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Karl Liebknecht 19120106 Dem Volke Glück und Wohlfahrt!

Karl Liebknecht: Dem Volke Glück und Wohlfahrt!

Aus einem Zeitungsbericht über eine Wahlrede in Cottbus

[Märkische Volksstimme Nr. 6 vom 9. Januar 1912. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 3-9]

Eine überaus machtvolle Kundgebung für die Sozialdemokratie war die Wählerversammlung, die die sozialdemokratische Parteileitung am Sonnabend Abend nach den Kolkwitzschen Konzertsälen einberufen hatte. War das eine Riesenversammlung! Weil die Lokalität von 8 Uhr an zu einem andern Zwecke vergeben war, war der Beginn der Versammlung auf 5.30 Uhr festgesetzt worden. In Scharen strömten die Arbeitsmänner und -frauen aus den Fabriken und Werkstätten dem Versammlungslokale zu und um 5.45 Uhr konnte buchstäblich kein Apfel mehr zur Erde. 3000 bis 4000 Personen saßen dicht gedrängt und standen Kopf an Kopf; Hunderte fanden keinen Einlass! Dass die Wählerschaft nur in der Sozialdemokratie – trotz aller Anfeindungen – die einzige Partei erblickt, die rücksichtslos für die Interessen des Arbeitervolkes – worunter Kleinbauern, Gewerbetreibende, Angestellte, Beamte, Kopf- und Handarbeiter zu verstehen sind – eintritt, das hat auch der Massenbesuch und der Verlauf der Sonnabend-Versammlung gezeigt.

Als der Redner des Abends, Landtagsabgeordneter Dr. Karl Liebknecht, den Saal betrat, wurde er mit stürmischem Beifall empfangen. Mit gespanntester Aufmerksamkeit folgten die Zuhörer den fesselnden Ausführungen unseres bewährten Genossen und Abgeordneten …

Aus dem ausgezeichneten Referat geben wir kurz folgendes wieder:

Solange der Deutsche Reichstag besteht, ist keiner mit so lautem Hosianna begrüßt worden wie der vergangene. Es hat aber auch noch keinen Reichstag gegeben, der so mit Flüchen und Verwünschungen des Volkes bedacht worden wäre wie dieser. Der Reichstag ist überall ausgeschaltet gewesen, der Absolutismus durfte triumphieren. Mit dem Volkswohl ist ein freventliches Spiel getrieben worden. Die Parteien, die den Mund so voll genommen haben, sich in Versprechungen überboten, wo sind sie geblieben, wenn es galt, Versprechungen wahr zu machen? Sie haben alle aus der Haut des Volkes Riemen geschnitten. Keine bürgerliche Partei, die sich davon ausgeschlossen hätte; alle zusammen sind sie mitschuldig.

Besonders die Konservativen und die Liberalen haben diesen Reichstag zusammengebracht. Wie kann man dem Volke Freiheit, Wohlfahrt, billiges Brot verschaffen in Verbindung mit den Konservativen? Wahnsinn ist es, gemeinsam mit den Konservativen freiheitliche Politik machen zu wollen, wie es die Liberalen vorzugeben beliebten. Dem deutschen, dem preußischen Volke kann nur Freiheit verschafft werden durch rücksichtslose Bekämpfung der Konservativen und ihrer liberalen Helfershelfer. (Lebhaftes „Sehr richtig!") Durch liberal-konservative Koalition wird die unverschämte Privilegienwirtschaft nicht vermindert, sondern vermehrt, und die Liberalen tragen die Schuld daran, dass die Stellung der Konservativen gestärkt worden ist. Die Liberalen haben dafür gesorgt, dass die Konservativen so stark in den letzten Reichstag einziehen konnten. Die Liberalen haben Jahre mit den Konservativen an einem Strange gezogen, sie verdienen daher kein Zutrauen, wenn sie sich jetzt scheinheilig als Oppositionspartei gebärden. Durch die Bülow-Block-Politik bleiben die Liberalen gekennzeichnet als politisch unsichere Kantonisten, die im gegebenen Augenblick wieder bedenkenlos ins Lager der konservativen Volksfeinde abschwenken werden.

