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Karl Liebknecht 19110317 Sozialdemokratie und Schulwesen

Karl Liebknecht: Sozialdemokratie und Schulwesen

Aus einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus 17. März 1911

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 3. Bd., Berlin 1911, Sp. 4318-4328. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 275-286]

Meine Herren, der Herr Abgeordnete Dr. Heß1 hat mit Fug und Recht betont, dass die höheren Schulen naturgemäß nicht so im Brennpunkt des politischen Kampfes stehen wie die Elementarschulen. Der Herr Kultusminister hat andererseits bemerkt, dass es nicht verwunderlich sei, wenn die Debatte keine neuen Gesichtspunkte in Bezug auf das höhere Schulwesen beigebracht habe, weil ja wir alle, die wir Kinder haben, so unmittelbar an diesen Schulen interessiert seien, dass wir im Wesentlichen über alle in Betracht kommenden Bedürfnisse bereits orientiert seien.

Meine Herren, dieses Wort des Herrn Kultusministers ist genauso wie das Wort des Herrn Abgeordneten Dr. Heß in vieler Beziehung sehr charakteristisch. Wir wissen, dass Sie das gleiche Interesse für das Elementarschulwesen wie für das höhere Schulwesen insofern nicht haben können, als Ihr eigen Fleisch und Blut in den höheren Schulen unterrichtet wird, während Sie mit den Elementarschulen nur als Objekten Ihrer Maßregeln zu tun haben. Dass die Elementarschulen in höherem Maße im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen, liegt daran, dass die politische Gestaltung und Beeinflussung der Volksschichten, die in den Elementarschulen unterrichtet werden, überhaupt im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen. Meine Herren, trotz alledem bestehen auch Interessengegensätze zwischen den einzelnen Schichten des Bürgertums und den besitzenden Klassen überhaupt in Bezug auf die Gestaltung der höheren Schulen. Aber es besteht auch ein hohes Interesse des Proletariats an der Gestaltung dieser Schulen, obwohl das Proletariat ja für den Besuch dieser höheren Schulen nur in einem ganz geringen Umfange in Betracht kommen kann. Das Proletariat wird sich niemals das Recht nehmen lassen, sich auch mit dem höheren Schulwesen eingehend zu befassen, das, wie Herr Abgeordneter Dr. Heß mit Recht betont hat, dazu bestimmt ist, dem Staatswesen seine wichtigsten Funktionäre vorzubilden und zu verschaffen.

Meine Herren, von meinem Parteifreund Hirsch ist bei der Beratung über das Elementarschulwesen eine Stelle aus der Lehrerkorrespondenz zitiert worden, die sich gegen eine Verquickung von Bildung und Besitz im Schulwesen wendet. Eine in diese Richtung zielende Bestrebung der Lehrerkorrespondenz kann unter unseren heutigen Umständen nur als eine Illusion bezeichnet werden. Nur auf dem Wege, auf dem die Sozialdemokratie eine Verquickung von Bildung und Besitz zu beseitigen sucht, ist die Verwirklichung dieses idealen Gedankens der Lehrerkorrespondenz möglich.

Meine Herren, wie die Volksschulen dem Zwecke dienen und nur genauso viel Bildung gewähren, wie nötig ist, um ein zur Ausbeutung und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung hinreichend geeignetes und zubereitetes Proletariat zu schaffen, so dienen die höheren Schulen im Wesentlichen den unmittelbaren Interessen der herrschenden Klassen, einmal, damit sie in der Lage sind, ihren Nachwuchs zu befähigen, sich denjenigen Lebensgenuss, auch im höheren Sinne, zu verschaffen, den die höhere Bildung zu verschaffen vermag; sodann auch, um diesem Nachwuchs die Überlegenheit der Bildung über die anderen Schichten der Bevölkerung zu verschaffen, die von ihnen beherrscht werden sollen, und schließlich, um sie überhaupt fähig und geeignet zu machen, innerhalb des Staatswesens und innerhalb der Ökonomie diejenigen Funktionen auszuüben, die im Interesse der herrschenden Klassen von ihnen ausgeübt werden müssen. Das ist im Wesentlichen die sozial-organische Bedeutung der höheren Schule. Sie soll in einem gewissen Sinne die „gute Kinderstube", von der man hier in diesem Hause vor einiger Zeit so viel gesprochen hat, ergänzen.

