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Karl Liebknecht 19140221 Nicht nur strafen, sondern erziehen

Karl Liebknecht: Nicht nur strafen, sondern erziehen

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern, 21. Februar 1914

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, II. Session 1914/15, 2. Bd., Berlin 1914, Sp. 2705-2712 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 166-178]

Meine Herren, wir alle stehen bei der Beratung dieses Etats unter dem Eindruck der Tatsache, dass Geheimrat Krohne nicht mehr unter den Lebenden weilt, dass der Mann, der Jahrzehnte hindurch dem preußischen Gefängniswesen seinen Stempel aufgedrückt und eine Reform durchgeführt hat, die überall in der Welt Anerkennung und vielfach Bewunderung gefunden hat, dass dieser Mann seine ungemein ersprießliche, bedeutsame Tätigkeit nicht mehr verrichten kann. Wir haben andererseits keinen Anlass, allzu sehr zu klagen und um die Zukunft zu sorgen, weil wir die Hoffnung haben, dass Geheimrat Krohne sich inzwischen eine Schule herangezogen hat, die bestrebt und fähig ist, in seinem Geiste weiterzuwirken, und weil wir alle der Überzeugung sind, dass der gegenwärtige Leiter des Gefängniswesens, der Nachfolger des Geheimrats Krohne, durchaus in seinem Geiste weiterwirken wird. Dafür legt ja auch die amtliche Statistik für 1912 Zeugnis ab. Wenn sie auch über eine Zeit erstattet ist, in der Geheimrat Krohne noch wirkte, so ist sie doch bereits unter der gegenwärtigen Leitung verfasst, und sie lässt deutlich erkennen, dass auf dem alten Wege fortgeschritten werden soll und dass in der zum Teil mustergültigen Reform, die das preußische Gefängniswesen unter dem Ministerium des Innern in Angriff genommen hat, auch ferner alles Erforderliche geschehen wird.

Meine Herren, die von Herrn Abgeordneten Rosenow erwähnte, von mir schon wiederholt erörterte Tatsache, dass jeder sechste Mensch in Preußen bestraft ist, beweist keineswegs eine besonders ungünstige Moralität der preußischen Bevölkerung. Herr Geheimrat Finkelnburg, der ja diese statistischen Erhebungen gemacht hat1, hat festgestellt, dass diese hohe Kriminalitätsziffer die Folge eines Mangels an Strafökonomie ist, dass Bagatellstrafen und ein Übermaß von Strafgesetzen, die auf der Bevölkerung lasten, dieses ungünstige Zahlenergebnis herbeigeführt haben.

Meine Herren, zu der wiederum angeregten Frage des Dualismus im Strafvollzuge möchte ich von Neuem betonen, dass dieser Dualismus, solange er ein Dualismus der Konkurrenz in dem raschen Fortschreiten von Reformen ist, nur als natürlich bezeichnet werden kann und dass hier jedenfalls ein gewaltsames Eingreifen durch irgendeinen bürokratischen Schnitt, den man machen könnte, durchaus nicht am Platz wäre.

Meine Herren, aus der Statistik über die Strafanstalten und Gefängnisse des Ministeriums des Innern sind viele interessante Tatsachen zu entnehmen. Von besonderem Interesse ist für mich die grundsätzliche Auffassung vom Disziplinarwesen in den Gefängnissen, die sich in diesem Bericht ausdrückt und der ich bereits in früheren Jahren zugestimmt habe. Man ist von dem Gedanken abgegangen, dass die erforderliche Disziplin nur durch Drohung und Strafe erzeugt werden könne; der entgegengesetzte Gesichtspunkt wird zur Norm gemacht: Erziehung durch Aussicht auf Belohnung. Diese Erziehung wirkt durch Erweckung des Strebens, während die Erziehung durch Angst und Strafe zumeist auf ein gewaltsames Zerbrechen und Beugen der seelischen Kräfte hinausläuft und auf Feigheit und andere schlechte Eigenschaften als Bundesgenossen spekuliert und der Entfaltung der Persönlichkeit, so wie sie in ihren besten Kräften gestaltet ist, leicht entgegenwirkt. Die alte Methode war eine Methode der Repression, während jetzt der Gedanke der Aufmunterung im Vordergrunde steht, der das Gute auch aus dem Rechtsbrecher heraushebt, herauslockt. Dieser disziplinare Gesichtspunkt ist von größtem pädagogischem Wert. Seine weitere Durchführung, die ja erfreulicherweise gesichert zu sein scheint, hat meiner Ansicht nach Aussicht auf gute Erfolge.

