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Karl Liebknecht 19130916 Über den Massenstreik

Karl Liebknecht: Über den Massenstreik

Reden auf dem SPD-Parteitag in Jena in der Debatte über den Bericht des Parteivorstandes und zur Begründung des Antrages 1001

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1915, S. 301-304, 335. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 383-388]

I

Parteigenossen, ich rufe Erinnerungen wach. Nicht allen fällt es leicht, so rasch umzulernen. Im Jahre 1910, als der preußische Parteitag über die Wahlrechtsfrage beriet, da waren nicht nur die Delegierten, da war die ganze Partei der Auffassung: die Erringung eines freien Wahlrechts für Preußen ist kein Pappenstiel, ist keine Nebensächlichkeit, sondern ist und bleibt die brennendste, dringendste, die zentrale politische Frage in Deutschland. In diesem Sinne haben sich auch deutsche Parteitage festgelegt. Wer sich der Stimmung auf den Preußentagen erinnert, wer weiß, mit welcher Leidenschaftlichkeit der preußische Wahlrechtssturm propagiert worden ist, wer weiß, wie im Jahre 1910, in einer glorreichen Epoche des proletarischen Kampfes, die deutsche, die preußische Sozialdemokratie auf die Straße gegangen ist und im Handumdrehen, was man für unmöglich gehalten hatte, sich das Recht auf die Straße eroberte, in der Überzeugung, es handle sich hier um eine Lebensfrage, um einen unausbleiblichen Kampf bis aufs Letzte – wer sich dessen entsinnt und nun heute hier hört, dass das preußische Wahlrecht eigentlich gar nicht so wichtig ist, dass es eigentlich einen allzu ernsten Kampf gar nicht lohnt – ja, Parteigenossen, ich kann nicht so rasch umlernen, und ich weiß, dass draußen von den Genossen viele auch nicht so rasch umlernen können. („Sehr richtig!") Das ist der Grund, weshalb, nachdem die letzten Landtagswahlen alle Hoffnungen auf eine anderweitige Regelung der preußischen Wahlrechtsreform vernichtet haben, der Ruf nach dem Massenstreik spontan aus den Massen herausgekommen ist, aus den Massen trotz alledem.

Es kommt wahrlich nicht darauf an, wer das erste Wort gesprochen hat in einer solchen Sache, es kommt auf die Resonanz an. Wenn manche Massenstreikversammlungen nicht so besucht gewesen sind, so beweist das nichts. Das Bedürfnis, sich über das Problem auszusprechen, war über das ganze Land verbreitet. Der Gedanke, dass man sich überlegen muss, dass man zu energischen Mitteln greifen muss, wenn es darauf ankommt, beherrscht die weitesten und gewiss nicht die schlechtesten Kreise der Arbeiterschaft.

Es ist nicht gut, wenn man heute die Sache so hinstellt, als seien diejenigen, die nach dem Massenstreik rufen, Revolutionsphraseure. Die ganze Situation, wie sie sich nach dem resultatlosen Verlauf der letzten Landtagswahlen ergab, forderte geradezu eine ausführliche Diskussion über die nunmehr noch möglichen und nötigen Mittel heraus. Und nicht aus irgendeiner Laune irgendeines Akademikers, sondern aus dieser Gesamtsituation heraus ist der Ruf nach dem Massenstreik ertönt.

Allerdings ist die Diskussion in eine unglückliche Zeit gefallen. („Sehr richtig!") Aber sie musste kommen, ist mit Naturnotwendigkeit gekommen. Dass sie in die unglückliche Zeit der Krise gefallen ist, darf keinen Grund abgeben, diese aus den innersten Bedürfnissen des proletarischen Kampfes herausgewachsene Diskussion so zu verhöhnen, mit solcher Wollust geradezu zu diskreditieren, wie das systematisch geschehen ist und geschieht. Das muss ich auch den Genossen Scheidemann und Bauer zum Vorwurf machen.