Meine Herren, es ist begreiflich, dass unter diesen Umständen in unserm höheren Schulwesen manche Missstände nicht zutage treten, die sich in unserem Elementarschulwesen zeigen. Brühlsche Schulpaläste2 finden wir im höheren Schulwesen nicht; wir finden hier auch keine so überfüllten Klassen; wir finden keinen solchen Lehrermangel, wenngleich ich keineswegs verkennen will, dass wir speziell in Berlin einen außerordentlich zu bedauernden Mangel an höheren Lehranstalten haben, der sich geradezu zu einem Missstande ausgewachsen hat. Es werden naturgemäß bei weitem höhere Aufwendungen für diese höheren Schulen trotz ihrer Nichtunentgeltlichkeit gemacht als für die Elementarschulen – im Verhältnis natürlich zu der Schülerzahl.

Meine Herren, es ist auch ganz selbstverständlich, dass in den höheren Schulen solche sozialen Beeinflussungsbestrebungen, wie sie in der Elementarschule ja die Hauptrolle spielen, nicht – mindestens nicht so intensiv – auftreten. Es handelt sich eben um die Jugend der besitzenden Klassen, und es ist nicht nötig, dieser Jugend erst durch besondere künstliche Mittel einen ihren Interessen oder den Interessen der Schichten, aus denen sie stammt, entsprechenden Geist einzuimpfen. Es handelt sich bei der politisch-sozialen Beeinflussung der Schüler höherer Schichten nur darum, dass man sie nach Möglichkeit vor den Versuchungen zu bewahren sucht, die immerhin jegliche wissenschaftliche Betätigung mit sich bringt und die besonders dem jugendlichen Alter nicht so gar fern liegt, ich meine, den Versuchungen in der Richtung einer größeren sozialen Vorurteilslosigkeit, den Versuchungen, die darin liegen, dass die höhere Bildung unter Umständen zur Sozialideologie verführen kann und dass sich der eine oder andere vielleicht freiwillig deklassieren, den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats anschließen könnte. Und dann, meine Herren, verfolgt man naturgemäß mit der Erziehungsmethode auf den höheren Lehranstalten noch ein weiteres Ziel, nämlich die Jugend nach Möglichkeit scharfmacherisch zu dressieren und von vornherein mit falschen, irreführenden Vorstellungen von dem Popanz Sozialdemokratie zu erfüllen.

Meine Herren, wir meinen nun, dass gerade unsere höheren Schulen wohl geeignet wären, einen Keim, einen Hebel zu bilden für die Entwicklung unserer künftigen gesellschaftlichen Gestaltung gerade in der Richtung, in die die Arbeit der Sozialdemokratie abzielt.

Meine Herren, die Ziele, die die Sozialdemokratie sich stellt, und zwar auch für die heutige Gesellschaftsordnung bereits stellt, sind sehr weit ausschauend und beziehen sich durchaus auch auf das anscheinend nur Ihren besonderen Interessen dienende Gebiet des höheren Schulwesens wie auch der Universitäten. So haben wir denn nun auch unser Schulideal geschaffen, das weit über das alles hinausgeht, was gegenwärtig erfüllt ist, das aber keineswegs an und für sich bereits als außerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung liegend bezeichnet werden kann. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir meinen, dass unser ganzes Schul- und Erziehungswesen ein einziges geschlossenes organisches Ganzes darstellen müsste. Wir meinen, dass es innerhalb des Schulwesens Extratouren nicht geben, dass sich die Gesamtheit des Volkes in den gleichen Schulen die Anfangsgründe der Bildung aneignen sollte und dass dann jeweils einzig und allein nach dem Gesichtspunkte der Tüchtigkeit ausgewählt werden sollte und einzig in dieser nur nach den Fähigkeiten individualisierenden Weise nach und nach die einzelnen Teile der Jugend in die verschiedenen Arten der höheren Lehranstalten übergeführt werden sollten, so dass alle Rücksichten auf den Besitz, alle „gesellschaftlichen" Rücksichten, alle Rücksichten auf die soziale und politische Stellung der Eltern, gänzlich auszuscheiden haben würden. Meine Herren, das wäre eine wahrhaftig großartige soziale Regelung des Bildungswesens, eine Regelung des Bildungswesens, getragen vom Willen zum höchsten Wohl des Volksganzen.

