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Karl Liebknecht 19151204 Denkschrift über die Kleinen Anfragen

Karl Liebknecht: Denkschrift über die Kleinen Anfragen

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/7. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 404-418]

Korrespondenz mit dem Direktor und dem Präsidenten des Deutschen Reichstages1

4. Dezember 1915

Berlin-Schöneberg, 4. Dezember 1915

Reservelazarett, Hauptstr. 30/31

An den Deutschen Reichstag!

Ich bin zu folgenden Mitteilungen genötigt:

Unter dem 10. und 11. November überreichte ich aus dem Königsberger Festungshilfslazarett I dem Büro des Reichstags die jetzt als Drucksachen 152-156 verteilten Anfragen und ferner die Anfrage:

1. Ist der Regierung bekannt, dass die Masse des deutschen Volkes in und außerhalb der Armee – ähnlich der Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder – dringend fordert: dass ihr die Schrecknisse eines neuen Winterfeldzuges erspart werden und dass gegenüber diesem Ziele alle Eroberungspläne und alle kapitalistischen Rücksichten schlechthin zurückzutreten haben?

2. Was hat die Regierung bisher zur Erfüllung dieser Forderung getan?

3. Ist die Regierung bereit, dieser Forderung wenigstens noch in letzter Stunde zu genügen?


Hieran knüpfte sich folgende Korrespondenz:

Berlin NW 7, den 10. November 1915

Geehrter Herr Abgeordneter!

Wunschgemäß bestätige ich Ihnen den Eingang ihrer Anfrage vom 10. November.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Jungheim

Direktor beim Reichstag


An das Mitglied des Reichstags

Armierungssoldaten Dr. Liebknecht

Hochwohlgeboren

Königsberg (Pr.) Festungs-Hilfslazarett I

Berlin NW 7, 13. November 1915

Geehrter Herr Abgeordneter!

Ich bestätige den Eingang der mit Schreiben vom 10. November übersandten 5 Anfragen. Die gewünschten 5 Abzüge habe ich herstellen lassen; sie folgen anbei. Der Reichstag ist bis zum 30. November vertagt. Am 30. November früh werden die Anfragen in den geschäftsordnungsmäßigen Gang genommen werden.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Jungheim

Direktor beim Reichstag

(Zwischen dem 13. und 17. November vollzog sich die Überführung des Unterzeichneten in das hiesige Lazarett, Hauptstraße 30/31.)

Berlin-Schöneberg, 17. November 1915

Lazarett Gesellschaftshaus des Westens,

Hauptstr. 30/31

S. G. B. G.

In Ihrem Schreiben vom 15. d. M. findet sich der Passus: „Der Reichstag ist bis zum 30. November vertagt. Am 30. November früh werden die Anfragen in den geschäftsordnungsmäßigen Gang genommen werden."

Durch die Vertagung des Reichstags ist die geschäftsordnungsmäßige Erledigung der Anfragen doch nicht gehindert. Bei kürzeren Vertagungen wird das sicher nicht bezweifelt; längere Vertagungen anders zu beurteilen, fehlt, wie mir scheint, jeder Grund; sowenig ein Hindernis besteht, die Kommissionen vor dem 30. November zusammentreten zu lassen oder Gesetzesvorlagen und dergleichen vor diesem Datum entgegenzunehmen. Ich meine, dass die Praxis der Vergangenheit eine sofortige Ingangsetzung der Anfragen und ihre Übernahme auf die Tagesordnung des 30. November rechtfertigt und gebietet. Auch der Fall meiner Anfrage aus Anfang August oder Ende Juli d. J. dürfte für meinen Standpunkt sprechen.

Für eine recht baldige Äußerung hierher, wo ich wegen einer Entzündung der Beinnerven liege, wäre ich sehr verbunden. Verzeihen Sie die durch die Umstände gebotene formlose Form dieses Briefes.

