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Karl Liebknecht 19120130 Nach dem Triumph

Karl Liebknecht: Nach dem Triumph

Interview mit Karl Liebknecht1

[l'Humanité vom 1. Februar 1912. (Übersetzung). Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 499-501]

Berlin, 30. Januar. (Bericht unseres Korrespondenten.)

Auf der Bank des Taxis, das uns in schneller Fahrt nach Potsdam bringt, sitzt mir Karl Liebknecht, der neue sozialistische Abgeordnete der kaiserlichen Residenzstadt, gegenüber zwischen seinen beiden kleinen Jungen, die sich glücklich und zärtlich an ihren Vater schmiegen. Ich frage ihn, welchen Kurs die sozialistische Fraktion im kommenden Reichstag steuern wird.

Vor allem müssen wir die Gegner daran hindern, das zu tun, was wir nicht wollen."

Wie wird sich die Linksmehrheit verhalten?"

Das ist schwer zu sagen. Zunächst müssen wir abwarten, welche Gerichte die Regierung uns servieren wird. Die eigentliche Linke sind wir, die Sozialisten. Aber auch wenn die sogenannten Liberalen nicht mit uns gehen, so freuen wir uns doch, dass der Block der Reaktion geschlagen worden ist, vor allem deshalb, weil die ,Liberalen' jetzt werden zeigen müssen, was wirklich an ihnen ist. Ich würde mich keineswegs wundern, wenn das Zentrum in einigen Fragen mit uns stimmen würde. Die Führer des Zentrums sind viel klüger als die der Konservativen. Sie wissen, dass sie, um sich zu halten, einige Konzessionen machen müssen. Aber das werden sie nur in der äußersten Not tun."

Wie haben Sie in einer Stadt wie Potsdam siegen können?"

Ganz einfach deshalb, weil die meisten Proletarier sowie die Kleinhändler und manche unteren Beamten für mich gestimmt haben. Entscheidend aber ist es, dass die sozialistische Organisation in meinem Wahlkreis vielleicht die beste im ganzen Reich ist. Sehr zahlreich sind unsere Potsdamer Genossen nicht, aber die Qualität ersetzt die Quantität. Ihre Opferbereitschaft und ihre Begeisterung waren bewunderungswürdig."

Welchen Eindruck hat Ihre Wahl Ihrer Ansicht nach auf den kaiserlichen Hof gemacht?"

Nun, ich kann mir vorstellen, dass die Umgebung des Kaisers nicht gerade erfreut gewesen ist. Sie wissen ja, welche Verleumdungskampagne gegen mich geführt worden ist. Man hat behauptet, ich sei lungenkrank und werde bald sterben, und deshalb lohne es sich nicht, mich zu wählen; im Falle der Wahl eines Sozialisten werde der Kaiser nicht mehr nach Potsdam kommen, und die ganze Garnison werde an einen anderen Ort verlegt werden. Kurz, man hat alles getan, um die Kleinhändler in meinem Wahlkreis einzuschüchtern. Was den Kaiser selbst betrifft, so hat er die Sache wohl philosophisch genommen. Ich glaube, er wäre ganz anders, wenn er nicht von dieser Kamarilla umgeben wäre.

Sie fragen mich, ob ich glaube, dass die Stärke der Sozialisten im Reichstag einen Krieg verhindern kann.

Nun, wenn der Krieg verhindert wird, dann meiner Meinung nach nicht durch das Parlament, sondern nur durch die Stärke unserer Partei außerhalb des Reichstages. Da wir mit der Katastrophe rechnen müssen, müssen wir alle unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, unsere Organisation immer stärker zu machen. Wir müssen in Kriegszeiten noch stärker sein als in Friedenszeiten. Wenn der Krieg erklärt werden sollte, müssen wir ihn einfach dadurch verhindern können, dass wir uns ihm widersetzen."

Das heißt also, dass der Krieg zu Ende wäre, ehe er begonnen hat?"