An der Jugendanstalt in Wittlich kann auch ich selbstverständlich nicht vorübergehen. Sie ist ein sehr interessantes und bedeutsames Experiment – meiner Ansicht nach schon nicht mehr ein Experiment, sondern bereits ein Erfolg, ein erster Schritt auf einem neuen Wege. Es sind Ideen der Strafvollstreckung, wie sie erstmalig, wenn ich nicht sehr irre, in Amerika in kühnem Griff verwirklicht worden sind, die hier, in sorgfältiger und kluger Weise ausgebaut, zweifellos zu einer sehr bedeutsamen Einrichtung geführt haben.

Meine Herren, besonders wichtig ist dabei die Mannigfaltigkeit der Arbeit, die zur Verfügung steht, und die Erziehung zur Arbeit unter einem nicht allzu großen äußeren Zwang, die Anregung zur Selbstdisziplinierung, die bei den Jugendlichen naturgemäß am allerehesten auf fruchtbaren Boden fallen muss, und damit der Versuch, die pädagogischen Grundsätze, die in der neueren Zeit von verständigen Pädagogen allenthalben gepredigt werden, auf das Gefängniswesen und die Strafvollstreckung an den Jugendlichen anzuwenden. Die Prinzipien für die Anstalt in Wittlich werden wohl als erfreulicher bezeichnet werden können als die Grundsätze, nach denen vielfach unsere Fürsorgeerziehungsanstalten geleitet sind.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Besondere Bedenken hat bei einigen Vorrednern erregt, dass der Geistliche in Wittlich nur im Nebenamt tätig ist; das sei nicht hinreichend. Ich habe die feste Überzeugung, dass im Ministerium des Innern nicht aus Finanzbedenken wirklich berechtigte Bedürfnisse der religiösen Gemeinschaft irgendwie in den Hintergrund gedrängt werden; dafür haben solche Bedürfnisse im Ministerium des Innern wie bei der ganzen preußischen Regierung eine viel zu gute Stätte. Wir haben stets erklärt – und ich wiederhole das hier –, dass die religiöse Versorgung der Gefangenen nach ihren Bedürfnissen natürlich nicht dadurch unterbunden werden soll, dass sie in den Anstalten interniert sind, so dass wir nichts dagegen einzuwenden haben, dass auch Geistliche in den Gefängnissen ihre Tätigkeit ausüben. Allerdings meinen wir, dass die Kosten dafür nicht aus dem Staatsvermögen aufzubringen sein sollten, sondern von den Religionsgemeinschaften; das ist aber ein Punkt, der gegenwärtig nicht interessiert. Ich möchte mich aber dagegen wenden, dass verschiedene der Herren Vorredner diese religiöse, diese geistliche Versorgung der Gefangenen gewissermaßen als das A und O der Strafvollstreckung bezeichnen, als das Wichtigste für die erziehliche Einwirkung auf die Gefangenen. Das ist eine ganz äußerliche Auffassung,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

gerade vom Wesen der Religion, die doch das Innerlichste ist, das es überhaupt gibt, wenn man den sonstigen Worten der Herren folgt. Meine Herren, das wichtigste Erziehungsmittel ist und bleibt die Arbeit in den Gefängnissen,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