Welche Partei ist es, auf die sich die Wähler auf jeden Fall verlassen können? Einzig und allein die Sozialdemokratie ist es, die mit klarem Programm den geraden Weg marschiert, die das Vertrauen der Wählerschaft noch nie getäuscht hat und auch nie täuschen wird. Kein einsichtiger Wähler darf für einen konservativen oder liberalen Reaktionär stimmen. Nur im Verhältnis zu den Konservativen sind die Liberalen als das kleinere Übel anzusehen. Keine taugliche Blockfrucht ist im Reichstage gezeugt worden, obwohl sich die Sozialdemokratie alle Mühe gegeben hat, zu einer liberalen, wirklich freiheitlichen Politik zu drängen. Mit Majestätsbeleidigungs-Prozessen werden Sozialdemokraten nach wie vor bedacht. Am nachdrücklichsten kämpft die Sozialdemokratie gegen das persönliche Regiment. Dieser Kampf wird aber sachlich geführt, er richtet sich nicht gegen die Person des Kaisers, da das persönliche Regiment als ein in unserer gesellschaftlichen Situation wurzelndes Faktum zu betrachten ist.

Redner erwähnt die in Preußen-Deutschland übliche Klassenjustiz und verweist auf die Tatsache, dass besonders im Jahre 1908 aus den Reihen der Konservativen und Nationalliberalen und ihrer Pressorgane ungeheuerliche Angriffe auf die Person des Kaisers gerichtet worden sind, ohne dass da die Staatsanwälte in Aktion getreten wären. Nur die sozialdemokratische Presse habe sich der besonderen Aufmerksamkeit von Staatsanwälten und Richtern zu erfreuen. Das angeblich liberale Reichsvereinsgesetz sei mit seinen Sprachen- und Jugendlichen-Paragraphen1 geradezu gemeingefährlich; die Liberalen haben aber die politische Entrechtung der Jugendlichen der Regierung apportiert. Dazu komme, dass diese liberale Blockfrucht in durchaus parteiischer Weise gegen die Arbeiterschaft angewendet wird.

Schon im ersten halben Jahre war zu erkennen, dass das Bündnis zwischen Liberalen und Konservativen nichts von freiheitlichen Gesetzen bringen könne. Die Liberalen könnten von Glück sagen, dass die Konservativen aus Kurzsichtigkeit und eigenmächtigen Motiven die Erbschaftssteuer abgelehnt haben, sonst bestünde das Blockverhältnis heute noch, und die Liberalen hätten ihre Bereitwilligkeit, das Volk mit einer mehrere Millionen großen indirekten Steuerlast zu bepacken, in die Tat umgesetzt.2 Über die Absichten und Pläne der Konservativen konnten die Liberalen nie im Zweifel sein; ist doch die Geschichte der Konservativen eine Kette von Attentaten auf das Volk. Jeder Reichskanzler ist mit den Konservativen in Konflikt geraten. Sie sind gewohnt, aus der Staatskrippe zu fressen, jede Last von sich abzuwälzen und gemeinsam mit dem Reichsfeinde von 1906, dem Zentrum, Ketten für das Volk zu schmieden. Diese konservativen Thron- und Altarstützen pfeifen auf alles in dem Augenblick, wo sie ihre Interessen gefährdet sehen. Redner erinnert an die Gesetzesvorlage über den Mittellandkanal, bei welcher die Konservativen den Kaiser auf die Knie gezwungen haben trotz allen Gottesgnadentums.

