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Karl Liebknecht 19130108 Gegen opportunistische Mandatsschacherei

Karl Liebknecht: Gegen opportunistische Mandatsschacherei

Diskussionsrede zu den bevorstehenden Landtagswahlen und dem Wahlrechtskampf in Preußen

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 6. bis 8. Januar 1913, Berlin 1913, S. 283-286. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 3-8]

Landsberg hat sich gestern redliche Mühe gegeben, die Resolution1 misszuverstehen, damit freie Bahn zu schaffen für das Chaos, das er wünscht. Es ist nicht angängig, einzelne Fälle künstlich zu konstruieren, die theoretisch einmal eintreten könnten, und daran die Unbrauchbarkeit der Resolution darzutun, deren Aufgabe es selbstverständlich nur ist, die großen Grundlinien unserer Taktik festzulegen, die also nicht gefasst werden kann nach möglicherweise eintretenden Ausnahmen in einzelnen Kreisen, sondern nur nach dem Allgemeinen, Regelmäßigen.

Es ist nicht richtig, dass wir nach A 2 genötigt seien, einem Zentrumsmann den Vorzug zu gewähren vor anderen Leuten, denn die Resolution fordert die Zustimmung des Geschäftsführenden Ausschusses und spricht nur von der Berechtigung, für gewisse Kandidaten einzutreten.

Auch die gegen B 2 vorgebrachten Bedenken greifen nicht durch, denn B 2 fällt unter B 3: Es ist bei der Beratung in der Landeskommission ohne Widerspruch darauf hingewiesen worden, dass selbstverständlich auch Wahlkreise mit mehreren Mandaten als Austauschobjekte in Frage kommen können. Damit erledigt sich nach meiner Ansicht durchaus der Einwand, der aus den speziellen Breslauer Verhältnissen erhoben worden ist.

Schließlich die Bedenken gegen B 4: Diese Bestimmung stellt ja doch nur die Voraussetzung auf, dass sich die betreffenden Kandidaten für die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen erklären. Sollen wir denn nicht einmal diese Bedingungen stellen dürfen? Nach meiner Ansicht ist sie geradezu eine unbedingte Notwendigkeit. Wir würden gegnerische Kandidaten nur unter der Voraussetzung durchfallen lassen, dass sie nicht einmal so weit gehen, eine derartige Bedingung zu unterschreiben. Die Freisinnigen werden sich sämtlich auf A 2 festlegen können; wenn es nationalliberale Kandidaten nicht tun, dann fallen sie eben durch. Sollen wir denn unsere Bedingungen auf diese Sorte Nationalliberale einrichten? Davon kann doch keine Rede sein, nachdem dargetan ist, dass die Nationalliberalen wahrlich nicht wesentlich besser sind als das Zentrum und die Konservativen. („Sehr wahr!") In einem Moment, wo wir wahrlich keine Veranlassung haben, einen Pflock zurückzustecken, wo wir unser ganzes Ziel ins Auge fassen und mit aller Kraft vorwärts stürmen sollen, da sollten wir unsere Bedingungen danach einrichten, dass wir irgendwelchen nationalliberalen Homunkulus vielleicht in den Landtag hineinbringen? (Heiterkeit.) Das würde zwecklos und unserer Aufgabe jedenfalls nicht dienlich sein.

Wenn Landsberg schließlich gemeint hat, aus taktischen Gründen hätte Hirsch seinen Pessimismus nicht aussprechen sollen – nun dieser Pessimismus bezog sich ausschließlich auf die jetzt bei den Wahlen zu erzielende Zusammensetzung des Landtages, nicht aber auf die Frage, ob wir unser Ziel erreichen werden. Darüber, dass wir es erreichen werden, sind wir uns alle klar, darüber debattieren wir gar nicht. (Zustimmung.) Es handelt sich ausschließlich darum, ob der Versuch, jetzt durch die Wahlen eine andere Mehrheit im Abgeordnetenhause zu erzielen, als geeignetes Mittel dazu angesehen werden kann. („Sehr richtig!") Es ist doch der helle Wahnsinn, und es erinnert an die Geschichte vom Münchhausen, der sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf herauszieht, zu glauben, wir sollten mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechts die Dreiklassenmehrheit im Abgeordnetenhaus jemals stürzen können. Das ist ausgeschlossen. Wir müssen uns vollkommen klar sein, dass der entscheidende Schlag geführt wird außerhalb des Parlaments. (Zustimmung.)