eine verständig geordnete, mit Freude ausgeübte Arbeit und die Aufmunterung, sich in verständiger Weise selbst zu disziplinieren. Meine Herren, darauf muss besonderes Gewicht gelegt werden, dass in anregender Arbeit die Jugendlichen zu einer gesunden und frischen Auffassung des Lebens kommen – nach Möglichkeit, trotz der traurigen Lage, in der sie sich in der Gefangenschaft befinden. Aus einer gesunden, hoffnungsfreudigen Auffassung vom Leben, vom eigenen Wesen, von den eigenen Kräften und Aussichten entquillt dann auch eine gesunde Moral ganz von selbst.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die religiösen Mittel, von denen hier gesprochen ist, können nur ganz an der Oberfläche wirksam sein, und ich halte es für notwendig, in diesem Zusammenhange noch einmal darauf hinzuweisen, dass gerade nach Ausweis der Kriminalstatistik das religiöse Bekenntnis für die Kriminalität verhältnismäßig neutral und unerheblich ist. Ich halte es für sehr wichtig, dass man sich um die Schule in den Gefängnissen etwas mehr bekümmert; ich glaube, dass hier noch vieles zu bessern ist. Meine Herren, mir liegt hier die Statistik vor. Danach kommt nicht selten auf einen einzigen Lehrer in den Gefängnissen eine Zahl von Schülern, die bei weitem zu hoch gegriffen ist, wenn man das schwierige Material und die schwierigen Umstände betrachtet, unter denen der Unterricht dort stattfindet. So haben sie zum Beispiel in Insterburg, das heißt dort in einem Zuchthaus, nur einen Lehrer für 30 Gefangene. An anderen Orten wiederum kommt ein Lehrer auf nur 13 Gefangene. Meine Herren, dass ein Lehrer auf 30 gefangene Zuchthäusler viel zu wenig ist, liegt auf der Hand. Ähnlich steht es zum Beispiel in Brandenburg: zwei Klassen mit zusammen 60 Schülern! Also die Durchschnittszahl der Schüler ist in Insterburg 30; es ist nur eine Klasse und nur ein Lehrer vorhanden, und genauso steht es, soweit ich übersehen kann, in Brandenburg, wo auch auf eine Klasse 30 Schüler kommen. Wie viel hier auf den Lehrer kommen, lässt sich im Moment nicht übersehen, da möglicherweise derselbe Lehrer die beiden Klassen unterrichtet. Es ist aus dieser Statistik nicht deutlich ersichtlich, wie viel Lehrer an der einzelnen Anstalt tätig sind, und es wäre empfehlenswert, wenn das in einer künftigen Statistik noch näher auseinandergesetzt würde.

Noch auf ein anderes möchte ich hinweisen: dass meiner Ansicht nach auch die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden, die auf den Lehrer entfallen, vielfach zu hoch ist. So werden zum Beispiel von Ratibor 30 wöchentliche Unterrichtsstunden, von Kassel-Wehlheiden 29, von Groß-Strehlitz 26 berichtet. Meiner Ansicht nach kann ein einziger Lehrer diesen Anforderungen nicht angemessen genügen, wenn er bei seinem Unterricht Erfolge erzielen will. Ich glaube deshalb, dass wir viel mehr als auf eine Vermehrung der Geistlichen auf eine Vermehrung und Besserstellung der Lehrer an den Gefängnissen hinzuwirken haben.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich zweifle durchaus nicht, dass meine Auffassung über die Wichtigkeit des Schulunterrichts von Ihnen allen, auch von der Staatsregierung, geteilt wird, so dass wir hier wohl auf eine Besserung werden rechnen können.

Meine Herren, in dem Bericht findet sich auch ein zustimmender Hinweis auf die neueren Bestrebungen, die Dauer der Freiheitsstrafen gewisser Kategorien, zum Beispiel der Rückfälligen und Alkoholiker, zu verlängern. Ich habe Bedenken, dem für heute ohne weiteres zuzustimmen. Diesen Bestrebungen liegt offenbar der Gedanke einer Art Staatserziehung Erwachsener nach Art der Fürsorgeerziehung zugrunde. Wenn wir gewisse Prinzipien der Strafvollstreckung der Gefängnisverwaltung weiter durchgeführt haben werden, als das bisher der Fall ist, dann wird man schließlich eine solche Maßnahme als nützlich und ersprießlich für die einzelnen und für das Gemeinwohl diskutieren können; gegenwärtig scheint mir trotz der begrüßenswerten Entwicklung unseres Strafvollstreckungswesens doch der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen zu sein; es wäre meiner Ansicht nach vorläufig noch sehr bedenklich, wenn etwa die Richter heute schon aus diesen Prinzipien heraus zu höheren Strafen mit dem Erziehungshintergedanken schreiten würden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Besonders aber muss bei alledem daran erinnert werden, dass heute die Strafvollstreckung, die Inhaftierung, die Freiheitsentziehung gleichzeitig eine schwere Gefährdung der Angehörigen der Gefangenen bedeutet,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und solange dafür nicht ausreichend gesorgt ist, dass die Angehörigen der Gefangenen nicht in Elend, Schmutz und Kriminalität geraten, muss energisch gegen Verlängerung der Freiheitsstrafe aufgetreten werden.