Ich weiß ganz genau, dass über die Schnur gehauen worden ist auch von solchen, die man hier als Massenstreikfanatiker verschrien hat. Ich unterstreiche gewiss nicht alles, was da geredet und geschrieben worden ist. Aber wie konnte Genosse Scheidemann in seiner gestrigen Rede in so unfreundlichen Tönen, um mich sehr zart auszudrücken, gegen die Anhänger einer Diskussion des Massenstreiks polemisieren! Wie ist es möglich, dass er die begeisterten Befürworter einer Fortführung und Steigerung des preußischen Wahlrechtskampfes, die in erster Linie das Wort geführt haben in der Diskussion über den Massenstreik, als Phraseure verspottet und nach allen Regeln heruntergerissen hat. (Scheidemann: „Ist mir gar nicht eingefallen!")

Schon diese Diskreditierung der Massenstreikanhänger durch die Genossen Scheidemann, Bauer und andere Diskussionsredner müsste dazu Veranlassung geben, sich die Parteivorstandsresolution genau anzusehen und mit einem gewissen Misstrauen zu interpretieren. Die Parteivorstandsresolution soll angeblich das Bekenntnis zum Massenstreik erneuern. Dies Bekenntnis zum Massenstreik braucht an und für sich nicht erneuert zu werden. Das Bekenntnis zum Massenstreik ist abgelegt in Jena und in Mannheim. Die Resolution des Parteivorstandes enthält aber etwas, was sie durchaus ungenießbar macht, das ist der Hinweis auf die Notwendigkeit einer „vollkommenen Einigung aller Organe der Arbeiterbewegung"2. („Hört! Hört!") Eine solche „vollkommene Einigung" wird sich schwerlich jemals durchführen lassen. Wenn das Voraussetzung für den Massenstreik wäre, dann hätte es noch niemals einen Massenstreik gegeben. Es liegt in dieser Formulierung erkennbar die Tendenz, den Massenstreikgedanken zu lähmen, nicht aber zu fördern.

Ebenso verstehe ich nicht, wie in der Resolution des Parteivorstandes gerade hier besonders prononciert gefordert wird „für die letzten Ziele der Sozialdemokratie begeisterte, zu jedem Opfer bereite Massen". Das muss gerade bei diesem Anlass höchst verwunderlich erscheinen, wo es sich um eine demokratische, noch keine rein proletarische Forderung handelt, bei der in gewissem Umfang auf Sukkurs sogar von nicht proletarischer Seite zu rechnen ist.

Diese beiden Stellen der Vorstandsresolution zeigen deutlich genug, dass man der Massenstreikdiskussion Handschellen anlegen will, nicht nur für heute, sondern auf die Dauer. Diese Tendenz ist in den Ausführungen von Scheidemann und Bauer deutlich hervorgetreten. Wenn diejenigen, die sagen, wir wollen den Massenstreik, andererseits sagen, wir wollen nicht Worte, sondern Taten, was wollt ihr mit euren Worten – nun ich behaupte, dass sowohl Genosse Scheidemann wie auch andere, die sich als angebliche Anhänger des Massenstreiks bezeichnen, nur mit dem Worte Anhänger, aber im tiefsten Innern Gegner des Massenstreiks sind. Ihre Polemik richtet sich durchaus gegen den Massenstreikgedanken an sich.

Wenn die Bedenken, die Scheidemann und Bauer haben, alle zutreffen, und ebenso die Bedenken Bernsteins, den ich heute gar nicht wiedererkenne3 („Sehr wahr!"), dann ist ein Massenstreik innerhalb der Gesamtentwicklung auf alle absehbare Zeit hinaus überhaupt ein Unsinn, ein Unding, und wir brauchen überhaupt keine Resolution zu fassen.

Unsere Resolution ist keineswegs nur eine Zusammenstellung von klingenden Redensarten. Sie unterscheidet sich von der Parteivorstandsresolution einmal dadurch, dass jene bedauerlichen Wendungen der Parteivorstandsresolution fehlen, sodann dadurch, dass sie zu der Erörterung über den Massenstreik eine freundliche Haltung einnimmt, sie begrüßt, weil sie hervorgegangen ist aus dem revolutionären Bedürfnis der Massen, aus ihrem treuen Glauben an die Stetigkeit des taktischen Willens der Partei, der noch vor zwei Jahren heiliggehalten wurde innerhalb der ganzen Partei, aus dem Verlangen nach dieser Stetigkeit im rücksichtslosen Kampf – bis zur Niederzwingung des Feindes. Es wird die Popularität dieses Gedankens begrüßt, weil wir darin die Gewähr erblicken, dass der Massenstreik mehr und mehr lebendig wird. Resolutionen allein genügen nicht.