Meine Herren, allerdings sind wir uns darüber nicht im Zweifel, dass das Wesen unserer heutigen Gesellschaft als einer Klassengesellschaftsordnung, angesichts der primitiven Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht, mit der die herrschenden Klassen das Staatsganze verwalten, die Verwirklichung eines solchen Ideals der Sozialdemokratie ausschließt, bevor sie nicht zur Räson gebracht worden sind durch den Zwang der äußeren Verhältnisse, durch den Druck, den die große Masse des Volkes durch ihren Willen zur Bildung auf sie auszuüben schließlich in der Lage sein wird. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir fordern ein bewegliches und elastisches Bildungssystem. Wir fordern selbstverständlich auch für die höheren Schulen die Abschaffung des Religionsunterrichts. Und die Frage der gemeinschaftlichen Erziehung der Geschlechter ist zweifellos der Erwägung sehr wert; wir dürfen uns als prinzipielle Anhänger des Systems der Koedukation auch innerhalb der höheren Schulen bezeichnen. Wir stellen weiterhin die Forderung auf, dass das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden in Bezug auf die höheren Schulen erweitert werde in dem Sinne, dass die Gemeinden nicht mehr nur zu bezahlen und bei gewissen äußeren organisatorischen Maßregeln mitzusprechen haben, sondern dass sie auch in Bezug auf die Gestaltung des Lehrplans, selbstverständlich in den Grenzen, die durch die allgemeinen von mir entwickelten Gesichtspunkte gezogen sind, eine freie Selbsttätigkeit entfalten dürfen …

Was speziell die Frage der Einführung russischen Unterrichts in gewissen Grenzgebieten anlangt, so kann ich an und für sich einem solchen Wunsch durchaus nicht widersprechen. Ich meine, dass die Förderung allen Sprachunterrichts schließlich nur nützlich sein kann und dass die russische Sprache eine immer größere Bedeutung gewinnt für unser gesamtes Leben, das unterliegt nicht dem allergeringsten Zweifel. Es mag also immerhin in dieser Richtung dem Antrag kein Widerspruch entgegengesetzt werden; man muss abwarten, was sich damit erzielen lässt. Dass technische Schwierigkeiten der Durchführung im Wege stehen, ist von Seiten des Ministeriums in der Budgetkommission allerdings hervorgehoben worden …

Ich möchte jetzt auf ein Wort zurückgreifen, das der Herr Kultusminister heute gesprochen hat, das in der Tat, wenn es wahr wäre, unserer preußischen Unterrichtsverwaltung ein glänzendes Zeugnis ausstellen und mit einem Schlag beweisen würde, dass die Angriffe der Sozialdemokratie gegen die Unterrichtsverwaltung in vieler Beziehung vollkommen deplatziert sind.

Der Herr Kultusminister hat gesagt: Die Zeiten sind vorbei, wo der Geschichtsunterricht aus Schlachtenberichten und dergleichen bestand; heute wird der Geschichtsunterricht erteilt unter Darlegung der sozialen Verhältnisse, der kulturellen Grundlagen, der Entwicklung usw.

Ja, meine Herren, ist das denn wahr, was der Herr Kultusminister gesagt hat? Soll man denn wirklich meinen, dass der Herr Kultusminister ganz und gar jene Lehrpläne vergessen hat, die mein Freund Strubel im vergangenen Jahre in so eindrucksvoller Weise dem Herrn Kultusminister vorgehalten hat und aus denen deutlichst hervorgeht, dass die Unterrichtsverwaltung nicht im Entferntesten den Wunsch einer wirklich objektiven Vertiefung des Unterrichts in der Geschichte hegt, sondern dass sich nirgends so sehr die Tendenz nach einer Verballhornisierung, nach einer vollkommenen Verzerrung der Wissenschaft zeigt wie gerade auf dem Gebiet des Geschichtsunterrichts?