Meine Herren, eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine angemessene Strafvollstreckung ist eine gute Auswahl und Vorbildung der Strafvollstreckungsbeamten. Das gilt natürlich auch für die Unterbeamten, für die Gefangenenaufseher, die ja in die stündlichste, regelmäßigste Berührung mit den Gefangenen kommen und schließlich diejenigen Werkzeuge, wenn ich mich einmal so ausdrücken soll, der Strafvollstreckung sind, die unmittelbar die Durchführung des Willens der Strafvollstreckungsbehörde erzwingen. Von dem Charakter dieser Behörden und dieser Tätigkeit hängt es schließlich ab, wie der Gefangene die Strafvollstreckung fühlt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Deshalb muss mit besonderer Sorgfalt auf die Ausbildung und Auswahl dieses Personals gesehen werden.

Meine Herren, ich weiß, dass darauf im Ministerium des Innern viel Gewicht gelegt wird, dass es der Gefängnisverwaltung durchaus bekannt ist und auch ihrer Auffassung entspricht. Ich weise auf die besonderen Ausbildungskurse für die Gefängnisunterbeamten, für die Gefängniswärter hin, eine Ausbildung, die ja vielleicht in dieser oder jener Beziehung etwas erweitert werden könnte, die aber jedenfalls zeigt, dass man hier auf dem richtigen Wege ist.

Aber es muss immer von neuem betont werden, dass diese Beamten nur dann in der Lage sind, ihres Amtes in gehöriger Weise, freudig, ohne Verdrossenheit und ohne Übermüdung, zu walten, wenn sie eine angemessene Entlohnung haben, wenn ihre Gehälter und ihre sonstigen Arbeitsbedingungen so geregelt sind, dass sie nicht unter schwerer Not leiden, wie das leider häufig genug der Fall ist. Die Fürsorge für die unteren Beamten reicht noch längst nicht aus, und ich muss mein Bedauern darüber aussprechen, dass auch in der neuen Besoldungsordnung hier keine Abhilfe geschaffen ist. Meine Herren, vor allen Dingen ist für die Gefängnisbeamten des Ministeriums des Innern in der neuen Besoldungsordnung keine vorbildliche Fürsorge getroffen. Die gute Beamtenbezahlung und gute Beamtenbehandlung muss immer wieder in den Vordergrund gerückt werden als eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gute Strafvollstreckung.

Meine Herren, die Gefängnisbeamten sind bedauerlicherweise bis zum heutigen Tag noch nicht in genügender Weise gegen Krankheiten, Unfälle usw. gesichert. Die Beschwerden, die wir früher in Bezug auf diesen Punkt erhoben haben, sind leider noch nicht überflüssig geworden, und ich habe jetzt wieder einen recht bedauerlichen Fall in meinen Händen, in dem es sich um einen Gefängnisbeamten aus der Strafanstalt Moabit, einen Hilfsaufseher, der im Dienste krank geworden ist, handelt, und der den Klageweg beschreiten muss, um die ihm zweifellos zustehenden Beträge von der Gefängnisverwaltung zu erhalten. Dergleichen sollte doch wirklich nicht vorkommen.

Ich bin ein Anhänger der bedingten Verurteilung und bin der Auffassung, dass die bedingte Begnadigung nur ein ganz unzureichendes Surrogat für die richterlich auszusprechende bedingte Verurteilung2 ist. Es ist zweifellos, dass diese bedingte Begnadigung in der letzten Zeit in größerem Umfange ausgeübt worden ist, aber doch nicht in demjenigen Umfange, der meiner Ansicht nach am Platze wäre, und es ist ja zweifellos, dass auch in Bezug auf die Ausführung des Gnadenerlasses des Kaisers aus dem vergangenen Jahre sich recht erhebliche Beschwerden ergeben haben.

