führen müssen, dass man für Staat und Reich das demokratische Wahlrecht fordert ohne alle Einschränkungen, treffen auch für das Gemeindewahlrecht zu. Es gibt nicht Wasser genug im milden Himmel, das die Herren Freisinnigen von der Schuld reinwaschen könnte, dass sie die in gewissem Umfange demokratischen Prinzipien, die sie sonst vertreten, auf dem Gebiet des Gemeindewahlrechts verlassen.

Meine Herren, wenn man sagt: Wir wollen ja ein gleiches Wahlrecht, nur nicht ein allgemeines Wahlrecht haben, ach Gott, das ist wieder mal so ein schönes Wort. Meine Herren, ein Wahlrecht, das kein allgemeines ist, ist allein schon um deswillen kein gleiches („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), weil ein gleiches Wahlrecht, richtig verstanden, natürlich auch ein allgemeines Wahlrecht voraussetzt. Eine größere Ungleichheit kann man sich ja nicht denken als diejenige zwischen dem, der ein Wahlrecht hat, und dem, der gar kein Wahlrecht hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist also die schroffste Ungleichheit im Wahlrecht, das man einigen überhaupt nicht gewähren und anderen geben will. Natürlich gebraucht man sonst das Wort „gleich" auch in einem anderen Sinne, im Sinne der Abstufung innerhalb des gegebenen Wahlrechts, und in dem Sinne können Sie freilich sagen, dass Sie für ein gleiches Wahlrecht eintreten. Aber es ist viel wichtiger noch, meine Herren, oder mindestens ebenso wichtig, für das allgemeine Wahlrecht einzutreten wie für das gleiche, und das tun Sie nicht, und damit ist der Stab über Sie gebrochen, und Sie mögen sich doch so sehr hin und her winden – (Widerspruch bei der Fortschrittlichen Volkspartei.) hin und her winden; Sie kommen aus der Verlegenheit nicht heraus, dass Sie ein für allemal in diesem Punkt festgenagelt sind. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)

1 Die Petition verlangte die Änderung des Paragraphen 17 der Städteordnung vom 30. Mai 1853, um Elementarlehrern die Wählbarkeit zu Stadtverordneten zu ermöglichen. Die Red.

2 des Zentrumsabgeordneten Fleuster. Die Red.

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