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Karl Liebknecht 19131100 Politischer Kirchenboykott

Karl Liebknecht: Politischer Kirchenboykott1

[Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Archiv. Außenstelle Wilhelm-Ostwald-Archiv, Großbothen, Fotokopie. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 399-401]

Religion und Kirche sind zweierlei. Sie sind nicht nur zweierlei, sondern oft schroffe Gegensätze. Das gilt besonders von der christlichen Religion und der christlichen Kirche, sofern man es mit den grundlegenden christlichen Lehren halbwegs ernst nimmt. Die katholische Kirche allerdings hat die kirchlichen Einrichtungen mit raffinierter Geschicklichkeit zu einem Teil des konfessionellen Dogmas erklärt. Die evangelisch-protestantischen Kirchen haben zumeist den Versuch einer derartigen Vergewaltigung der religiösen Konfession durch die kirchliche Organisation nicht unternommen, so dass den evangelisch-protestantischen Gläubigen die Zugehörigkeit zur kirchlichen Organisation nicht einmal durch ein willkürlich fabriziertes Dogma als Pflicht angesonnen ist. Die christlichen Kirchen sind heute in Deutschland wie anderwärts in erster Linie politische Einrichtungen. Kirche und Staat sind versippt und verschwistert. Beide erblicken ihre Hauptaufgabe in der Aufrechterhaltung der bestehenden politischen und sozialen Zustände.

Geht man von diesen, jedem Sozialdemokraten geläufigen Gemeinplätzen aus, so ergibt sich, dass der Kampf gegen die Kirche kein Kampf gegen die Religion ist und gerade das Gegenteil sein kann. Gewiss kann der Kampf gegen die Kirche auch als Religionskampf, als Weltanschauungskampf geführt werden. Das gilt von dem freireligiösen und freidenkerischen Kampf. Nichts aber leichter, als die Kirche rein politisch zu bekämpfen. Dazu ist nur nötig, die Glaubensfragen gänzlich unberührt zu lassen und ausschließlich den politischen Charakter der Kirche zu betonen, der für jeden offen zutage liegt.

Boykott der Landeskirche durch Boykott der Kircheneinrichtungen, vor allem durch Austritt aus der Landeskirche, könnte selbst von Partei wegen unter zwei Kategorien der Kirchenmitglieder propagiert werden, ohne gegen das Parteiprogramm zu verstoßen, ohne irgendwelche religiösen Auffassungen zu berühren, geschweige denn zu verletzen. Einmal unter den bereits innerlich mit der Kirche und der Konfession Zerfallenen, deren Verbleiben in der kirchlichen Organisation auch vom Standpunkt der Religion und selbst der Kirche nur einen Widersinn und eine Heuchelei bedeutet. Sodann unter denen, die mit der Konfession nicht gebrochen haben, aber gerade deshalb umso mehr der Kirche als einer politischen Institution der herrschenden Klassen gegensätzlich gegenüberstehen müssen. Zu den letzteren gehören alle vom Kapitalismus, auch des echt preußischen Kalibers, Ausgebeuteten, alle von Kirche und Staat, den Werkzeugen dieses Kapitalismus, gemeinsam Unterdrückten. Die ganze große Masse der Bevölkerung kann von einer politischen Kirchenaustrittsbewegung erfasst werden.

Kirchenaustritt heißt zugleich Steuerverweigerung gegenüber der Kirche, und zwar die bequemste Steuerverweigerung, die sich ausdenken lässt. Schwächung der kirchlichen Organisation heißt zugleich Schwächung des Staates und der herrschenden Klassen. Dem Stiefvater Staat ist es beileibe nicht gleichgültig, wenn's der Stiefmutter Kirche ans Leder geht.

Ein bequemeres Machtmittel kann es für das kämpfende Proletariat nicht geben als den politischen Kirchenboykott, den politischen Kirchenaustritt. Es ist noch nicht systematisch angewandt, so sehr der obige Gedankengang an und für sich jedem Sozialdemokraten in Fleisch und Blut übergegangen ist, auch längst nebenher in Presse und Versammlungen täglich gepredigt wird. Seine systematische Anwendung kann dem herrschenden Regime fatal genug werden. Es ist nicht unwichtig, dass die Propaganda zum Beispiel gerade im preußischen Wahlrechtskampf systematisch dahin gerichtet wird. Die Partei braucht das, wenn es auch bei Innehaltung der gezeigten Richtlinien möglich wäre, nicht zu tun. Es können sich freie Ausschüsse für den politischen Kirchenboykott bilden, die die erforderliche Arbeit in die Hand nehmen. Es gibt aber auch viele andere Möglichkeiten. Versammlungen zum Beispiel mit dem Thema „Der politische Kirchenboykott als Waffe im Wahlrechtskampf" oder „Der Massenstreik gegen die Staatskirche", und entsprechende Flugblätter werden ihre Wirkung nicht verfehlen, das beweisen die bisherigen Versuche. Den Freidenkern und ähnlichen Organisationen bleibt es unbenommen, auf eigene Faust ihre Propaganda weiter zu treiben. Für mich handelt es sich hier um eine von diesen Weltanschauungsbewegungen wesensverschiedene, um eine durchaus und rein politische Bewegung mit einem rein politischen Ziel.

1 Karl Liebknecht schrieb diesen Artikel vermutlich Oktober/November 1913, als er in mehreren Versammlungen für den Kirchenaustritt eintrat und dabei auch mit der bürgerlichen Freidenkerbewegung und dem Deutschen Monistenbund zusammenarbeitete. Dem Artikel war folgender Begleittext vorangestellt: „Nachfolgender Artikel wird zu gefälligem Nachdruck empfohlen. Ein Honoraranspruch wird nicht erhoben. Es steht Ihnen auch frei, ob Sie den Verfasser nennen oder nicht. Belegexemplare erbeten.

Mit Parteigruß

Dr. Karl Liebknecht,

Berlin-Lichterfelde."

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