Karl Liebknecht‎ > ‎1913‎ > ‎

Karl Liebknecht 19131211 Zur Taktik im parlamentarischen Kampf

Karl Liebknecht: Zur Taktik im parlamentarischen Kampf

[Karl Liebknecht; Reden und Aufsätze, Hamburg 1921, S. 224–226. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 407-411]

I. Kein Parlament, auch nicht das mächtigste, das über Gesetzgebung und Verwaltung „gebietet", ist, von seiner Bedeutung als organisatorischer Faktor abgesehen (vgl. III), an und für sich selbst eine wesentliche Macht. Das Häuflein Deputierter ist eine Macht durch die realen außerparlamentarischen Mächte, die es repräsentiert. Solche realen Mächte sind vor allem a) die Menschen, b) die sachlichen Machtfaktoren, zum Beispiel Arbeitsmittel, Gütervorräte, Verkehrsmittel (wirtschaftliche Machtfaktoren) sowie Waffen aller Art (Gewaltfaktoren oder brutale Machtfaktoren), zum Beispiel die staatlichen, die kirchlichen und die privaten Organisationen, in denen Methoden zu zweckmäßiger Anwendung der anderen Machtfaktoren gestaltet sind. Die Ausnutzung wiederum der sachlichen und der organisatorischen Machtfaktoren liegt notwendig in den Händen von Menschen; kein Parlament repräsentiert mehr Macht, als diejenigen Teile des Volkes besitzen, von deren Vertrauen es getragen wird; die wesentliche Macht jedes Parlaments liegt außerhalb des Parlaments.

II. Nur scheinbar werden parlamentarische Kämpfe, sofern sie um anderes als Quisquillien gehen, im Parlament ausgekämpft. Politik heißt Interessenvertretung; da gibt es kein Überreden und kein Überzeugen; da gibt es nur Machtkampf. Kanonen und Streiks sind die besten politischen Schlussargumente; der Kampf um das Vertrauen, um die „Seele" der Träger der außerparlamentarischen Macht – das ist der Kern jedes parlamentarischen Ernstkampfes, in dem die eine Partei sich oftmals müht: quieta non movere, während die andere den Acheron zu bewegen trachtet. Das Reden zum Fenster hinaus gehört zum Wesen des Parlaments. Allein auf dem Umweg über die Einwirkung auf die außerparlamentarischen Mächte oder über die Besorgnis einer solchen Einwirkung wirken die parlamentarischen Parteien aufeinander.

III. Auch soweit das Parlament selbst unmittelbar organisatorischer Machtfaktor ist, ist es kontrollierter Repräsentant außerparlamentarischer Mächte. Auch soweit es nicht selbst ein organisatorischer Machtfaktor ist, nicht direkt entscheiden und agieren, seinen Willen exekutieren kann, übt es den Einfluss, den die von ihm vertretenen realen Mächte besitzen. Nur setzt sich dieser Einfluss auf Umwegen, indirekt, nicht auf den staatlich organisierten Wegen durch, was immerhin einen schweren Nachteil bedeutet.

In welchem Sinne man aber auch immer das Wort „Scheinparlament" gebrauchen mag: die Tätigkeit proletarischer Deputierter wäre nur in einem solchen „Parlament" wertlos, eine Farce und ein Humbug, in dem der Weg nach außen, die aufklärende, aufrüttelnde, aufwühlende Wirksamkeit auf das Volk, auf die Massen versperrt wäre.

IV. Sowenig unmittelbare Macht der Deutsche Reichstag besitzt – die Wirksamkeit nach außen gestattet er; und so miserabel das preußische Wahlrecht ist, so sehr das Abgeordnetenhaus eine groteske und aufreizende Karikatur von Volksvertretung bildet – dem halben Dutzend sozialdemokratischer Abgeordneter bietet es die vortrefflichste Tribüne der Welt, um zu den Massen zu sprechen, deren starke und zielklare Organisation jenen Sechsen inmitten einer Welt giftiger Feinde wiederum eine erstaunliche Machtstellung gegenüber dem sündenbeladenen preußischen Regime gewähren. Unsere Freunde in der III. Duma aber haben oft genug bewiesen, dass ihnen ähnliche Chancen zu Gebote stehen und dass sie sie vortrefflich auszunutzen wissen. Unsere Taktik im deutschen, vor allem im preußischen „Scheinparlamentarismus" kann mit der für die Duma empfehlenswerten sehr wohl in Parallele gesetzt werden.

V. Die deutsche Sozialdemokratie hat es nicht verschmäht, einen Petitionssturm gegen die Zollwuchervorlage von 19021 zu entfesseln; die Konsumvereine haben gegen die Erdrosselungssteuervorlagen2 petitioniert; und der Vorschlag, die preußische Wahlrechtsfrage durch Massenpetitionen an die preußische Duma wieder in Fluss zu bringen, ist durch keine prinzipiellen Bedenken zu Fall gebracht worden.