Meine Herren, die vorläufige Entlassung, von der mehrere der Herren Vorredner schon gesprochen haben, ist eine Einrichtung, die gesetzlich leider an gewisse sehr enge Grenzen gebunden ist. Sie darf nur ausgesprochen werden, wenn bereits der größere Teil der Strafe und wenigstens ein Jahr der Strafe verbüßt ist; sie kann infolgedessen für unsere Strafvollstreckung nur im geringen Umfange als ein Erziehungsmittel in Betracht kommen.

Ich habe Bedenken dagegen, die gesamte Strafvollstreckung dem Ministerium des Innern übertragen zu wollen, wie das der Abgeordnete Rosenow angeregt hat. Ich glaube übrigens, dass eine derartige Reform nur auf dem Wege des Gesetzes und wohl auch des Reichsgesetzes möglich wäre. Ob die Strafvollstreckung in den Händen der Staatsanwaltschaft, der Amtsgerichte oder des Ministeriums des Innern besser aufgehoben ist, will ich ganz dahingestellt sein lassen. Aber ich möchte bezweifeln, ob in Bezug auf die vorläufige Entlassung, soweit die Befürwortung durch die Anstaltsverwaltungen im Bereich der Justizgefängnisse [erfolgt ist,] ungünstigere Erfahrungen gemacht worden sind in Bezug auf die Befürwortung als im Bereich der Verwaltung des Ministeriums des Innern. Ich meine, dass wir deshalb in dieser Beziehung nicht ohne weiteres die Zuständigkeit des Justizministeriums bekämpfen sollen. Ich glaube, dass auch hier die Aufrechterhaltung des Wettstreites am Platze ist und den Interessen der Allgemeinheit und der Gefangenen am nützlichsten ist.

Wir haben ein paar Anträge gestellt, die sich mit der Fürsorge für die Gefangenen selbst, für die entlassenen Strafgefangenen und für die Angehörigen der Gefangenen beschäftigen. Die Gefangenen selbst sind zwar durch das Gesetz vom Jahre 1900 gegen Unfall versichert. Aber dieses Gesetz ist unzureichend, schon um deswillen, weil es keinen ausreichenden Rechtsschutz gibt; es gibt kein geordnetes Verfahren zur Erwirkung der Unfallrente. Die Beträge sind auch so ungemein niedrig, dass das Gesetz, wie mir scheint, praktisch fast bedeutungslos ist. Hier muss eingegriffen werden; das ist eine Notwendigkeit, um zu verhindern, dass die Strafvollstreckung, wie das gegenwärtig der Fall ist, statt zur sozialen Stärkung zur sozialen Schwächung der Betroffenen führt. In Bezug auf die Krankenversicherung der Gefangenen fehlt leider vorläufig jede gesetzliche Grundlage, und doch müsste auch dafür gesorgt werden. Die Krankheiten werden der Regel nach mit durch die Arbeit herbeigeführt sein. Die Gefangenenarbeiter in ähnlicher Weise zu versichern wie die freien Arbeiter sollte ein nobile officium der Staatsverwaltung sein.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Krankheitsziffer in den Gefängnissen und Strafanstalten ist keineswegs gering; wir haben manche Gefängnisse mit einem sehr hohen Prozentsatz von Kranken. Zum Beispiel beträgt die Krankheitsziffer in einem Gefängnis wie Rawitsch 78,1 Prozent, während in anderen Anstalten die Ziffer sehr günstig steht, so zum Beispiel in Rendsburg 21,5 Prozent, in Graudenz nur 18,4 Prozent, und in einigen anderen Anstalten ja noch niedriger. Auch in den Gefängnissen ist die Krankheitsziffer sehr schwankend. So ist in dem Jugendgefängnis Wittlich die ungemein erfreuliche Ziffer von 6,2 Prozent zu verzeichnen, während wir auf der anderen Seite in Köln in der Hauptanstalt 94,3 Prozent und in Saarbrücken 91,3 Prozent haben, andererseits wiederum in Koblenz 8,9 Prozent, in Düsseldorf-Derendorf 15 Prozent und in Siegburg 16 Prozent. Ich meine, dass der Unterschied so ungeheuer groß ist, dass er auf Mängel in der Einrichtung gewisser Anstalten schließen lässt, so dass hier anscheinend noch recht viel zu bessern ist. Ich gebe zu, dass, wenn man die Zahl der Verpflegungstage herausgreift, sich vielfach günstigere Ziffern ergeben; aber immerhin ist die hohe Krankheitsziffer, die wir in mehreren Gefängnissen und Strafanstalten aufzuweisen haben, eine ungünstige Erscheinung. Eine geordnete Fürsorge für die Gefangenen nach Art der Fürsorge für die freien Arbeiter ist eine Notwendigkeit, einmal weil die Strafvollstreckung selbst ja einen Teil der ungünstigen Lebensumstände mit sich bringt, die zu den Erkrankungen führen, weil die Erkrankungen vielfach mit der Arbeit in einem gewissen Zusammenhang stehen, schließlich aber auch um deswillen, weil die Gefangenen nicht sozial geschwächt aus der Anstalt herauskommen sollen, ihnen vielmehr in angemessener Weise durch Unfall-, Invaliden- und Krankenrente Beihilfe gewährt wird.