Mit vorzüglicher Hochachtung

ergebenst

Karl Liebknecht


An das Mitglied des Reichstags

Herrn Rechtsanwalt Dr. Liebknecht

Hochwohlgeboren

Berlin – Schöneberg

Hauptstr. 30/31, Lazarett Gesellschaftshaus des Westens

Berlin NW 7, den 18. November 1915

Sehr geehrter Herr Abgeordneter!

Wenn der Reichstag durch Kaiserliche Verordnung vertagt wird, werden die Geschäfte des Reichstags mit Ausspruch der Vertagung bis zu dem Tage, bis zu welchem die Vertagung erfolgt, unterbrochen. Deshalb können Ihre Anfragen erst am 30. November d. J. in den Geschäftsgang genommen werden. Auch Ihre Anfrage vom Sommer d. J. ist in gleicher Weise behandelt worden. Der Reichstag war bis zum 10. August vertagt. Ihre Anfrage ging am 6. August ein, wurde am 10. August in den Geschäftsgang genommen, am 13. August verteilt und gelangte am 20. August, dem ersten Tage für Anfragen, zur Verhandlung.

Die Kommissionen haben vor dem Termin, bis zu welchem die Vertagung währte, nur dann getagt, wenn zwischen dem Herrn Reichskanzler und dem Reichstag wegen der Tagung der Kommission Übereinstimmung herrschte.

Ihnen gute Besserung wünschend,

mit vorzüglicher Hochachtung

Jungheim

Direktor beim Reichstag


21. November 1915

Sehr geehrter Herr Geheimrat!

Eine Geschäftsordnungsvorschrift, die Ihre Auffassung rechtfertigte, vermag ich nicht zu finden.

Die Behandlung der Sommeranfrage wurde, wie mir hier sofort amtlich erklärt wurde, durch das Eingreifen eines meiner Fraktionsfreunde2 verzögert; von einer Verzögerung der Ingangsetzung aus Geschäftsordnungsgründen war damals, wie ich bestimmt weiß, nicht die Rede.

Wegen der Kommissionstagungen kann eine Übereinstimmung zwischen Kanzler und Reichstag gar nicht stattfinden, wenn der Reichstag in der behaupteten Weise unterbrochen ist; ganz abgesehen davon, dass ein zu seiner Bindung fähiges Organ praktisch fehlt, ist er nach Ihrer Auffassung eines Willensaktes und -ausdrucks schlechterdings unfähig.

Soeben gehen mir die Drucksachen 144 und 145 zu, Vorlagen der Regierung. Sie sind sofort – vor dem 30. November – in geschäftsordnungsmäßigen Gang genommen. Mir scheint es unmöglich, die „Anfragen", gewissermaßen „Vorlagen" eines Abgeordneten, anders, ungünstiger, zu behandeln.

Ich muss also auf meinem Standpunkt beharren und erbitte nochmals recht baldige Rückäußerung.

Der Korrekturabzug, für den ich, ebenso wie für die gesundheitlichen Genesungswünsche bestens danke, reiche ich in Kürze zurück.

Mit vorzüglicher Hochachtung

ergebenst

Karl Liebknecht


26. November 1915

(Nach Telefongespräch vom 26. November, abends 6½)

Sehr geehrter Herr Direktor!

Ich bitte Sie, die mehrerörterte Geschäftsordnungsfrage ohne Rücksicht auf den Eingang meiner Korrektur, die ja ohne jeden Belang dafür ist, gefälligst umgehend zur Entscheidung zu bringen. Ich warte seit Montag auf Beantwortung meines Briefes vom 21. d. M.

Die Korrektur wird folgen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebenster

Karl Liebknecht


Berlin-Schöneberg, 28. November 1915

Reservelazarett, Hauptstr. 30/31

Sehr geehrter Herr Geheimrat!

