Karl Liebknecht‎ > ‎1911‎ > ‎

Karl Liebknecht 19110926 Über den Parteitag in Jena

Über den Parteitag in Jena

Zeitungsbericht über die Rede auf der Generalversammlung des Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland in Spandau

[Vorwärts Nr. 229 vom 30. September 1911. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 470-473]

Die Generalversammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins wurde am Dienstagabend im Restaurant von Bohle abgehalten. Zum Parteitagsbericht führt Genosse Dr. Liebknecht aus, dass der Jenaer Parteitag sehr mannigfaltige und widersprechende Stimmungen ausgelöst hat. Die schwarzblauen Gegner sind mit dem Resultat unzufrieden, das sei der beste Beweis, dass der Parteitag gute Arbeit geleistet habe. Erfreulich sei es, dass der Parteitag nicht an der Nahrungsmittelteuerung vorübergegangen ist.

Redner geht auf die Beschlüsse hierzu näher ein und kommt dann auf die Jugendbewegung zu sprechen. Er schildert die ungesetzlichen behördlichen Eingriffe, von denen Spandau auch in voriger Woche einen kleinen Begriff erhalten hat, als der Arbeiterturnverein in seinem Lokal von Polizeibeamten überfallen wurde und 16 Verhaftungen erfolgten. Partei und Gewerkschaft sind übereinstimmend von der Wichtigkeit der Jugendbewegung überzeugt, und der Parteitag hat es der Partei zur Pflicht gemacht, sich nach Kräften der Jugendbewegung anzunehmen. Er hoffe, dass dies auch in Spandau geschehe.

Redner streift dann auch die auf dem Parteitag vorgebrachten inneren Parteiangelegenheiten und erhofft von den getroffenen Maßnahmen ein gutes Resultat Zur Konsumvereinsresolution erklärt Redner, dass, obgleich sie zurückgezogen, der Parteitag doch einhellig mit ihr einverstanden war. Das wichtigste war außer der Reorganisation und Ergänzung des Parteivorstandes die Marokkofrage und die Stellung zur Reichstagswahl. Die Marokkofrage zerfalle in zwei Punkte, nämlich erstens, ob der Parteivorstand in dieser Frage die erforderliche Energie und Schlagfertigkeit gezeigt, oder ob mit Recht Kritik an dem Verhalten des Parteivorstandes geübt wurde. Die Sache habe viel Staub aufgewirbelt und stehe im Zusammenhang mit der beschlossenen Reorganisation des Parteivorstandes und der Vermehrung der Sekretäre. Redner meinte, dass das lange Schweigen des Vorstandes schließlich doch keinen Schaden angerichtet habe. Die in Deutschland und anderen Ländern seitens des Proletariats vorgenommenen wuchtigen Demonstrationen haben auf die Regierungen zweifellos abkühlend gewirkt und mit dazu beigetragen, dass ein kriegerischer Ausgang vermieden wurde. Trotzdem zeige jetzt Tripolis, dass die Partei weiter die Augen offen behalten müsse. Man könne nur bedauern, dass man versuchte, die ganze Frage auf ein falsches Gleis zu schieben. Es ist nicht richtig, dass die ganze Protestbewegung erst durch die Genossin Luxemburg ins Rollen gebracht wurde, wertvoll und nützlich aber waren ihre Veröffentlichungen sicher. Man hätte deshalb auch nicht die Kleinlichkeit der Indiskretion1 so in den Vordergrund stellen sollen. Betont darf werden, dass die Partei im Lande die Sache nicht so langsam und indolent behandelt zu sehen wünschte. Es wäre zweifellos klüger gewesen, wenn der Parteivorstand nicht so rechthaberisch aufgetreten wäre. Man hätte zugeben sollen, dass der Vorstand infolge Überlastung die Frage etwas langsam behandelt habe, dann wäre die scharfe Diskussion darüber vermieden worden. Trotzdem wurde diese Frage auch in voller Einmütigkeit erledigt.