Gegen den Willen der Konservativen ist auch die elsass-lothringische Verfassungsreform3 zustande gekommen, und was von ihren Redensarten und ihrem heuchlerischen Getue zu halten ist, hat der Reichskanzler ihnen erst kürzlich wieder gelegentlich der Marokko-Debatte attestiert. Nicht das Vaterland über die Partei, sondern umgekehrt halten es diese Leute, die ihre politische Machtstellung zur Wahrnehmung ihrer Geldsackinteressen seit jeher Missbraucht haben und denen nur darum zu tun ist, die Armen und Unterdrückten auszubeuten und zu unterdrücken. – Infame Heuchelei ist es darum, wenn sich die Konservativen als Verfechter des Christentums gerieren. Als innerer Feind sind die Konservativen zu betrachten, diesen gilt es am 12. Januar den Todesstoß zu versetzen, wenn wir Licht und Luft haben wollen.

Sodann kommt Redner auf die Reichsversicherungsordnung zu sprechen, ein Gesetz, das überall die hellste Empörung hervorrufen müsse. Nur Bettelpfennige werden den Elendesten der Elenden als Renten verabfolgt. Niedergestimmt worden ist der sozialdemokratische Antrag, die Altersrente vom 65. Jahre an zu zahlen, weil angeblich einige Millionen Mark für die Arbeiterveteranen nicht übrig gewesen sind. Dass auch der Freisinn diesen Antrag niedergestimmt hatte, verdient besonders im Gedächtnis behalten zu werden. Auch bei der Beratung des Heimarbeitergesetzes hat die Fortschrittliche Volkspartei in Gemeinschaft mit den übrigen bürgerlichen Parteien gegen wirkliche Verbesserungen gestimmt. Ganze sechs Mann haben sich aufgerafft, mit der Sozialdemokratie zu votieren. Die letzten Gesetzesprodukte, mit denen sich die bürgerlichen Parteien den Anschein von Volksfreundlichkeit geben wollten, sind nichts als ein paar Angsteier, dazu noch Windeier, gewesen. („Sehr richtig!")

Eine neue Finanzreform wird der neue Reichstag zu machen haben, neue Steuern werden von der Regierung gefordert werden. Die Belastung der breiten Volksmassen wird noch schlimmer ausfallen, wenn die Wähler den bürgerlichen Parteien Gefolgschaft leisten. Für eine gerechte Steuerpolitik werden nur die Sozialdemokraten mit aller Energie und mit Erfolg eintreten können, wenn die Wählerschaft allerorts für die Wahl der sozialdemokratischen Kandidaten eintritt.

Eine möglichst zahlreiche sozialdemokratische Vertretung im Reichstage wird auch von heilsamem Einfluss auf den Preußischen Landtag sein, dessen volksfeindliches Treiben den Wählern ebenfalls vor Augen schweben muss. Namentlich muss der arbeitenden Bevölkerung die Reform der Einkommensteuer vom Jahre 1909 in der Erinnerung wach bleiben. In erster Linie war es dabei die Fortschrittliche Volkspartei, die für die Zuschläge eingetreten ist und für die Verpflichtung der Arbeitgeber stimmte, die Lohnlisten den Steuerbehörden einzureichen. Als aber die Sozialdemokraten verlangten, dass auch die Banken von den Einlagen der Reichen den Steuerbehörden Mitteilung zu machen haben, da wurde Feuerlärm gemacht. Die Behauptung, dass die Freisinnigen ein wirklich demokratisches Wahlrecht zum Landtage schaffen wollen, ist zu bestreiten. Nirgends haben sie es fertiggebracht, an der Seite der Sozialdemokratie für die Übertragung des Reichstagswahlrechts zum Preußischen Landtage zu demonstrieren; sie haben im Gegenteil nur Hohn und Spott für diese wuchtigen Demonstrationen der Arbeiterschaft übrig gehabt. Der Führer des Freisinns Cassel, der im selben Lokale vor einigen Tagen oppositionelle Redensarten vom Stapel gelassen hat, hat wiederholt erklärt, dass die Freisinnigen keineswegs für ein gleiches allgemeines Wahlrecht zu haben sind.