Ganz recht. Es ist nicht so, dass die fünf Millionen Reservisten des deutschen Heeres alle Sozialisten wären, aber die Hälfte dürfte hinter uns stehen. Außerdem stehen die beiden ersten Jahrgänge der Reserve, die noch nicht 25 Jahre alt und daher noch nicht wahlberechtigt sind, und die beiden noch nicht wehrpflichtigen Jahrgänge im Alter von 18 bis 20 Jahren in ihrer Mehrheit zu uns."

Ist sich die Regierung hierüber klar?"

Zweifellos, und sie macht sich Sorgen darüber. Es ist zwar von Ausnahmegesetzen gegen die antimilitaristische Propaganda gesprochen worden, aber wir sind für jede Möglichkeit gerüstet. Auch im Falle der Annahme solcher Gesetze würden zwar die ersten Verhafteten streng bestraft werden, aber die Zahl der Propagandisten würde sich nicht verringern, sondern mit der Strenge der Urteile anwachsen.

In den nächsten zwei oder drei Jahren wird es sich entscheiden, ob Deutschland oder England stärker ist. Ich kann die gegenwärtige Situation der beiden Nationen nicht besser charakterisieren als durch einen Vergleich mit zwei riesigen Trusten, die in die letzte Phase ihrer wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten sind. Nun hat uns die Erfahrung gelehrt, dass es, wenn zwei Truste in ihrer Entwicklung so weit fortgeschritten sind, dass der eine sich dem andern unterwerfen muss, fast immer, wenn man nicht einen Teil der Kräfte des zu besiegenden Konkurrenten vernichten will, zu einem für beide Seiten vorteilhaften Ausgleich kommt. Nun, Deutschland und England sind jetzt so weit. Wir müssen uns bemühen, ihnen diesen Weg der Verständigung und des Friedens aufzuzwingen."

Wir hatten Sanssouci passiert, und das Auto fuhr jetzt in das alte Potsdam ein. Die über die Ankunft ihres neuen Abgeordneten unterrichtete Bevölkerung war zu seiner Begrüßung herbeigeeilt. In den Straßen sah man freudestrahlende Proletarier in Begleitung ihrer Frauen und Kinder. Noch vor unserer Ankunft im sozialistischen Hauptquartier hatte das Auto Mühe, sich einen Weg zu bahnen, und überall wurde es mit Hochrufen begrüßt.

Angesichts dieser spontanen Kundgebung des Potsdamer Proletariats wurde es mir klar, warum dieser große Sohn eines tapferen Vaters in dem reaktionärsten Wahlkreis Deutschlands gesiegt hat.

Edmond Peluso

1 Das Interview, das Karl Liebknecht dem Berliner Korrespondenten der Pariser Zeitung „l'Humanité" gegeben hatte, erschien am 1. Februar 1912. Nach Bekanntwerden des Interviews in Berlin zwang die sozialdemokratische Fraktion im Abgeordnetenhaus – im Einverständnis mit dem Parteivorstand – Karl Liebknecht, noch am selben Tage im preußischen Abgeordnetenhaus folgende Erklärung abzugeben: „Der Herr Abgeordnete Herold hat einen Bericht des Wolffschen Depeschenbüros wiedergegeben über ein Interview mit mir, das angeblich in der ,Humanité' veröffentlicht sein soll. Ich erkläre hiermit, dass mir von einem Interview dieser Art durchaus nichts bekannt ist und dass ich diese Nachricht des Wolffschen Depeschenbüros, bis ich Näheres erfahren habe, als durchaus unzutreffend und unwahrhaftig bezeichnen muss." (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912, 1. Bd., Berlin 1912, Sp. 313).

Die sozialdemokratischen Zeitungen erhielten vom Parteivorstand die Anweisung, das Interview zu dementieren, und selbst die „Leipziger Volkszeitung", zu dieser Zeit noch ein Organ des radikalen Flügels der Partei, folgte dieser Aufforderung.

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