Wir haben doch auch nicht nur mit der Dreiklassenmehrheit des Abgeordnetenhauses zu tun. Selbst wenn wir allen Illusionen recht geben und an eine Wahlrechtsmehrheit im Abgeordnetenhause glauben, so gibt es ja noch das Herrenhaus und Seine Majestät. („Sehr wahr!") Wer hat sich denn nicht einmal abfinden können mit jener jämmerlichen Flickreform, die 1910 vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurde? Wer hat noch ganz beträchtliche Verschlechterungen da hineingebracht? Das Herrenhaus! Glauben Sie denn, das Herrenhaus aus den Angeln heben zu können mit irgendwelchen parlamentarischen Mitteln, mit irgendwelchen Schachereien? Davon ist keine Rede. Dass da nur der außerparlamentarische Kampf entscheidet, darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben.

Wenn die sechs Sozialdemokraten im Abgeordnetenhaus einen solchen Einfluss gewonnen haben, dass sich die Verhandlungen fast ausschließlich um die Sozialdemokratie drehen, so haben sie diesen Einfluss nicht gewonnen, weil es sechs sind, sondern nur, weil die gewaltige außerparlamentarische Macht hinter ihnen steht. („Sehr richtig!") Und so sehr das wahr ist, so sicher werden wir mit dieser immer weiter wachsenden Macht auch das heute herrschende Wahlsystem aus den Angeln heben. Ist denn die Wahlrechtsfrage durch parlamentarische Erfolge ins Rollen gekommen oder dadurch, dass 1908 der Wille des Proletariats in eindrucksvollen Demonstrationen zum Ausdruck gebracht wurde? (Zustimmung.) Gerade nach dieser Vorgeschichte der Wahlreform ist es klar, dass wir nur mit solchen Mitteln unser Ziel erreichen können.

Wenn wir jetzt eine Resolution fassen, so soll sie klar sein. Wir können uns nicht zu einem politischen Nihilismus bekennen, der sagt, Resolutionen werden nur gefasst, um nicht gehalten zu werden, und diejenigen Resolutionen sind die besten, die keinen Inhalt haben. Wir wollen eine Resolution, die klare Richtlinien gibt und die unserer Taktik bei Verhandlungen mit anderen Parteien eine geeignete, feste Basis schafft. Wenn Landsberg und andere darauf hingewiesen haben, dass wir – nach der Resolution der Landeskommission – um sozialdemokratischer Mandate willen bereit seien, unter Umständen Konservativen in den Sattel zu helfen, so möchte ich doch darauf hinweisen, dass hierbei vollständig verkannt wird einmal der Wert eines sozialdemokratischen Mandats, das eben nicht nur ein Mandat ist, und zweitens, dass uns dabei zugemutet wird, uns zwar nicht zu begeistern für sozialdemokratische Mandate, aber für liberale, was mir mindestens ebenso widersinnig erscheint.

Sollen wir aus den vorgebrachten Gründen uns bewegen lassen, allerhand politischen Halbheiten in den Landtag zu verhelfen? Tatsache ist jedenfalls, dass wir nicht imstande sind, uns gewaltsam irgendeine Situation zu verschaffen, die uns ermöglicht, mit anderen Parteien zusammenzugehen, wenn solche Parteien nicht da sind! („Sehr gut!") Wir können doch nicht künstlich, wie Bernstein vorschlägt, den Freisinn groß päppeln, damit wir dann etwas haben, um es zu unterstützen. Soweit er nicht lebensfähig vorhanden ist, ist mit ihm nicht zu rechnen, sondern nur soweit er auf eigenen Füßen steht und mit uns eine Strecke Wegs marschieren kann und will.

Es muss daran erinnert werden, dass die sozialdemokratischen Mandate im Abgeordnetenhause nicht parlamentarische Mandate in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes sind, sondern etwas vollkommen anderes! Wir schicken doch nicht sozialdemokratische Abgeordnete in dieses Pseudoparlament, damit sie es durch parlamentarische Mitarbeit im üblichen Sinne arbeitsfähig und nützlich machen – das ist unmöglich! –, sondern als geschworene Feinde des Dreiklassenhauses mit der Aufgabe, es von innen zu unterminieren. (Lebhafte Zustimmung.) Es handelt sich darum, möglichst viele solcher geschworenen Feinde in das Dreiklassenhaus hinein zusenden Da können uns Dutzende von Freisinnigen nicht dieselben Dienste leisten wie ein Sozialdemokrat. Es müssen daher alle Mittel und Wege benutzt werden, um gerade möglichst viele Sozialdemokraten hineinzubringen, um zu erreichen, dass die Zahl der geschworenen Feinde innerhalb der Festung des Junkertums eine möglichst große und dass die Armee, die die Festung berennt, eine möglichst starke, energische, zielbewusste, opferbereite sei. (Zustimmung.)