Die Fürsorge für die entlassenen Gefangenen ist heute durchaus nicht zureichend. Die 34.000 Mark, die im gegenwärtigen Etat ausgesetzt sind, werden auch von uns nur als ein Tropfen auf einen heißen Stein erachtet. Wir sind durchaus mit dem Antrag einverstanden, der eine Vermehrung des Betrages für die künftigen Etats fordert. Aber wir meinen, dass die ganze Organisation der Fürsorge für die entlassenen Strafgefangenen bisher eine unzureichende ist. Es müsste eine staatliche, eine amtliche Fürsorge eintreten. Die Organisation dieser Fürsorge müsste von Staats wegen in die Hand genommen werden, und es dürfte dabei nicht unterlassen werden, auch an die Arbeiterorganisationen heranzutreten. Es handelt sich ja bei dieser Fürsorge zu einem großen Teil um die Verbringung der entlassenen Gefangenen in geordnete Arbeit. Herr Geheimrat Krohne hat mir wiederholt sein Bedauern ausgesprochen, dass oft die freien Arbeiter, besonders die organisierten, sich dagegen sträuben, mit entlassenen Gefangenen und Zuchthäuslern zusammen zu arbeiten. Es mag sein, dass aus einer gewissen Kurzsichtigkeit, die aber aus der Kampfstellung der organisierten Arbeiter begreiflich ist, solche Schwierigkeiten gemacht werden. Es gibt aber doch kein besseres Mittel, dem entgegenzuwirken, als Hand in Hand mit den Arbeiterorganisationen und mit den Arbeitsnachweisen, die diese in den Händen haben, und natürlich auch Hand in Hand mit den paritätischen und den kommunalen Arbeitsnachweisen diese Fürsorge zu organisieren.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich bin fest überzeugt, dass man, wenn in dieser Weise mit den Arbeiterorganisationen zusammengegangen würde, dann bald Gesichtspunkte ausarbeiten könnte, die von der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften gebilligt werden würden, Gesichtspunkte, nach denen für die Unterbringung der entlassenen Gefangenen gesorgt werden kann. Ich möchte fragen, ob der Herr Regierungsvertreter die Absicht hat, diese Anregung aufzugreifen. Ich bin fest überzeugt, er wird das bereitwilligste Entgegenkommen finden, und ein solches Vorgehen könnte nur gute Früchte tragen.