Tatsache ist, dass gegenwärtig noch jene Instruktionen maßgebend sind, die da fordern, dass in der Geschichte vor allen Dingen die Verdienste des Hohenzollerngeschlechts, insbesondere um die Hebung des Bürger-, Bauern- und Arbeiterstandes, hervorgehoben werden sollen, dass immer und immer auf die Darstellung der Verdienste des Herrscherhauses in allen möglichen Angelegenheiten besonderes Gewicht gelegt werden soll und dass der Geschichtsunterricht insbesondere bestehen soll in einer zusammenfassenden Belehrung im Anschluss an die Lebensbilder des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms I., Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelms III., Kaiser Wilhelms I. usw. Was ist denn das anders als eine Geschichtsklitterung im schlimmsten Sinne des Wortes, als eine Geschichtsklitterung im Sinne der Haupt- und Staatsaktionenschnüffelei, als eine Geschichtsklitterung im Sinne des Byzantinismus! Wie man angesichts solcher Tatsachen es fertigbringen kann zu behaupten, dass der Geschichtsunterricht an unseren Gymnasien auf der Höhe stände, ist mir vollkommen schleierhaft; dazu reicht mein Verstand nicht aus …

Meine Herren, ich will von Kleinigkeiten nicht sprechen; ich will auch nicht mein Erstaunen darüber pointieren, wie gerade ein Vertreter der Rechten dieses Hauses heute mit großer Emphase der Unterrichtsverwaltung einen Vorwurf daraus hat machen können, dass die nichtpreußischen Schulen in den Publikationen gewissermaßen als ausländische Schulen behandelt worden wären. Ja, meine Herren, wenn wir daran denken, wie gerade auf der rechten Seite des Hauses trotz aller Ableugnungen preußischer Partikularismus, preußischer Geist gepflegt werden, dann meinen wir, dass das Kultusministerium hier eigentlich ganz von dem Geiste erfüllt war, der sonst auf der Rechten dieses Hauses, bei der Partei herrscht, der der Abgeordnete Siebert angehört.

Das ist aber eine Nebensächlichkeit. Hochinteressant sind die Ausführungen in der Budgetkommission und auch die heutigen Ausführungen im Plenum über die Bürgerkunde.

Meine Herren, in der Kommission tritt ein Mitglied der Konservativen Partei gegen die Bürgerkunde auf, nachdem sich zweifellos eine gewisse Vorliebe für ihre Einführung in pädagogischen Kreisen und auch sonst in weiten Kreisen der Öffentlichkeit entwickelt hat und obwohl wir uns in Bezug auf diesen Unterricht gar keiner Illusion hingeben – die Bürgerkunde soll ja natürlich in einem antisozialdemokratischen Sinn gelehrt werden. Aber, meine Herren, von konservativer Seite tritt der Mentor auf und sagt: Wir sind Feinde des Unterrichts in Bürgerkunde. Ein Herr vom Zentrum tritt auf und sagt: Wir sind Feinde des besonderen Unterrichts in der Bürgerkunde. Nun heißt es ja: „Gehorsam ist des Christen Schmuck". Der Kultusminister tritt auf und sagt: Ich bin auch ein Feind des besonderen Unterrichts in der Bürgerkunde. Das war wieder einmal die Übereinstimmung der Seelen, die wir ja immer – allerdings leider immer nur auf reaktionären Gebieten – zu beobachten Gelegenheit haben. Der Herr Kultusminister hat – und das ist nun das außerordentlich Charakteristische, das schon an das Gebiet des unfreiwillig Humoristischen angrenzt – gemeint, dass wir Deutschen stets, wenn wir etwas tun, es mit wahrem Feuereifer tun; er meinte, dass auf dem Gebiet der Bürgerkunde bereits ein solcher Feuereifer entfesselt worden sei, dass die Staatsregierung endlich nötig habe, zu bremsen und zu zügeln.

