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Karl Liebknecht 19130920 Zum Fall Radek

Karl Liebknecht: Zum Fall Radek

Reden auf dem SPD-Parteitag in Jena

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1915, S. 540-542, 545. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 390-394]

I

Ich muss mein lebhaftes Befremden aussprechen, dass Genosse Müller in demselben Augenblick, wo er erklärte, materiell auf den Fall Radek1 nicht eingehen zu wollen, trotzdem Ausführungen gemacht hat, die auf einem Umwege nichts anderes bedeuten als eine solche materielle Erörterung. Er hat auf dem Umweg der Erörterung der Frage, ob Radek der Partei angehöre, Gelegenheit genommen, ihn in vernichtender Weise zu charakterisieren und dabei gleichzeitig über die Bremer Parteiorganisation ein Urteil zu fällen, wie es abfälliger nicht gedacht werden kann und nicht bedauerlicher, besonders aus dem Munde eines Parteivorstandsmitgliedes. (Lebhafte Zustimmung.) Ebenso muss ich tief beklagen, dass Müller die ruhige, sachliche Behandlung der wichtigen Rechtsfrage, die wir zu entscheiden haben (Zuruf: „Das ist keine Rechtsfrage, das ist eine Organisationsfrage!"), dadurch erschwert hat, dass er jenes verhängnisvolle Wort in die Versammlung warf: „Wenn es sich hier um einen Arbeiter handelte, würde nicht soviel Wesens gemacht." (Zuruf: „So ist das auch!") Sie kennen mich doch wohl genug, um zu wissen, dass ich meine Stellung nicht danach einrichte, ob es sich um einen Akademiker handelt oder um einen Arbeiter. Sie wissen, dass ich auf dem vorigen Parteitag Radek scharf angegriffen habe. Um so mehr fühle ich mich verpflichtet, nach Kräften dahin zu wirken, dass heute nicht persönliche Verstimmung, nicht Animosität, sondern ruhige, sachliche Erwägung entscheidet. Nur so ist eine gerechte Prüfung und Beschlussfassung möglich.

Gerade das ist bezeichnend und beweist die Größe der Gefahr, vor der der Parteitag bei seiner Entscheidung steht: Als ich soeben bemerkte, es handle sich um eine Rechtsfrage, wurde mir von einer ganzen Zahl von Genossen entgegen gerufen, es handle sich nicht um eine Rechtsfrage, sondern um etwas anderes. (Ebert: „Dieser Zwischenruf kann nur von einem einzigen Parteigenossen gekommen sein, wir haben ihn nicht gehört." Zuruf: „Es handelt sich um eine Organisationsfrage, ist gerufen worden!") Es handelt sich nicht nur um eine Organisationsfrage, sondern auch um eine Rechtsfrage. Wir müssen uns doch vergegenwärtigen, dass unser Beschluss nach dem Antrag des Parteivorstandes auch den Fall Radek mit erledigen soll! Und das Votum der Beschwerdekommission geht geradezu dahin, noch besonders zu beschließen, dass durch Annahme des Parteivorstandsantrages mit rückwirkender Kraft auch der Fall Radek erledigt werden soll.

Wir sollen also gleichzeitig ein Urteil über Radek fällen, ein Urteil über Radek – aber ohne materielle Prüfung des gegen ihn vorliegenden Tatsachenmaterials. Und eine Entscheidung über die ganz unerträgliche Forderung der rückwirkenden Kraft. Um so mehr muss ich dringend darum bitten, schon bei der Entscheidung der prinzipiellen Rechtsfrage nicht, auch nicht im Unterbewusstsein, all das mitsprechen zu lassen, was Sie über Radek gelesen haben. Alles das müssen Sie schlechthin unbeachtet lassen. Wer immer Radek für einen Schuft hält, der muss das jetzt schlechterdings ausmerzen und vergessen. Sonst ist er ein ungerechter Richter. („Sehr richtig!")