Wenn wir bei diesem Kapitel die Titel 13, 14 und 16 zusammen betrachten, so finden wir, dass da nur insgesamt eine Summe von ungefähr 370.000 Mark ausgeworfen worden ist. Es handelt sich hierbei um Bewilligungen an die Gefangenen aus dem Arbeitsverdienst, um Entschädigungen an Gefangene und deren Angehörige im Fall der Verletzung oder der Tötung eines Gefangenen durch einen bei der Beschäftigung erlittenen Unfall und um Förderung der Fürsorge für die aus der Strafhaft Entlassenen. Diese Posten betragen, wie ich eben schon sagte, insgesamt nur etwa 570.000 Mark bei einem Gesamtetat von über 15 Millionen Mark.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese Beträge müssen erheblich verstärkt werden; insbesondere muss den Gefangenen die Möglichkeit gegeben werden, aus dem Arbeitsverdienst einen größeren Teil zu bekommen, um damit einerseits ihre eigene Lage zu verbessern, andererseits aber auch ihren Angehörigen außerhalb des Gefängnisses Unterstützungen zuwenden zu können.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Beim Etat des Justizministeriums habe ich diese Frage bereits erörtert. Ich will hier nicht von neuem im Einzelnen darauf eingehen. Aber mindestens ebenso wenig wie die Fürsorge für die entlassenen Strafgefangenen ist zweifellos die Fürsorge für die Angehörigen der in Strafhaft befindlichen Strafgefangenen;

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und diese Fürsorge ist bisher ganz stiefmütterlich weggekommen. Sie muss organisiert werden, und es kann auch gefordert werden, dass hier eine staatliche Beihilfe stattfindet.

Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, habe ich den Antrag3 gestellt, den der Herr Präsident vorhin verlesen hat. Zunächst einmal wünschen wir, dass zur Förderung der Fürsorge für die Angehörigen der Gefangenen 100.000 Mark schon in den gegenwärtigen Etat eingestellt werden. Die Möglichkeit dazu ist gegeben. Für den Fall, dass gewisse geschäftsordnungsmäßige Bedenken bestehen sollten, es zum Beispiel notwendig sein sollte, dass sich die Budgetkommission zu einem solchen Posten äußert, bevor hier eine Beschlussfassung stattfindet, könnte ja eine Zurückverweisung der Ziffer 1 unseres Antrages in die Budgetkommission stattfinden. Wir fordern 100.000 Mark nicht etwa, weil uns diese Summe ausreichend erscheint, sondern nur gewissermaßen als ein Symbol dafür, dass diese Fürsorge nun angemessen organisiert und subventioniert werden soll. Die Ziffer 2 unseres Antrages fordert die Organisation der Fürsorge sowohl für die entlassenen Strafgefangenen wie für die Angehörigen der Gefangenen, und unter Nummer 3 fordert unser Antrag einen Gesetzentwurf, der eine hinreichende Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung der Gefangenen vorsieht. Ich habe die Unfallversicherung auch mit aufgenommen trotz des Gesetzes vom Jahre 1900, weil dieses Gesetz eben keine hinreichende Unfallversicherung der Gefangenen vorsieht.

Wenn diesen unseren Anregungen stattgegeben wird, dann, meine Herren, bin ich fest überzeugt, dass dies ein weiteres Mittel sein wird, um die Schäden, die der Strafvollzug heute notwendig im Gefolge hat, etwas abzuschwächen, dafür zu sorgen, dass die Sozialisierung unseres Strafvollzuges weitere Fortschritte macht, und die sozialen Gesichtspunkte, von denen Geheimrat Krohne ausgegangen ist und die ja auch gegenwärtig im Ministerium des Innern eine Stätte haben, weiter durchzuführen und nach verschiedenen Richtungen hin fruchtbarer zu gestalten.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Karl Finkelnburg: Die Bestraften in Deutschland. Ein Ermittlungsversuch, wie viele Millionen der deutschen Reichsbevölkerung wegen Verbrechen oder Vergehen gegen Reichsgesetze bestraft sind. Nebst einem kriminalstatistischen Atlas als erläuternder Anhang, Berlin 1912. Die Red.

2 Im Original: Begnadigung.

3 Der Antrag vom 21. Februar 1914 lautete: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen:

1. hinter Tit. 16 einzufügen: 16a. Förderung der Fürsorge für die Angehörigen der Gefangenen 100.000 M; 2. die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, die erforderlichen Schritte zu tun, um baldigst eine ausreichende Fürsorge für die Angehörigen der Gefangenen und für die entlassenen Strafgefangenen zu organisieren; 3. die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine hinreichende Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung der Gefangenen schafft." Der Antrag wurde nach Abstimmung der Budgetkommission überwiesen.

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