Die Wahl am 12. Januar ist entscheidend für die Geschicke des Volkes in den nächsten Jahrzehnten. Soll das Volk über Krieg und Frieden mitentscheiden, soll eine bessere Wirtschaftspolitik, eine vernünftige Steuerpolitik getrieben werden, soll das arbeitende Volk von einem neuen Zuchthausgesetz verschont bleiben – das zu bestimmen, hat das Volk am 12. Januar die Macht.

Die konservative Stichwahlparole zeigt, wohin der Kurs gehen soll. Der Mittelstand, die kleinen Beamten, die Angestellten werden keine Partei außer der Sozialdemokratie finden, die jederzeit auf dem Posten gewesen ist, wenn es galt, nachdrücklich für des Volkes Wohl einzutreten. Keiner Achselträgerei, sondern energischer Kämpfe bedarf es, soll dem Volke Glück und Wohlfahrt zuteil werden. Das Junkertum hat einen harten Schädel, noch härterer Schädel bedarf es zum Widerstande. Die Junker verfolgen eine klare Politik, sie kennen nur die Wahrung ihrer eigenen Interessen; eine ebenso klare Politik treibt die Sozialdemokratie, die seit jeher für die Interessen der breiten erwerbstätigen Volksmassen eingetreten ist und dieses mit Energie auch künftig zu tun gedenkt.

Der 12. Januar soll ein Tag des heißesten Kampfes werden, ein Tag der Vergeltung! Mit Zähnen und Nägeln muss dem Feinde zu Leibe gegangen werden. Rüttelt die Lässigen auf, gebt Aufklärung den Schwankenden! Wer weiß, welch schäbiger Mittel sich die Gegner in letzter Stunde noch bedienen werden, um den Ansturm der Sozialdemokratie zu schwächen. Glauben Sie kein Wort. Es wird gelogen werden, dass sich die Balken biegen. Halten Sie ungeachtet aller Verleumdungsversuche zur Sozialdemokratie. Halten Sie Gerichtstag, üben Sie Vergeltung, nieder mit der Reaktion! (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

1 die Paragraphen 12 und 17 des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908.

Paragraph 12, der Sprachenparagraph, legte für die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache fest und richtete sich besonders gegen die polnische Bevölkerung. Er wurde im April 1917 aufgehoben.

Paragraph 17, der sogenannte Jugendlichenparagraph, verbot Personen unter 18 Jahren, Mitglied politischer Vereine zu sein und an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen. Das war ein bewusster Schlag gegen die Arbeiterjugend.

2 Die deutsche Reichsregierung des sogenannten Bülow-Blocks von Konservativen und Liberalen strebte 1908/09 eine Reform der Reichsfinanzen an, um der unaufhörlichen Verschuldung des Reiches – in erster Linie eine Folge der imperialistischen Aufrüstung – entgegenzuwirken. Ihr Ziel war ein jährlicher Mehrbetrag an Steuereinnahmen von 500 Millionen Mark. Ein Fünftel der Mehreinnahmen sollte aus einer neuen Erbschaftssteuer gewonnen werden, der Hauptteil durch die Erhöhung beziehungsweise Neuschaffung von indirekten Steuern (auf Branntwein, Tabak, Bier, Gas und Elektrizität). Die konservativen Parteien und das Zentrum traten gegen die Erbschaftssteuer auf. Am 10. Juni 1909 nahm eine Reichstagsmehrheit aus Konservativen, Zentrum und Polen ein nach den Wünschen der Konservativen verändertes Steuergesetz an. Die Auseinandersetzungen um die Reichsfinanzreform 1909 hatten Anteil an der Sprengung des Bülow-Blocks und dem Rücktritt des Reichskanzlers Bülow und damit an der Entstehung des sogenannten schwarzblauen Blocks.

3 Am 26. Mai 1911 wurde Elsass-Lothringen durch Reichstagsbeschluss das allgemeine und gleiche Wahlrecht für das Landesparlament zuerkannt. Die Red.

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