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Karl Liebknecht 19110628 Gegen die reaktionäre Praxis des Dreiklassenparlaments

Karl Liebknecht: Gegen die reaktionäre Praxis des Dreiklassenparlaments

Geschäftsordnungsreden im preußischen Abgeordnetenhaus zum Beschluss, die Session zu beenden

I

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 6. Bd., Berlin 1911, Sp. 8083-8086. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 443-448]

Meine Herren, ich glaube, dass die Auffassung des Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz nicht als zutreffend angesehen werden kann, und ich muss, entsprechend den Ausführungen meines Freundes Hoffmann, bei folgendem Standpunkt verbleiben.

Diese Sitzung ist an und für sich ordnungsmäßig einberufen; der Herr Präsident hat das Recht, auf Grund der Geschäftsordnung, nachdem sich das Haus als beschlussunfähig herausgestellt hat, eine Sitzung anzuberaumen. Streit ist nur darüber, ob die Tagesordnung, die der Herr Präsident uns vorgeschlagen hat oder uns oktroyieren will, uns von ihm oktroyiert werden kann, mit anderen Worten, ob dieser Sitzung, die an und für sich rite berufen ist, auch rite eine Tagesordnung vorliegt. Nicht über die Berufung an und für sich und deren Rechtmäßigkeit streiten wir uns, sondern über die Fähigkeit des Hauses, über eine Tagesordnung bestimmter Art zu verhandeln.

In letzterer Beziehung bestreiten wir die Rechtmäßigkeit des Verfahrens des Herrn Präsidenten, und daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Einmal, dass wir jetzt in der Lage sind, uns über die Tagesordnung der nächsten Sitzung hier zu verständigen, sodann, dass der Vorschlag des Herrn Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz unmöglich ist, wonach wir diese ganze Sitzung, die stenographiert ist und die sich durchaus im Rahmen der parlamentarischen Formen bewegt, als eine nicht vorhandene Sitzung betrachten sollen. Meiner Ansicht nach müssen wir also, wenn jetzt, da eine Tagesordnung nicht vorliegt, nicht verhandelt werden kann, die Tagesordnung für die nächste Sitzung festsetzen …

II

Meine Herren, Sie werden begreifen, dass wir uns wie die Schneekönige freuen (Heiterkeit. – „Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), dass die vollständige Arbeitsunfähigkeit dieses Hauses festgestellt worden ist. Meine Herren, wir sind die lachenden Dritten bei alledem. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Ob nun die Herren auf der Rechten oder im Zentrum der Linken vorwerfen, sie marschiere Arm in Arm mit uns, oder ob die Herren von der Linken Ihnen auf der Rechten vorwerfen, unter unserer geistigen Leitung zu marschieren – wir sehen mal wieder, dass wir der Mittelpunkt sind (Stürmische Heiterkeit.), um den sich die ganze Angstpolitik dieses Hauses dreht.

Meine Herren, wir haben selbstverständlich ein lebhaftes Interesse daran, den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Fischbeck entsprechend, dass eine Überrumpelung vermieden wird, wie sie bei dem Rechtsstandpunkt der Mehrheit dieses Hauses möglich wäre, und wünschen infolgedessen auch, dass das Haus über den Zeitpunkt der nächsten Sitzung beschließen möge. Ich gehe aber doch darüber hinaus: Wir halten es für nötig, dass das Haus auch über die Tagesordnung der nächsten Sitzung beschließt. („Sehr wahr!" links.) Es besteht nicht der mindeste Grund, über die Tagesordnung nicht zu beschließen; auch der Herr Präsident hat nicht den Versuch gemacht, einen Grund dafür anzugeben.

Meine Herren, ich kann mir ja wohl vorstellen, weshalb der Herr Präsident die Tagesordnung uns so vorgeschlagen hat, wie er es getan hat: weil bereits ganz bestimmte Ordern vorhanden sind, das Haus bei der erst passenden Gelegenheit, wenn die Herren ihre Beute in die Scheuer gebracht haben, auseinanderzujagen. (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!") Meine Herren, das entspricht natürlich nicht unserem Willen (Lachen rechts.), und wir halten es für erforderlich, alles zu tun, wozu wir in der Lage sind, um das Haus zu nötigen, seine Pflicht zu tun und alle Geschäfte, die es noch zu erledigen hat, tatsächlich auch zu erledigen.

Es kann deshalb meiner Ansicht nach wohl verlangt werden, dass wir beschließen, dass der Herr Präsident auf die nächste Tagesordnung erstens alle die Gegenstände stellt, die bisher auf der Tagesordnung standen, aber nicht erledigt worden sind, und weiterhin alle diejenigen Angelegenheiten, die inzwischen spruchreif und zur Erledigung für dieses Haus fertig geworden sind. Meine Herren, ich meine, dass Sie geneigt sein müssen, diesem Vorschlage stattzugeben, wenn Sie den ernsthaften Willen hegen, die Geschäfte des Hauses zu fördern und diese Session nicht zu einem so unwürdigen Abschluss zu bringen, wie er in der Tat von allen Feinden des Dreiklassenparlaments unwürdiger gar nicht gewünscht werden kann.