Es ist ganz verkehrt, wenn Bauer sagt: Wozu reden wir über dergleichen Sachen, der Massenstreik wird schon im rechten Moment von uns gemacht werden. Nein, damit der Massenstreik in diesem Sinne „gemacht" werden kann, und wenn er nicht als wilder Streik zum Ausbruch kommen soll, dann muss er vorher in den Massen in seiner ganzen Bedeutung mit der vollen Verantwortung verstanden werden. („Sehr richtig!") Deshalb bedarf es der Diskussion. Der Gedanke muss lebendig werden in den Massen, und er kann nur lebendig werden im lebendigen Fluss der Diskussion innerhalb der Massen selbst. Ob der heutige Zeitpunkt geeignet ist oder nicht, das kann dabei keine Rolle spielen.

Der Vergleich Scheidemanns von der nicht anwendbaren Waffe4 passt durchaus nicht. Niemand sagt ja, heute soll der Massenstreik angewandt werden. Die Gegner der Arbeiterbewegung wissen genau, dass die Arbeiterschaft auch in der Zeit der Krise Waffen genug in der Hand hat, um sich zu helfen, gegen die feindlichen Anschläge zu helfen und zu wehren. Aber auch in einer Zeit der Not wie gegenwärtig dürfen und müssen wir neue Waffen bereiten für die Zukunft, und diese neuen Waffen, im Wahlrechtskampf vor allem, können nichts anderes sein als schärfere Waffen. Denn die Waffen, die wir bisher angewandt haben, haben nicht genügt. Derjenige, dem es ernst ist mit dem Massenstreik, kann nicht eine solche Hemmungsresolution annehmen, wie sie der Parteivorstand vorschlägt. Er muss eine Resolution annehmen, die auf die Förderung des Massenstreikgedankens hinzielt. In der preußischen Wahlrechtsfrage gibt es für uns auch heute und für alle Zukunft kein Halt, auch kein Zurück, sondern nur ein Vorwärts. (Lebhafter Beifall.)

II

Persönliche Bemerkung

Gegenüber Scheidemann möchte ich folgendes feststellen: Ich habe nicht gesagt, dass die Massenstreikdebatte unzeitgemäß vom Zaun gebrochen sei. Ich habe vielmehr darzulegen versucht, dass sie unumgänglich war, mit psychologischer Notwendigkeit aus der ganzen Situation heraus zum Ausbruch kommen musste, ich habe aber gleichzeitig mein Bedauern ausgesprochen, dass diese so notwendig entstandene Debatte allerdings in eine ungünstige Zeit gefallen ist, in eine Zeit der wirtschaftlichen Depression.

Scheidemann behauptet weiter, ich hätte ihn als ein boshaftes Luder (Heiterkeit.) bezeichnet, wenn auch mit etwas anderen Worten. Davon ist gleichfalls nicht die Rede. Ich habe nur aus der ganzen Art seiner Ausführungen, die auf eine Art Miesmachen gegen den Massenstreik, auf ein Massenstreikmiesmachen (Heiterkeit.) hinausliefen, geschlossen, dass, obwohl sein Mund sich zum Generalstreik bekennt, sein Geist unterhalb der Bewusstseinsschwelle und sein Herz nicht beim Generalstreik sind, dass er innerlich ein Feind des Massenstreiks sei. Ich bekenne, dass die letzten Ausführungen Scheidemanns in dieser Beziehung etwas erfreulicher gelautet haben. Nach der Schamade hat er jetzt eine Fanfare ertönen lassen, aber ich bin nicht in der Lage, das, was ich vorher gesagt habe, zurückzunehmen.

Wenn Scheidemann gesagt hat, wir forderten mit dieser Resolution den wilden Massenstreik (Unruhe und Rufe: „Das ist nicht persönlich!"), so habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Diskussion notwendig sei, um wilde Massenstreiks zu verhüten. In unserer Resolution sollen die Instanzen nicht ausgeschaltet sein, sondern sie sind ausdrücklich in ihrer Kompetenz erwähnt.