Im Brief vom 21. d. M. hatte ich nochmals „um recht baldige Rückäußerung" gebeten, u. zw. auf meine Bedenken in Bezug auf Ihren geschäftsordnungsmäßigen Standpunkt, den Sie auf meinen Brief vom 17. unter dem 18. dargelegt hatten. Als ich am 17. schrieb und Sie unter dem 18. antworteten, hatte ich den Korrekturabzug der Anfragen schon in Händen. Ich bedaure lebhaft, dass die in anderem Zusammenhang gefallene Bemerkung meines Briefes vom 25., in der ich die Rücksendung der Korrektur ankündigte, dazu führte, dass Sie mit der weiteren Erledigung der sehr drängenden Sache bis zum Eingang der Korrektur sich zu warten entschlossen, so dass ich bis heute ohne die erbetene „recht baldige Rückäußerung" bin. Angesichts der Beantwortung meines Briefes vom 17. und der Unerheblichkeit der Korrektur für die zu entscheidende prinzipielle Geschäftsordnungsfrage vermochte ich auf einen solchen Standpunkt nicht zu rechnen.

Ich bedaure lebhaft, Ihrer heutigen telefonischen Mitteilung zu entnehmen, dass der Herr Präsident durch Verfügung einer Reproduktion der Angelegenheit auf den 30. d. M. materiell zu meinen Ungunsten entschieden hat, ohne dass doch nur die Absicht gehegt wurde, mich davon jetzt, vor dem 30., d. h. solange ein aktuelles Interesse für mich besteht, auch nur davon zu unterrichten.

Zur Sache bemerke ich noch, dass mir von irgendeiner Praxis im Sinne Ihrer Auffassung bisher nichts belegt ist und dass mir heute wiederum drei Drucksachen der Regierung (Nr. 146, 148, 149) zugegangen sind, deren geschäftsordnungsmäßige Behandlung, gleichviel aus welchen Motiven sie erfolgt ist, das geschäftsordnungsmäßige und geschäftsordnungsmäßig-tätige Vorhandensein des Reichstags schlagend beweist.

Der Regierung die Anfragen zu überreichen, besteht nach Ihrer eigenen Auffassung jedenfalls kein Hindernis, mag sich die Regierung dann geschäftsordnungsmäßig dazu äußern.

Für alle Fälle erbitte ich noch einen schleunigen Abzug der Anfragen nach Ausführung der Korrekturen (aber unter Ausschaltung jeder Hinderung der weiteren Geschäftsbehandlung).

Hochachtungsvoll

Ihr ergebenster

Karl Liebknecht


An das Mitglied des Reichstags

Herrn Dr. Liebknecht

Hochwohlgeboren

Berlin-Schöneberg Hauptstr. 30/31

Berlin NW 7, den 28. November 1915

(Am 28. November, ¾9 abends, nach Abgang meines Briefes vom 28. abends.)

Euer Hochwohlgeboren

beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, dass ich die dem Büro des Reichstags übersandten Anfragen am Dienstag, dem 30. November, bis zu welchem Tage der Reichstag durch Kaiserliche Verordnung vertagt ist, in geschäftliche Behandlung nehmen werde.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Dr. Kaempf