Es gilt sich zuvörderst darüber klar zu sein, dass der Vorschlag des Parteivorstandes nicht etwa dahin geht, den bestehenden Rechtszustand zu deklarieren, sondern dahin, eine Neuregelung zu schaffen über einen bisher nicht geregelten Punkt.

Wie steht es bisher? Wie beurteilten wir bisher das Verhältnis der verschiedenen Parteien, die dem Internationalen Büro angeschlossen sind, in dem hier fraglichen Punkt zueinander? Diese Parteien bilden nicht eine über die Welt zentralisierte Gesamtorganisation, sondern eine Föderation2 an und für sich autonomer, selbständiger Organisationen. Wenn wir die Frage prüfen, inwieweit der Ausschluss aus der Partei eines Landes auf die Parteien anderer Länder wirkt, so ergibt sich aus diesem organisatorischen Charakter der Internationale, dass der Ausschluss aus einer Partei für die anderen Parteien keinerlei bindende Kraft hat.

Selbstverständlich gebe ich zu, dass diese bisherige Rechtslage sehr unbefriedigend ist, dass sich die unangenehmsten Komplikationen aus ihr ergeben können. Infolgedessen muss man versuchen, einen Ausweg zu finden. Aber der Ausweg, den der Parteivorstand ad hoc sucht, ist meiner Ansicht nach nicht der geeignete.

Ich möchte zunächst darauf aufmerksam machen, dass man auch bei der Prüfung, inwieweit etwas vorliegt, was nach dem deutschen Statut den Ausschluss rechtfertigt, bei der Prüfung, ob eine ehrlose Handlung vorliegt, genötigt ist, in die materielle Prüfung einzutreten. Wenn vom Parteivorstand und der Beschwerdekommission gemeint wird, wir müssten unter allen Umständen rein formal die bindende Kraft des ausländischen Beschlusses anerkennen, weil wir uns in interne Angelegenheiten der anderen Parteien nicht hineinmischen dürften, so halte ich dem entgegen, dass auch nach dem Antrag des Parteivorstandes eine solche Einmischung schlechterdings unvermeidlich sein wird.

(Die Redezeit ist abgelaufen. Der Redner erklärt aber, als Begründer des Antrages 1153 das Recht auf eine längere Redezeit zu haben.

Der Parteitag beschließt, entsprechend der Ansicht des Vorsitzenden, dass dieses Recht erloschen ist, weil sämtliche zu diesem Punkt gestellten Anträge der Beschwerdekommission zur Berichterstattung überwiesen waren. Auf die Bitte des Redners wird ihm jedoch hierauf die Redezeit um einige Minuten verlängert.)

Auch nach dem Parteivorstandsvorschlag muss eine Einmischung in die internen Verhältnisse der Bruderparteien stattfinden, weil die Entscheidung, inwieweit eine ehrlose Handlung vorliegt, sich nicht ergibt aus dem Wortlaut des Urteils, sondern aus den begleitenden Umständen, die nachgeprüft werden müssen. Man kommt aber auch gar nicht um die Prüfung der Zuständigkeit des betreffenden ausländischen Parteigerichts herum. Alle die Schwierigkeiten, die sich aus organisatorischen Differenzen in Auslandsparteien ergeben können, spielen in die Prüfung dieser Frage hinein.

Müller hat das Gespenst eines ewigen polnischen Juden an die Wand gemalt (Heiterkeit.), der durch die ganze sozialistische Internationale streift und überall die Aufnahme zu erzielen sucht. („Sehr richtig!") Er hat dabei vorausgesetzt, dass in Polen ein schlimmes Durcheinander der verschiedensten Parteigruppen und Fraktionen besteht. Ja, wie wollen wir denn in Deutschland nachprüfen, welches das zuständige Parteigericht in diesem Wirrwarr ist, ohne Einmischung in die internen Verhältnisse der ausländischen Partei. Ich behaupte, dass mein Eventualantrag 115, der dahingeht, dass nur unter der Voraussetzung gleicher Rechtsgarantien die Gültigkeit des Ausschlusses bestätigt werden soll, nicht wesentlich mehr eingreift in die Autonomie ausländischer Parteien als der Antrag des Parteivorstandes.