1 Resolution 100, Luxemburg und Genossen: „Im Antrage 94 (Massenstreik) die Absätze 2 bis 4 zu ersetzen durch:

Die Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Gegensätze in Deutschland nötigt das Proletariat zur Entfaltung immer größerer Macht für die Verteidigung gegen heimtückische Anschläge der herrschenden Klassen, für die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage und die Erweiterung seiner politischen Rechte. Im Kampf gegen die politische Entrechtung ist das Proletariat immer mehr gezwungen, die höchste Energie zu entfalten. Dieser Kampf gipfelt in dem Kampf um das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu allen Vertretungskörpern, dessen Eroberung eine Vorbedingung für den Befreiungskampf des Proletariats ist. Der jetzige Zustand der politischen Rechtlosigkeit des Proletariats, insbesondere in Preußen, der seinen deutlichsten Ausdruck im Dreiklassenwahlrecht findet, hemmt das Proletariat in allen seinen Bestrebungen auf Verbesserung seiner Lebenshaltung. Es macht die schlimmsten Feinde gewerkschaftlicher Betätigung und sozialen Fortschritts zum Beherrscher der Gesetzgebung, nicht nur in Preußen, sondern im ganzen Reiche.

Dieses schändliche Wahlrecht kann nur einem Wahlrechtssturm der großen Massen weichen, wie ihn der preußische Parteitag vom Januar 1910 in Aussicht genommen hat.

Der Parteitag begrüßt das wieder erwachte Interesse weiter Parteikreise an der Frage des politischen Massenstreiks. Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung eines politischen Massenstreiks ist die möglichst vollkommene Organisation des Proletariats in politischer und wirtschaftlicher Beziehung und die Erfüllung dieser Organisation mit revolutionärer Kampfbegeisterung und Opferbereitschaft. Der Parteitag macht deshalb den Parteigenossen zur Pflicht, unermüdlich für den Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisation und für die Verbreitung der Partei- und Gewerkschaftspresse zu wirken. Der Massenstreik kann jedoch nicht auf Kommando von Partei- und Gewerkschaftsinstanzen künstlich herbeigeführt werden. Er kann sich nur als Steigerung einer bereits im Fluss befindlichen Massenaktion aus der Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Situation ergeben.

Als Antwort auf die Übergriffe der Reaktion wie als erste Voraussetzung erfolgreicher Massenaktionen ist eine offensive, entschlossene und konsequente Taktik der Partei auf allen Gebieten erforderlich. Nur eine solche Taktik, die den Schwerpunkt des Kampfes bewusst in die Aktion der Massen verlegt, ist geeignet, in den Reihen der Organisierten die Kampfenergie und den Idealismus wachzuhalten sowie die Unorganisierten in wichtigen Augenblicken mitzureißen und für die gewerkschaftliche und politische Organisation dauernd zu gewinnen.

Der Parteitag fordert die Parteigenossen und die Parteiinstanzen auf, alle Maßregeln zu ergreifen, damit das deutsche Proletariat bei den kommenden Kämpfen für alle Fälle gerüstet dasteht." (Protokoll des Parteitages der SPD in Jena 1913, S. 194/195.)

Der Antrag der Linken, für den 142 Stimmen abgegeben wurden, wurde von der Mehrheit des Parteitages abgelehnt.

2 Der entscheidende, von Liebknecht kritisierte Satz lautete: „Der politische Massenstreik kann nur bei vollkommener Einigkeit aller Organe der Arbeiterbewegung von klassenbewussten, für die letzten Ziele des Sozialismus begeisterten und zu jedem Opfer bereiten Massen geführt werden." (Protokoll des Parteitages der SPD in Jena 1913, S. 558.) Die Red.

3 Eduard Bernstein war zwar Opportunist, liebäugelte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aber – ebenso wie andere Opportunisten – mit der Idee von politischen Massenstreiks zur Demokratisierung des Wahlrechts … um eine bessere Grundlage für opportunistische Politik zu schaffen.

4 Scheidemann hatte erklärt, der Parteivorstand habe zur Massenstreikdebatte deshalb nicht Stellung genommen, weil an einen Massenstreik in der gegenwärtigen Situation nicht zu denken sei und man dem Gegner nicht zu sagen brauche: Du, ich habe noch eine Waffe, wenn ich die benutze, dann bist Du verloren. Aber Du kannst ruhig sein, ich kann sie augenblicklich nicht benutzen. Die Red.

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