Präsident des Reichstags


Berlin-Schöneberg, 29. November 1915

Reservelazarett, Hauptstr. 30/31

Euer Hochwohlgeboren

erwidere ich auf das gefällige Schreiben vom 28. d. M.: Die Anfragen waren spätestens am 12. und 14. im Büro des Reichstags und damit nach Vorschrift der §§ 31a ff. der Geschäftsordnung rechtzeitig eingereicht, um auf die Tagesordnung des 30. November gesetzt zu werden. Gegenüber der Weigerung des Herrn Direktors, in diesem Sinne zu verfahren, habe ich meinen Standpunkt in den Briefen vom 17., 21. und, nachdem ich auf den Brief vom 21. längere Zeit ohne Antwort geblieben war, in meinem Brief vom 28. d. M. näher dargelegt; dass inzwischen noch weitere Vorlagen der Regierung eingegangen und vom Reichstagsbüro in Geschäftsgang genommen sind, ist bekannt. Gestern Abend gegen 9 Uhr erhielt ich endlich die Zuschrift Euer Hochwohlgeboren, die mir mitteilt, dass die Anfragen am 30. in geschäftliche Behandlung genommen werden sollen. Der Herr Direktor hatte mir vorher telefonisch mitgeteilt, dass Euer Hochwohlgeboren die Wiedervorlage meines Schreibens vom 21. für den 30. d. M. verfügt habe. Das Schreiben vom gestrigen Tage ist mir nur auf mein besonderes Verlangen zugegangen. Ich habe nicht nötig, darauf aufmerksam zu machen, dass irgendeine Druck-Korrektur für die Entscheidung einer Geschäftsordnungsfrage, wenn sie nur als eine solche behandelt werden sollte, von keinerlei Belang sein konnte und dass die Reproduktion der Angelegenheit auf den 30. eine materielle Entscheidung gegen meine Vorstellungen bedeutete, d. h. die Ansetzung der Anfrage auf die Tagesordnung des 30. tatsächlich unmöglich machte, ohne dass mir doch eine erörternde Entscheidung darüber zugegangen wäre und auch nur die Absicht bestanden hätte, mich, solange die zu entscheidende Frage aktuelle Bedeutung hatte, auf mein Schreiben vom 21. d. M. irgendwie zu bescheiden.

Bis zum heutigen Tage bin ich nicht im Besitz einer Antwort auf mein Schreiben vom 21. d. M.

Mit vorzüglicher Hochachtung

ergebenst

Karl Liebknecht

PS. Auch jetzt (1. Dezember), bei leider verspäteter Absendung dieses Schreibens, bin ich noch ohne Bescheid.

D. O.


An das Mitglied des Reichstags

Herrn Dr. Liebknecht

Hochwohlgeboren

Reservelazarett Gesellschaftshaus des Westens

Berlin NW 7, den 30. November 1915

Euer Hochwohlgeboren haben folgende Anfrage eingereicht: Der Unterzeichnete fragt den Herrn Reichskanzler:

a) Ist der Regierung bekannt, dass die Masse des deutschen Volkes in und außerhalb der Armee – ähnlich der Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder – dringend fordert: dass ihr die Schrecknisse eines neuen Winterfeldzugs erspart werden und dass gegenüber diesem Ziele alle Eroberungspläne und alle kapitalistischen Rücksichten schlechthin zurückzutreten haben?

b) Hat die Regierung bisher etwas zur Erfüllung dieser Forderung getan und eventuell, was?

c) Ist die Regierung bereit, dieser Forderung wenigstens noch in letzter Stunde zu genügen?

Ich lehne es ab, diese Anfrage dem Reichstage zu unterbreiten und damit nach § 31a der Geschäftsordnung für den Reichstag zu verfahren, weil ihre Wirkung eine schwere Schädigung der Interessen des Deutschen Reiches herbeizuführen geeignet ist.

Der Präsident des Reichstags

Dr. Kaempf


Berlin-Schöneberg, 1. Dezember 1915

Reservelazarett, Hauptstr. 30/31

An den Herrn Präsidenten des Reichstags

Euer Hochwohlgeboren haben meine Anfrage:

1. Ist der Regierung bekannt, dass die Masse des deutschen Volkes in und außerhalb der Armee – ähnlich der Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder – dringend fordert: dass ihr die Schrecknisse eines neuen Winterfeldzuges erspart werden und dass gegenüber diesem Ziele alle Eroberungspläne und alle kapitalistischen Rücksichten schlechthin zurückzutreten haben?

2. Was hat die Regierung bisher zur Erfüllung dieser Forderung getan?

3. Ist die Regierung bereit, dieser Forderung wenigstens noch in letzter Stunde zu genügen?

abgelehnt, „dem Reichstage zu unterbreiten und damit nach § 31a der Geschäftsordnung zu verfahren", „weil" – nach dem Wortlaut Ihres mir gestern Abend gegen 10 Uhr übermittelten Schreibens – „ihre Wirkung eine schwere Schädigung der Interessen des Deutschen Reiches herbeizuführen geeignet" sei.