Meine Herren, dieser Feuereifer, der sich bisher auf diesem Gebiete entwickelt hat! Ist es nicht wahrhaftig nötig, hier eine Satire zu schreiben? Der Feuereifer, der sich dadurch betätigt hat, dass auf gewissen Schulen sehr lento lentissimo sogar ein bisschen in Bürgerkunde unterrichtet worden ist! Der Herr Kultusminister hat gemeint: das kann so nebenher geschehen, der bürgerkundliche Unterricht kann den gesamten Unterricht gewissermaßen durchdringen. Ich gebe gern zu, das kann schon sein, aber die ganze Art, wie man seine Unfreundlichkeit gegenüber dem bürgerkundlichen Unterricht zum Ausdruck gebracht hat, beweist, dass diese Durchdringung des sonstigen Unterrichts mit bürgerkundlicher Belehrung nicht ernst gemeint ist, wenigstens nicht ernst in dem wahren kulturellen Sinne …

Meine Herren, ich habe nun noch auf einen Punkt zu kommen; dann bin ich am Ende. Es ist das die Frage der Politik im spezielleren Sinne innerhalb der höheren Schulen. Meine Herren, ich habe hier einen Fall vorzutragen, der einen mir persönlich bekannten jungen Mann betrifft, den Sohn eines „Vorwärts"-Redakteurs. Dieser junge Mann ist Mitglied einer jener Jugendorganisationen gewesen, die von Seiten der Unterrichtsverwaltung nicht, wie ich vorhin erwähnt habe, unterstützt und gefördert werden, sondern die von ihr mit Schwefel und Feuer verfolgt werden.

Meine Herren, dieser junge Mann soll sich angeblich einer Übertretung des Vereinsgesetzes schuldig gemacht haben und ist dieserhalb unter Anklage gestellt worden; es ist ein geringfügiges Delikt, das bestenfalls mit drei Mark Geldstrafe geahndet werden wird, wie Sie alle ja wissen. Daraufhin ist es diesem jungen Manne verwehrt worden, an dem Gymnasium die Abiturientenprüfung zu machen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Dieser junge Mann hat seine Beschwerde bis zum Herrn Kultusminister hinauf durchgeführt. („Hört! Hört!") Meine Herren, der Herr Kultusminister hat am 7. März dieses Jahres die Antwort erteilt:

Auf die Eingaben vom 1. und 23. Februar dieses Jahres erwidere ich Ihnen, dass ich mich nicht veranlasst sehe, den Bescheid des Königlichen Provinzialschulkollegiums hierselbst wegen Zulassung Ihres Sohnes Bernhard zur Reifeprüfung abzuändern, solange ein gerichtliches Verfahren gegen ihn schwebt."

Meine Herren, was heißt das? Der Herr Kultusminister weiß doch, um was für einen Fall es sich hier handelt, er weiß, dass Ostern bevorsteht, er weiß, wann die Reifeprüfungen sind, und weiß, dass der junge Mann jetzt das Examen machen muss, wenn er nicht ein Jahr seines Lebens verlieren will. All das wusste der Herr Minister. Meine Herren, seien wir uns doch darüber klar, dass nicht wegen des Strafverfahrens, das aus Anlass dieser Bagatellübertretung gegen den jungen Mann schwebt, gegen ihn so eingeschritten wird. Nehmen Sie an, er wäre wegen groben Unfugs angeklagt, den er in der Trunkenheit auf der Straße begangen hätte; würde man dann gegen ihn so verfahren? Aber es wird hier gegen ihn so vorgegangen, weil man die freien Jugendorganisationen hasst wie die Sünde und von Staats wegen sie auszurotten bestrebt ist, weil man den jungen Mann fühlen lassen will, dass er als Mitglied einer solchen Organisation nicht würdig ist, einer höheren Lehranstalt anzugehören. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, man versagt ihm jedes Recht, man versagt ihm jede Menschlichkeit, man versagt diesem jungen Mann jede einfachste Menschlichkeit, man scheut nicht davor zurück, seine ganze Existenz zu ruinieren aus diesem kleinlichen, engherzigen, im höchsten Maße verächtlichen Geiste heraus.

