Karl Liebknecht‎ > ‎1913‎ > ‎

Karl Liebknecht 19130421 Was ist? Was wird sein?

Karl Liebknecht: Was ist? Was wird sein?

[Vorwärts Nr. 95 vom 21. April 1913. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 297-300]

Die Wege des Kapitals sind nicht im Mindesten wunderbar. Mit der gleichen naturgesetzlichen Notwendigkeit, die das Wasser den Berg hinunter treibt, strömt das Kapital an den Ort des höchsten Profits. Ihm moralische Skrupel welcher Art immer ansinnen, hieße dem Wasser zumuten, bergan zu laufen oder dem Felde zuzufliegen.

Aber die Wege des Kapitals sind dennoch wunderbar. Nicht in ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern in ihrer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit. Wir wirkt sich die Kapitalmacht jeweils aus, wie setzt sie sich in soziale oder politische Macht um, die wiederum wirtschaftlich dem Profit nutzbar ist? Verborgene Maulwurfsgänge, geheime, geheimste Kanäle, ein weitverzweigtes unterirdisches Röhrennetz leiten in politische Parteien, die zu einem guten Teil geradezu die Ausgehaltenen gewisser kapitalistischer Interessentengruppen sind, leiten in allerhand scheinbar unabhängige, oft sich höchst idealistisch gebärdende Vereinsorganisationen, leiten vor allem auch in die Presse. Oft auf Schleichwegen, die selbst den Stipendiaten unbekannt sind.

Brutal, robust, voll zynischen Hohns gegen alle Argumente und Methoden einer sozusagen feineren Gesittung, wie der Militarismus selbst, diese konzentrierte, systematisierte Rohheit der Gewalttätigkeit – so ist die Rüstungsindustrie. Ungeheuerlich in ihren Kräften, unersättlich in ihren Ansprüchen, leidenschaftlich in ihrem Profitwillen. Gefüttert mit den sauren Groschen der Armen, die sie in süße Millionen für Geldfürsten wandelt. Umflossen von dem Heiligenschein eines teils philisterhaften, teils marktschreierischen, teils in trüben Spekulationen entarteten „Patriotismus", dessen heuchlerische Verächtlichkeit vielfach so weit geht, dass die Heuchelei aufhört, bewusst zu sein. Und nicht gedeihend bei Glück, Freiheit und Frieden der Völker, sondern bei Zwietracht, Kriegsgefahr, Krieg, die ihre Nahrung bilden: Je mehr Völkerhass, um so mehr Profit! Durch ihr innerstes Wesen international, weit über alle Landesgrenzen hinaus solidarisch im Interesse an der gegenseitigen Verhetzung der Völker, die innere und äußere Skrupellosigkeit des Kapitalismus übergipfelnd. Und voll Interesse gerade an einem bestimmenden Einfluss auf die Politik, vor allem auf die äußere, auf die Staatsgewalt und alle politischen Machtfaktoren, durch die das heillose Feuer des Völkerhasses geschürt, der „Gefahr" friedlicher Entwicklung entgegengewirkt werden kann, die aber gleichzeitig die höchst opulenten Auftraggeber sind.

Kein Band irgendwelcher moralischer Rücksicht könnte fest genug sein, um die von solcher Psychologie vorangetriebenen wilden, eigensüchtigen Profitinstinkte des Rüstungskapitals zu hemmen. Jeder Damm wird überflutet, den nicht Geschäftsklugheit aufrichtet.

Die Erfahrung bestätigt diese theoretisch selbstverständliche Auffassung. Die Treibereien der englischen Kriegsindustrie sind bekannt, die Pulverring-Skandale1 nicht minder. Vor wenigen Tagen erst ist in Italien Herrn Cresto, dem früheren Präsidenten der italienischen Handelskammer in Paris, gerichtlich bescheinigt worden, dass er während des libyschen Krieges2 zwar bei patriotischen Kundgebungen allen voran glänzte, sich aber zugleich „redlichste" Mühe gab, durch Waffenlieferungen an den türkischen Feind ein gutes Geschäft zu machen.

Und nun: Deutschland in der Welt voran! Freilich, die Skandale um den Panzerplattenkonzern, um Dillingen, das heißt König Stumms Nachfolger, um die Munitions- und Waffenfabriken, um den dreimal gebenedeiten Krupp sind nur Symptome eines allgemeinen Krebsleidens der heutigen Gesellschaftsordnung über alle Staatengrenzen hinaus.

Schwer ist es und fast stets nur durch einen Glückszufall möglich, in das Geheimkabinett des Kapitalismus so hineinzuleuchten, wie es uns in den letzten Tagen und Wochen vergönnt war.

Wütend ballt die Sippe der vaterlandsfeindlichen Patrioten die Fäuste, vor allem über die Aufdeckung des Kruppschen Reptilienfonds.