Wir dürfen uns bei diesen Diskussionen nicht durch die Verkniffenheit des preußischen Wahlrechts verwirren lassen, die uns allerhand kleinliche Rechnungsträgereien und Erwägungen aufzuzwingen sucht. Wir dürfen uns nicht abbringen lassen von der Überzeugung, dass dasjenige, was schließlich doch den Ausschlag geben wird, die Begeisterung, die leidenschaftliche Kampfbereitschaft des kämpfenden Proletariats sein wird. Es ist eine phantastische Einbildung zu wähnen, dass wir den Junkern heute mit Hilfe von Mandatsschachereien das preußische Wahlrecht verekeln könnten. Wir könnten das nicht anders, als wenn wir sie wieder zur machtlosen Minderheit im Abgeordnetenhaus verdammen würden, wie sie es zu der Zeit waren, wo sie jene von Landsberg erwähnten heftigen Angriffe auf das Dreiklassensystem richteten. Diese Zeiten aber sind infolge der Bevölkerungsverschiebung, infolge der veränderten sozialen Struktur dahin, ein für allemal dahin. So kommen wir nicht zum Ziele.

Die Resolution der Landeskommission geht so weit wie irgend möglich („Sehr wahr!"), bis an die äußerste Grenze. Sie gestattet selbst den Nationalliberalen, an denen auch nur ein gutes Haar ist, Hilfe zu leisten. Weiter aber dürfen wir nicht gehen.

Nehmen Sie die Resolution möglichst mit Einstimmigkeit an, um damit zugleich zu demonstrieren, dass der Wahlrechtskampf in erster Linie die Sache des Proletariats bleibt, das zu den größten Opfern und leidenschaftlichen Kämpfen bereit ist.2 (Lebhafter Beifall.)

1 Es handelt sich um eine Grundsatzerklärung der preußischen Landeskommission für die Taktik der Sozialdemokratie bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus. Sie bezog sich im Teil A auf die Urwahlen, im Teil B auf die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner.

Die Absätze, auf die sich Karl Liebknecht bezieht, lauteten:

A 2. Wo sozialdemokratische Wahlmänner nicht aufgestellt werden können, sind die Genossen nur mit Genehmigung des Geschäftsführenden Ausschusses der Landeskommission berechtigt, für bürgerliche Wahlmänner zu stimmen, vorausgesetzt, dass deren Abgeordnetenkandidaten spätestens fünf Tage vor den Urwahlen schriftlich zu Händen des sozialdemokratischen Wahlkomitees erklärt haben, dass sie für den Fall ihrer Wahl in jeder Session im Abgeordnetenhause die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen sowie eine Neueinteilung der Wahlkreise auf Grund der Ergebnisse der letzten Volkszählung beantragen oder für solche Anträge stimmen werden, wenn sie von anderer Seite gestellt werden.

B 2. Gibt die Sozialdemokratie in Landtagswahlkreisen mit mehr als einem Abgeordneten bei der Stichwahl den Ausschlag, so hat sie die Abtretung eines Mandats zu fordern. Wird diese Forderung bewilligt, so stimmen die sozialdemokratischen Wahlmänner schon im ersten Wahlgang außer für einen sozialdemokratischen Kandidaten für die Kandidaten der betreffenden bürgerlichen Parteien. Wird diese Forderung nicht bewilligt, so stimmen die sozialdemokratischen Wahlmänner im ersten Wahlgang nur für ihre Kandidaten und enthalten sich bei der Stichwahl der Stimme.

B 3. Mit Genehmigung der Landeskommission können die sozialdemokratischen Wahlmänner schon im ersten Wahlgang für bürgerliche Kandidaten stimmen, falls als Gegenleistung in bestimmten anderen Wahlkreisen bürgerliche Wahlmänner schon im ersten Wahlgang für sozialdemokratische Kandidaten stimmen.

(Protokoll des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 6. bis 8. Januar 1913, Berlin 1913, S. 167/168.) Die Red.

2 Obwohl die Resolution der Landeskommission von opportunistischer Seite heftig angegriffen worden war, wurde sie einstimmig angenommen. Die Red.

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