Ich stelle diesem Falle eine andere Sache entgegen: Mir ist zu Ohren gekommen – und ich glaube, dass meine Information gut ist –, dass im strikten Gegensatze hierzu die Unterrichtsverwaltung den Adjutanten des Prinzen August Wilhelm, einen aktiven Offizier, obwohl das die Verfassung der Berliner Universität verbietet, zum Studium mit dem Prinzen August Wilhelm zusammen an ihr zugelassen hat. Meine Herren, ich bin auch über die Einzelheiten dieses Falles orientiert, will sie aber, weil wir es hier mit den Universitäten im Augenblick nicht zu tun haben, nicht näher ausführen. Aber ich kontrastiere diese beiden Fälle und frage Sie: Wie kann man angesichts eines solchen ungleichmäßigen Verfahrens, einer solchen Parteilichkeit hier im Ernst noch in irgendeiner Weise sich aufspielen wollen als Vertreter einer über den Parteien schwebenden Staatsregierung? („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Weiter, meine Herren, erinnere ich daran, wie vor kurzem bei den Debatten des Hauses die Frage der Schlepparbeit bei den Wahlen in Labiau-Wehlau eine große Rolle gespielt hat. Ich erinnere daran, wie die Unterrichtsverwaltung gegen die Studenten aus Königsberg, die bei dieser Wahl Schlepparbeit geleistet haben sollten, eine hochnotpeinliche Untersuchung eingeleitet hat, während wir genau wissen, dass Studenten stets unbeanstandet eine solche politische Tätigkeit im Interesse der herrschenden Klassen, der Regierungsparteien, ausgeübt haben und insbesondere in Zeiten, wo dem Freisinn noch die Regierungssonne schien, auch für diesen, zum Beispiel in Halle – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Die Studenten gehören nicht in diesen Titel hinein. Sie kommen wieder auf die Universitäten, und ich bitte Sie, zu den höheren Lehranstalten zurückzukommen.

Liebknecht: Ich erwähnte dieses nur – ich bin ganz der Ansicht des Herrn Präsidenten –, um das, worauf ich komme, um so schärfer hervorheben zu können.

Meine Herren, ist Ihnen nicht allen bekannt und ist der Staatsregierung nicht bekannt, dass während der Blockwahlen 1906/07 die Gymnasiasten unserer städtischen und königlichen Gymnasien und der anderen höheren Lehranstalten – mir ist es von Spandau, von Potsdam usw. bekannt – in weitestem Umfange unter Duldung der Gymnasialverwaltung politische Wahlarbeit geleistet haben („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) für den Regierungsblock, dass sogar die höheren Schulen in Potsdam am Wahltage freigegeben haben, um es den Gymnasiasten zu ermöglichen, für die herrschenden Klassen zu schleppen? („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. Zuruf rechts.) Herr von Pappenheim, es wäre nicht die größte Sünde, die Sie und Ihre Regierung auf sich geladen hätten. (Lachen rechts.) Ich bitte, dass mir jemand widerspreche, der kompetent dazu ist. Sie sind mir nicht kompetent dazu, Herr von Pappenheim! Ich bitte den Herrn Kultusminister, mir zu widersprechen und die Behauptung zu wagen, dass das, was ich sagte, unwahr ist. Es ist wahr, und ich bin in der Lage, es nachzuweisen. Ich habe persönlich mitten in diesem Wahlkampfe gestanden und kann es aus meiner eigenen Erfahrung heraus bestätigen.

Meine Herren, angesichts dieser Umstände sind wir nur in der Lage, auch bei diesem Titel wiederum unsere Darlegungen mit einem ungünstigen Verdikt über die Leistungen der preußischen Schulverwaltung abzuschließen, mit einem Verdikt, das dahin geht, dass auch hier die preußische Schulverwaltung ihren Pflichten gegenüber dem Volksganzen, in einem höheren Sinne des Wortes, nicht gerecht wird, dass sie in Kleinlichkeit ihres Amtes waltet und dass sie insbesondere den allem natürlichen Empfinden, allen „christlichen" Pflichten, allen Verfassungsbestimmungen ins Gesicht schlagenden Grundsatz des Messens mit zweierlei Maß auch auf diesem Gebiete unzweifelhaft betätigt hat. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Zentrumspartei. Die Red.

2 Spöttische Bezeichnung für die völlig unzulänglichen Volksschulen, hauptsächlich im Gebiet der preußischen Junker. In einer Sitzung des preußischen Herrenhauses hatte Graf Brühl gegen die „Schulpaläste" gesprochen. Die Red,

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