Krupps Ehre – Deutschlands Ehre! Krupps Schande – Deutschlands Schande! Im Augenblick, wo der schlüssige Beweis erbracht wird, welche furchtbaren Gefahren das gemeinschädliche Treiben der in Glanz und Glück sitzenden Rüstungsindustriellen über die Völker heraufbeschworen hat und heraufbeschwört, wird das Hohelied ihrer patriotischen Leistungen gesungen; und die Macht jener großen Unternehmungen müsste einige Dutzend Mal kleiner sein, als sie ist, wenn nicht bereits an allen Ecken und Enden die Beschwichtigungshofräte, die Verwirrungshandlanger und die Vertuschungskünstler am Werke wären.

Und doch steht alles fest wie ein Fels. Und doch ist das Spiel für jene, trotz aller unlauteren und durchsichtigen Manöver, verloren. Das Selbstverständliche und Pflichtgemäße wird geschehen müssen. Dass es geschieht, ohne Schonung, rücksichtslos und radikal, darüber gilt's zu wachen.

Das erste aber und wichtigste ist: Alle Voraussetzungen für ein friedliches Einvernehmen zwischen Frankreich und Deutschland sind bei gutem Willen gegeben. Die Wehrvorlagen in beiden Ländern bilden das einzige ernste Hindernis, wenn man die künstlich aufgebauschten Episoden von Nancy, Besançon3, Luneville usw. beiseite lässt, die wiederum aus der durch die Heeresvorlagen überhitzten Atmosphäre zu erklären sind. Auch diese Zwischenfälle sind in einer Weise gelöst, wie sie anständiger, vornehmer nicht gedacht werden kann. In beiden Ländern wächst die Abneigung gegen den Rüstungswahnsinn trotz alledem; trotz all der Machinationen der Rüstungsinteressenten und militärischen Karrieristen.

Es gilt, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Die Annäherung an den Gedanken einer maritimen Verständigung mit England hat sich vollzogen. Der psychologische Moment für eine Rüstungsverständigung zwischen Frankreich und Deutschland ist gekommen. Die Völker können und wollen nicht mehr weiter auf der bisherigen Bahn, die im Abgrund endet, enden muss. Am wenigsten, nachdem den Chorführern des Patriotismus die Maske abgerissen ist.

Die Berner Zusammenkunft4 steht nahe bevor. Werden die bürgerlichen Parteien wenigstens zu einem Teil – in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse und jedenfalls im Interesse des Volkes – mitzuarbeiten bereit sein an dem heiligen Werk des europäischen Friedens? Werden die Regierungen, wird die deutsche Regierung, gewarnt und gewitzigt, die Kraft und den Mut finden, um sich loszureißen aus der Umstrickung der alldeutschen Schreier, der Offizierskamarilla, der Krupp und Genossen? Wird sie endlich dem stürmischen Drängen der großen Masse des deutschen Volkes nachgeben und einer Vermittlung zwischen den beiden größten Militärstaaten des europäischen Kontinents zustimmen, deren Ergebnis eine stärkere Sicherung des Weltfriedens, der Sicherheit und Kultur beider Länder sein wird als alle Kanonen von Schneider-Creusot oder Krupp?

1 Der Pulverring, das internationale Sprengstoff-Kartell, zeichnete sich durch außerordentliche Aggressivität aus. Seine Mitglieder erzielten über den Monopolpreis ungeheure Reingewinne. Teilweise kam es deshalb zu ernsten Differenzen zwischen dem Sprengstoff-Kartell und einzelnen Regierungen.

2 Gemeint ist der italienisch-türkische Krieg (September 1911 bis Oktober 1912), in dem Italien die Cyrenaika und Tripolitanien okkupierte. Tripolis wurde am 5. November 1911 als Libyen zur Italienischen Kolonie erklärt. Die Red.

3 Am 14. April 1913 verhöhnten chauvinistisch beeinflusste französische Studenten in Nancy mehrere deutsche Reisende mit Witzeleien und Pfiffen, weil sie in ihnen deutsche Offiziere vermuteten. Zu einem ähnlichen unbedeutenden Vorfall kam es auch in Besançon. Die deutsche Monopolpresse bauschte diese Vorkommnisse maßlos auf, um nationalistische Gefühle zu erzeugen und für die Annahme des Heeresetats und der neuen Heeresvorlage Stimmung zu machen.

4 Am 11. und 12. Mai 1913 fand auf Initiative von Mitgliedern der Schweizer Nationalversammlung in Bern eine sogenannte Verständigungskonferenz deutscher und französischer Parlamentarier statt. Sie sollte dem Kampf gegen die ständig zunehmenden Rüstungen in Frankreich und Deutschland dienen. Der überwiegende Teil der deutschen Teilnehmer, unter ihnen auch August Bebel und Karl Liebknecht, gehörte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an.

Kommentare