Redner ging dann zu dem Referat Bebels über die Marokkofrage über. Eine bessere Lösung, so meinte er, konnte nicht gefunden werden, als dass Bebel als Repräsentant der Partei das Referat übernahm. Das Referat ist von der Presse meist günstig beurteilt, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es manches zu wünschen übriglässt.

Redner war erstaunt, dass Bebel kein Wort von unserer großartigen Massenprotestbewegung gesagt und auch kein Wort der Anfeuerung gefunden hat. Bebel habe wohl nicht die Absicht gehabt, dies zu unterlassen. Deshalb wollte er, Redner, eine diesbezügliche Ergänzung in der Resolution anbringen. Daran sei er aber durch den Schluss der Debatte gehindert worden. Eine Verständigung mit Bebel wegen der Amendements war auch nicht mehr möglich. Die Ablehnung derselben spreche nicht gegen den Inhalt, denn Genosse Bebel habe sich in seinen Schlussworten mit seinen und der Genossin Luxemburgs Ausführungen einverstanden erklärt. Um Quertreibereien habe es sich jedenfalls nicht gehandelt.

Über die Frage des Massenstreiks lässt sich Genosse Liebknecht dahin aus, dass sich derselbe im Falle eines Krieges selbstverständlich nicht dekretieren lasse. Dergleichen habe aber auch noch kein vernünftiger Mensch behauptet. Genosse Bebel habe recht, wenn er sagte, dass die Massen bei Ausbruch eines Krieges nach Brot und Arbeit rufen würden. Das sei aber auch ein durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgezwungener „Massenstreik", der sehr wohl noch durch freiwillige Streikbewegungen der empörten Massen ergänzt werden könne. Und solche Bewegungen seien auch vor dem Kriegsausbruch möglich, um ihn von vornherein zu verhindern. Der Massenstreik könne nur durch die Zustände des Krieges oder vor dem Kriege und die zugespitzte Stimmung im Volke hervorgerufen werden. In diesem Sinne ist auch die Antwort aufzufassen, die die deutschen Vertreter auf dem Stuttgarter und dem Kopenhagener Internationalen Kongress gegeben haben. Wenn auch die jetzige italienische Massenstreikbewegung ungünstig ablaufen werde, sie werde nichts gegen den Gedanken des antikriegerischen Massenstreiks beweisen. Bebel habe seine Ausführungen über den Massenstreik zum Teil wenig glücklich formuliert. Genosse Bebel habe dann auf die revolutionierende Wirkung der Mobilmachung hingewiesen und damit großen Eindruck auf die herrschenden Klassen gemacht.

Über die Reichstagswahl habe Bebel nur wirksam zusammengesetzte bekannte Gesichtspunkte vorgebracht. Das Hauptgewicht ist auf die Leitsätze bei der Stichwahl zu legen, und diese sind vom Parteitage gebilligt. Nachdem sich der Redner noch eingehend über diese Leitsätze ausgelassen, schließt er mit der Erklärung, dass der Parteitag gute Arbeit geleistet habe. Das Referat würde mit Beifall aufgenommen. Nach ganz kurzer Diskussion gelangte folgende Resolution einstimmig zur Annahme:

Die heutige Generalversammlung des Wahlvereins Spandau verpflichtet sich nach Entgegennahme des Berichts vom Jenaer Parteitage, im Sinne der vom Genossen Bebel gestellten Resolution über die Reichstagswahlen tatkräftig zu arbeiten, um die Mitgliederzahl des Wahlvereins und den Abonnentenstand der Arbeiterpresse den Verhältnissen Spandaus entsprechend zu heben." …

1 In einer zur Zeit des Jenaer Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (September 1911) vom Parteivorstand herausgegebenen Schrift wurde Rosa Luxemburg der Vorwurf gemacht, sie habe durch die Veröffentlichung eines Briefes Molkenbuhrs an das Internationale Sozialistische Büro, in dem dieser seine ablehnende Haltung zur Einberufung einer internationalen Konferenz begründete, eine Indiskretion begangen.

Kommentare