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Karl Liebknecht 19131007 Nach dem Jenaer Parteitag

Karl Liebknecht: Nach dem Jenaer Parteitag

Aus einem Zeitungsbericht über die Generalversammlung des Sozialdemokratischen Wahlvereins des VI. Berliner Reichstagswahlkreises

[Vorwärts Nr. 264 vom 9. Oktober 1913. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 395 f.]

Ich möchte mich mit wenigen Worten gegen die Lösung der polnischen Frage wenden, wie sie der Parteitag beliebt hat. Die Frist, die gesetzt wurde, um ein Ineinanderleben der Polen mit der allgemeinen Organisation herbeizuführen, ist zu knapp bemessen.

Den Ausführungen Daszinskis stimme ich zu. Auch ich bedaure den Ausgang des Falles Radek1. Der Fall war und sollte in seinen Einzelheiten nicht erörtert werden. Der Parteitag hat aber über das Materielle ein Urteil gefällt, ohne den Fall zu kennen. Besonders die Stigmatisierung Radeks durch Müller trug dazu bei, dass einem Beschluss rückwirkende Kraft verliehen wurde.

In der Steuerfrage weiche ich von der Anschauung Ledebours ab. Die Erörterung war mit die unerquicklichste des Parteitages. Die theoretische Diskussion wurde völlig von der taktischen erdrückt. Eine einzigartige Erscheinung war die völlige Übereinstimmung von Referat und Koreferat Beide, die mehr als vier Stunden ausfüllten, und das Schlusswort hinzugenommen, einschließlich der Debattenredner, gaben somit der Fraktionsmehrheit sieben Stunden Zeit, ihren Standpunkt darzulegen, während die Minderheit knapp zwei Stunden zur Verfügung hatte. Das musste zu einem Theatererfolg der Mehrheit führen.

Ich gehöre zur Minderheit und stehe doch auf dem Boden der Wurmschen Resolution, weil sie durchaus auf gleicher Basis mit der Nürnberger Resolution2 steht und keineswegs einen Schritt zur Budgetbewilligung bedeutet. Eine Verweigerung der Deckung hätte im vorliegenden Fall nicht die Durchführung der Militärvorlage verhindert. Diese wäre eventuell unter Etatbruch durchgesetzt worden.

Wir haben eine Angstmeierei wegen der drohenden Reichstagsauflösung durchzumachen gehabt. Die Mandate, die auf schwachen Füßen stehen, sind ein Bleigewicht in allen ernsten Fragen und sind in solchen Augenblicken mehr von Übel, als sie sonst nützen.

In der Frage des Massenstreiks stehe ich vollkommen auf gleichem Boden mit Ledebour. Die Resolution des Parteivorstandes sucht geradezu ihrer ganzen Tonart nach mies zumachen Das trat insbesondere auch in den Reden hervor. Aber leider erstreckt sich auch das Miesmachen auf die preußische Wahlrechtsfrage, und das ist überaus betrübend. Hängt diese Frage nicht mit der Reichspolitik aufs Innigste zusammen? Auch die Frage der Arbeitslosenfürsorge und die der Niederwerfung aller Reaktion sind eng verknüpft mit der Wahlrechtsfrage. Die Resolution des Parteivorstandes bedeutet eine Diskreditierung der Massenstreikfrage. Wir aber wollen eine Förderung. Die preußische Wahlrechtsfrage ist die Zentralfrage, um die wir alles einzusetzen bereit sein müssen. Dazu ist nötig, den Willen zum Massenstreik zu wecken und zu stärken.

1 Auf dem Jenaer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1913 wurde der polnische Sozialdemokrat Karl Radek, der seit einer Reihe von Jahren auch in Deutschland als sozialdemokratischer Publizist tätig war, auf Antrag des Parteivorstandes aus der deutschen Sozialdemokratie ausgeschlossen, weil ihm zuvor die Mitgliedschaft in der polnischen Sozialdemokratie aberkannt worden war. Karl Liebknecht bekämpfte diese Entscheidung gegen Radek. Er vertrat damit zugleich die Ansichten des linken Flügels in der polnischen Partei, der Radeks Ausschluss überhaupt für ungerechtfertigt hielt. Auch Lenin unterstützte die Revision des polnischen Ausschlussverfahrens. Bereits vor dem Jenaer Parteitag hatten sich 48 bekannte deutsche Sozialdemokraten, darunter Karl Liebknecht, Franz Mehring, Wilhelm Pieck, Käte und Hermann Duncker und Fritz Westmeyer, in einer Erklärung in der sozialdemokratischen Parteipresse gegen den geplanten Ausschluss Radeks ausgesprochen.

2 Es handelt sich um die Resolution des Parteivorstandes und der Kontrollkommission zur Budgetbewilligung:, die auf dem Nürnberger Parteitag 1908 mit 258 gegen 119 Stimmen angenommen wurde. In ihr wurde verlangt, „jeder gegnerischen Regierung das Staatsbudget… zu verweigern, es sei denn, dass die Ablehnung desselben… die Annahme eines für die Arbeiterklasse ungünstigeren Budgets zur Folge haben würde." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908, S. 189.) Die Red.

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