Die Beispiele häufen sich.

VI. Petition heißt zwar auch Bittschrift, aber ebenso gut Forderung. Das Petitionsrecht ist kein bloßes Bittrecht. Es kommt ganz auf die Form an, die der Petition gegeben wird. Ob ein Petitionsrecht verfassungsmäßig gewährleistet ist oder nicht macht keinen Unterschied; eine auf dem von Ihnen gewollten Weg der Duma aufgedrängte Petition ist um so weniger eine Bitte um Gnade. Die Form der vorgeschlagenen Petition ist das Gegenteil von erniedrigend. Ein Anflehen jener Bande wäre verächtlich und schädlich; Sie aber wollen fordern und drohen. C'est le ton qui fait la musique.

VII. Ein Initiativantrag oder eine Interpellation über das Vereinsrecht würde in der russischen Partei schwerlich auf Widerstand oder auch nur Bedenken stoßen. Wir in Deutschland und Preußen haben diese Mittel jedenfalls ungeniert und mit bestem Erfolg angewandt – natürlich mit zunächst agitatorischem Erfolg, der aber eben der Hebel für jeden anderen Erfolg ist. Wir werden uns nimmermehr scheuen, diese Taktik bei jeder geeigneten Gelegenheit immer wieder zu verfolgen.

Es macht gewiss keinen Unterschied, durch welche Tür eine solche agitatorische Diskussion in die Duma hineingebracht wird. Auf den agitatorischen Erfolg auf die Massen kommt es an. Wie nun eine solche Aktion um deswillen verwerflich werden könnte, weil sie durch die Massen selbst, durch außerparlamentarische Mächte, durch eine „Petition" veranlasst, erzwungen werden soll, will mir um nichts in der Welt einleuchten.

VIII. Gewiss darf keine Illusion über die reformatorische Kraft und Bereitwilligkeit der russischen Regierung oder der russischen Duma erweckt werden. Aber fordern und kämpfen, um Reformen zu ertrotzen, heißt das Gegenteil von Illusionen erwecken, heißt Klassenkampf. Reicht die Kraft noch nicht aus, der reaktionären Niedertracht das Geforderte zu entwinden, so reicht sie aus, um diese Niedertracht vor allem Volk an den Pranger zu schmieden und so die Massenbewegung voran zu peitschen.

IX. Nichts ist geeigneter, Massenbewegungen zu entfalten, als die Inangriffnahme eines einzelnen besonders aktuellen Punktes. Den Angriff jeweils mit voller Wucht auf einen solchen Punkt zu konzentrieren – das war das taktische Prinzip Lassalles. Die einzelne aktuelle Frage wird ganz konkret empfunden und verstanden. Nur muss eben eine Frage gewählt werden, die wirklich in den Massen so stark empfunden und so klar erfasst wird, dass eine große Bewegung entsteht. In der parlamentarischen Aktion aber steht natürlich auch nichts im Wege, Einzelfragen von minder großer, minder aktueller Massenbedeutung jeweils in den Vordergrund zu stellen, sei es mit, sei es ohne Antrieb durch eine Petition.

Im proletarischen Klassenkampf muss jede Frage der Tagespolitik sub specie aeternitatis, im Hinblick auf das Gesamtprogramm, als Teil des Ganzen betrachtet und behandelt werden. Jede große Frage der Tagespolitik entrollt im Grunde die Gesamtpolitik des Klassenkampfes und zwingt, uns an dieser zu orientieren; jede wichtige Einzelforderung des Programms enthält in nuce das ganze Klassenkampfprogramm. Wird der Einzelkampf und der Tageskampf in diesem Geist geführt, so verwirrt er nicht, sondern klärt auf durch lebendigsten Anschauungsunterricht. Neben dem Kampf ums Wahlrecht, gegen Militarismus, Polizei, Justiz, um die Sozialpolitik, um die Steuerpolitik scheint mir der Kampf um das Koalitionsrecht dazu besonders geeignet.

Berlin, 11. 12. 1913.

1 Durch das im Dezember 1902 beschlossene und 1906 in Kraft getretene Zolltarifgesetz wurden die Zölle für landwirtschaftliche Produkte erhöht. Dieser „Wucher"- oder „Hungertarif" führte zur Erhöhung der Lebensmittelpreise und verursachte eine wesentliche Verschlechterung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse. Die Red.

2 Mit der Begründung „Schutz dem Mittelstand" stellten die Konservativen im Mai 1911 im preußischen Abgeordnetenhaus den Antrag, bei der Neuregelung der Einkommensteuer die von den Konsumvereinen gewährte Rückvergütung wie Dividenden zu versteuern. Mit diesem Ausnahmegesetz sollten vor allem die Konsumvereine der Arbeiterklasse bekämpft werden. Die Red.

Kommentare