Meine Herren, wir haben eine ganze Anzahl von Anträgen eingebracht, die bisher noch nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden sind, obwohl uns in einem früheren Stadium der Verhandlungen dieses Hauses die Zusicherung gegeben worden ist, dass diese von uns als besonders wichtig erachteten Anträge noch zur Behandlung kommen würden. („Hört! Hört!" und „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Auch eine ganze Anzahl anderer Angelegenheiten, die die breitesten Kreise der Öffentlichkeit lebhaft interessieren, steht nicht auf der Tagesordnung.

Meine Herren, die Tagesordnung, die uns für die jetzige Sitzung präsentiert worden ist, beweist meiner Ansicht nach aufs Deutlichste, mit welchen Plänen der Herr Präsident umgeht. Wenn der Herr Präsident keine schwarzen Pläne hegt, so hegt er doch offenbar schwarzblaue Pläne. (Heiterkeit links. Lachen rechts und im Zentrum.) Der Herr Präsident hat es zwar für nötig gehalten, das Bullenhaltungsgesetz auf die Tagesordnung zu setzen; aber von all den übrigen Anträgen und Petitionen, die vorher auf der Tagesordnung gestanden haben, steht jetzt nichts darauf („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.); der Antrag Brandenstein wiederum fehlt natürlich nicht.

Meine Herren, angesichts dieser Sachlage sind wir meiner Ansicht nach genötigt und es geradezu unseren Wählern und der ganzen Öffentlichkeit schuldig (Lachen rechts.), dass wir von Ihnen hier ein klares Bekenntnis dazu fordern, ob Sie gewillt sind, Ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun, oder ob Sie gewillt sind, die Pläne zu unterstützen, die darauf hinauslaufen, das Haus nach Erledigung aller reaktionären Angelegenheiten nach Hause zu schicken. (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Meine Herren, wir haben keine Veranlassung, Sie darin zu unterstützen, dass Sie die Ihnen genehmen Gesetze unter Dach und Fach bringen und alle die Öffentlichkeit und die Allgemeinheit interessierenden Angelegenheiten in den Papierkorb hineinwerfen. Wenn Sie dem Hause Ihren Willen aufzwingen wollen, dass es die Angelegenheiten, die die Öffentlichkeit interessieren, nicht erledigt, so werden wir Ihnen zeigen, dass wir einen stärkeren Willen haben als Sie, und Sie zwingen, Ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun.1 (Lachen rechts. „Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

III

Meine Herren, die Sache ist für dieses Haus noch schlimmer, als mein Freund Hoffmann eben dargelegt hat. Sie ist um deswillen noch schlimmer, weil bei der ganzen traurigen, elenden Komödie dieses Haus hier nicht bloß Zuschauer und Zuhörer ist – (Unruhe rechts. Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter Liebknecht, für den Ausdruck „traurige, elende Komödie" rufe ich Sie zur Ordnung. („Bravo!" rechts. Abgeordneter Hoffmann: „Aber wahr ist er!")

Liebknecht: – weil bei diesem Vorgange dieses Haus nicht bloß Zuschauer, sondern mitwirkender Akteur ist, wenigstens in seinen großen Parteien. Meine Herren, es ist ja nun für jedes Kind klar geworden, weshalb die Herren die ganze Angelegenheit in der von uns eben beobachteten Weise betrieben haben: Sie wussten ja ganz genau und hatten die offiziellste Mitteilung, meine Herren auf der Rechten und im Zentrum (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!" Rufe rechts: „Ist nicht wahr!"), dass um fünf Uhr geschlossen wird. (Rufe rechts: „Unwahr!") Und, meine Herren, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass diese Mitteilung des Herrn Reichskanzlers und Ministerpräsidenten auch nicht ergangen ist ohne vorherige Verständigung mit den großen Parteien dieses Hohen Hauses. (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Meine Herren, es erscheint nun nach außen so, als ob die Regierung das Haus auseinanderjagt. In der Tat sind es die großen Parteien des Hauses, die reaktionären Parteien des Hauses, die Parteien, die wie ein Alpdruck auf dem ganzen preußischen Volke lasten (Lachen rechts.), die auch in diesem Falle dazu geführt haben, dass die wichtigsten Angelegenheiten des preußischen Volkes nicht ordnungsmäßig erledigt werden können, dass dieses Haus durch einen derartigen Regierungsukas auseinandergejagt wird, wie eine Hammelherde durch einen Blitzschlag auseinandergetrieben wird. Meine Herren, es ist nicht der geringste Zweifel: Wenn diese Vorgänge sich abgespielt haben, die in den weitesten Kreisen der Öffentlichkeit ein klares Verständnis dafür erwecken werden – wenn es noch nicht vorhanden ist –, dass dieses Haus verdient, soweit wie möglich in die Wüste geschickt zu werden (Lachen rechts. Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!"), und dass das elende Dreiklassenwahlsystem endlich beseitigt werden muss, dann haben zu dieser Aufklärung und zu dieser Förderung des Hasses im Volke gegen dieses Haus (Rufe rechts: „Geschäftsordnung!") die Herren wesentlich beigetragen; Sie (nach rechts) sind schuld an diesen Vorgängen, Sie in allererster Linie, der ungekrönte König von Preußen mehr als der gekrönte König und als der Reichskanzler von Deutschland. (Unruhe rechts.)

1 Nach der Rede Liebknechts verlas der Präsident die Einladung zur Schlusssitzung der vereinigten beiden Häuser des Landtags für 17 Uhr des gleichen Tages. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hoffmann protestierte gegen den willkürlich festgesetzten Schluss der Sitzungsperiode. Die Red.

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