Im Falle Radek wird nun – das möchte ich noch besonders ausdrücklich betonen – von polnischen Organisationen ganz offiziell bestritten, dass das Schiedsgericht, das geurteilt hat, das zuständige sei. Wenn Ebert von den Briefen Kenntnis geben würde, die ihm zugegangen sind, würde er mitteilen müssen, dass polnische Organisationen ausführliche Darlegungen gegeben haben über die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts im Fall Radek. Daraus schon folgt die Unmöglichkeit, den Fall Radek jetzt, und noch gar unter Statuierung rückwirkender Kraft, zu erledigen. Mir erscheint aber der Versuch, für Deutschland allein die prinzipielle organisatorische Frage zu regeln, überhaupt untauglich. Ich befürworte in erster Linie den Hauptantrag 115, die ganze Frage zur allgemeinen Regelung dem Internationalen Büro zu überweisen, in zweiter Linie den Eventualantrag 115.

Leider kann ich bei der kurzen Redezeit nicht alles sagen, was ich vorhatte. Ich werde mich von neuem melden. Vorläufig resümiere ich mich: Wir wollen kein Sondergesetz für Radek, aber auch kein Sondergesetz gegen Radek! (Beifall und Widerspruch.)

II

Persönliche Bemerkung

Genossin Luxemburg hat mich unrichtig verstanden, wenn sie meinen Antrag so auslegt, dass er in der Tat nur eine allgemeine Regelung der Rechtsfrage für alle Zukunft durch die Internationale herbeizuführen wünscht.

III

Zur Geschäftsordnung

Ich wiederhole, dass auch, nachdem dieser Beschluss gefasst ist, noch über meinen Prinzipalantrag abgestimmt werden muss. Der Antrag will nichts weiter, als dass über die Frage, die wir jetzt für Deutschland speziell geregelt haben, eine internationale Vereinbarung erfolgt.

1 Auf dem Jenaer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1913 wurde der polnische Sozialdemokrat Karl Radek, der seit einer Reihe von Jahren auch in Deutschland als sozialdemokratischer Publizist tätig war, auf Antrag des Parteivorstandes aus der deutschen Sozialdemokratie ausgeschlossen, weil ihm zuvor die Mitgliedschaft in der polnischen Sozialdemokratie aberkannt worden war. Karl Liebknecht bekämpfte diese Entscheidung gegen Radek. Er vertrat damit zugleich die Ansichten des linken Flügels in der polnischen Partei, der Radeks Ausschluss überhaupt für ungerechtfertigt hielt. Auch Lenin unterstützte die Revision des polnischen Ausschlussverfahrens. Bereits vor dem Jenaer Parteitag hatten sich 48 bekannte deutsche Sozialdemokraten, darunter Karl Liebknecht, Franz Mehring, Wilhelm Pieck, Käte und Hermann Duncker und Fritz Westmeyer, in einer Erklärung in der sozialdemokratischen Parteipresse gegen den geplanten Ausschluss Radeks ausgesprochen.

2 In der Quelle heißt es fälschlicherweise „Förderung". Die Red.

3 Karl Liebknecht forderte darin, die Frage, „ob und in welchem Umfange der Ausschluss aus einer dem Internationalen Büro angeschlossenen Partei bindende Kraft für die übrigen angeschlossenen Parteien besitze" nicht durch die Annahme des Antrages des Parteivorstandes zu entscheiden, sondern diesen Antrag dem Internationalen Sozialistischen Büro in Brüssel zum Zwecke einer allgemeinen Regelung zu überweisen. Die Red.

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