Es fehlt jede Geschäftsordnungsvorschrift, die Euer Hochwohlgeboren berechtigte, eine derartige politische Zensur über die Abgeordneten auszuüben. Ein solches Vorgehen ist selbst in den Annalen der russischen Duma und jedes anderen Parlaments ohne Beispiel. Ich protestiere auf das Schärfste dagegen und ersuche Euer Hochwohlgeboren unter Berufung auf die Geschäftsordnung, die bezeichnete, von mir im Interesse des deutschen Volkes und der ganzen unter den Schrecken des Kriegs leidenden Menschheit gestellte Anfrage unverzüglich nach § 31a ff. der Geschäftsordnung zu behandeln.

Einer Antwort sehe ich binnen zwei Tagen seit Empfang dieses Schreibens entgegen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Karl Liebknecht

Nachschrift

Es handelt sich nicht um ein „ungeschriebenes Recht", sondern um die förmliche Negation jedes geschriebenen und ungeschriebenen Rechts, um die Nichtachtung der Geschäftsordnung, den Umsturz eines prinzipalen Verfassungsgrundsatzes, die Verleugnung der politischen Selbständigkeit der Abgeordneten, die Etablierung nicht nur der politischen Zensur, sondern auch der politischen Diktatur des Präsidenten über die Abgeordneten und damit über den gesamten Reichstag, um einen konträren Gegensatz zum Wesen des Parlamentarismus überhaupt.

D. O.

Bis zum heutigen Tage, d. b. während der im letzten Brief gesetzten Frist, ist keine Antwort des Herrn Präsidenten eingelaufen.

Bereits am 14. Oktober verboten die Zensurbehörden „vertraulich", vor Beginn der Reichstagsverhandlungen Anfragen des Unterzeichneten abzudrucken oder darüber zu berichten. Dies geheime Verbot, das an ein ähnliches, nur verspätet ergangenes Verbot wegen meiner Anfrage vom 31. Juli knüpfte, ist zu einer Zeit erlassen, wo die Anfragen zwar dem Reichstagsbüro überreicht, von diesem aber noch nicht „in Geschäftsgang genommen" waren und der Zensurbehörde auf ordnungsmäßigem Wege gar nicht zur Kenntnis gekommen sein konnten. Inzwischen hat die Zensurbehörde der Presse auch für die Zeit nach Beginn der Reichstags-Verhandlungen den Abdruck selbst der vom Herrn Präsidenten zugelassenen Anfragen und den Bericht über die wesentlichen, mit der Einbringung der Anfragen in Zusammenhang stehenden Vorgänge untersagt.

Die Leistung der Zensurbehörde wird der Eingeweihte ohne Verwunderung, der Entschlossene mit Gelassenheit betrachten; die Mehrheit des Reichstags mag sie mit Befriedigung hinnehmen.

Die Geschäftsbehandlung der Anfragen bis zum 30. November ist in ihrer taktischen Wirkung durchsichtig. Ich behaupte, dass sie wesentlich durch den Inhalt der Anfragen, d. h. durch politische Tendenz bestimmt ist. Alle Versuche rechtlicher Begründung versagen.

Die Unterdrückung der Anfrage wegen des Winterfeldzugs zeigt das Reichstagspräsidium als Dependenz des Generalstabs und die rühmlichen Künste jener deutschen Kriegsregie. Die irgendwo aufgetauchte Verlegenheitsausflucht, die eine offenbare Gesetzlosigkeit durch Berufung auf angebliche Strafbarkeit der unterdrückten Anfrage decken möchte, sei als Kuriosum angemerkt.

Ich unterbreite die Angelegenheit dem Reichstag, obwohl sich die große Mehrheit des Seniorenkonvents bereits am 30. November im weitaus wichtigsten Punkte hinter den Generalstab und den Herrn Präsidenten gestellt hat und obwohl zu dieser Generalstabsmehrheit auch der sozialdemokratische Abgeordnete Richard Fischer-Berlin gehört hat.

Der Reichstag soll in seiner Gesamtheit und öffentlich Gelegenheit haben, sich zur Unterwerfung unter die Diktatur des Generalstabs zu bekennen.

Zur Beurteilung steht außer der Geschäftsbehandlung meiner Anfragen bis zum 30. November die Unterdrückung der Anfrage vom 11. November über den Winterfeldzug.

Über den letzten Punkt ist mit Rücksicht auf § 31a ff. der Geschäftsordnung sofort zu entscheiden.

Ich beantrage:

ihn auf die Tagesordnung der ersten Plenarsitzung3 zu stellen und diese rechtzeitig anzuberaumen.

Unternimmt der Reichstag nicht das Erforderliche, die Entscheidung dieses Punktes so zu beschleunigen, dass die Anfrage noch am 10. d. M. auf die Tagesordnung kommt, so billigt er damit diese Unterdrückung.

Dieses Schreiben ist am 5. Dezember 1915 sämtlichen Mitgliedern des Reichstags zugesandt.

Auch bei der Absendung war der Brief des Unterzeichneten vom 1. Dezember nicht beantwortet.

Ergebenst


Karl Liebknecht

Ergänzung zu der Mitteilung vom 4. d. M.

Berlin-Schöneberg, Hauptstr. 30/31

Reservelazarett

An den Deutschen Reichstag!

Nach Abfertigung der Ihnen unter dem 4. d. M. zugegangenen Mitteilung ist dem Unterzeichneten (am Abend des 5. Dezember) das folgende Schreiben des Herrn Präsidenten zugegangen, auf das die gleichfalls beigefügte Antwort ergangen ist.

Eines weiteren Zusatzes bedarf es nicht.

Ergebenst

Karl Liebknecht


An das Mitglied des Reichstags

Herrn Dr. Liebknecht

Hochwohlgeboren

Berlin-Schöneberg

Berlin NW 7, den 5. Dezember 1915

Euer Hochwohlgeboren

erwidere ich auf die beim Reichstag am 2. d. M. eingegangenen Schreiben vom 29. November und 1. Dezember ergebenst:

Ihre Anfragen konnten, wie Ihnen wiederholt schriftlich und mündlich mitgeteilt worden ist, erst, nachdem die Vertagung mit dem Ablauf des 29. November ihre Endschaft erreicht hatte, in geschäftliche Behandlung genommen, aber geschäftsordnungsmäßig nicht mehr auf die Tagesordnung für die Plenarsitzung am 30. November gebracht werden.

Bezüglich Ihres Briefes vom 1. Dezember habe ich meinem Schreiben vom 30. November nichts hinzuzufügen. Die in dem Schreiben enthaltenen beleidigenden Äußerungen weise ich zurück.

Der Präsident des Reichstags

Dr. Kaempf


An den

Herrn Präsidenten des Reichstags

Berlin-Schöneberg, 5. Dezember 1915

Reservelazarett, Hauptstr. 30/31

Euer Hochwohlgeboren

entgegne ich auf das heutige Schreiben ergebenst: „Wiederholte" Mitteilungen über die vom Reichstagsbüro geplante Geschäftsbehandlung der Anfragen hatte mir der Herr Direktor des Hauses zugehen lassen. Dagegen richtete sich mein Brief vom 21. November, der zum ersten Mal Ihre Entscheidung anrief und als erster Ihnen vorgelegt wurde. Auf die Erledigung dieser ersten und einzigen Sie anrufenden Remonstration bezog sich deutlich mein Brief vom 29. November. Ihr heutiges Schreiben geht darauf nicht ein; es begnügt sich mit Wiederholung eben der Formel, gegen die sich die Demonstration wandte. Der Brief vom 21. November ist somit materiell noch unbeantwortet.

Dass Euer Hochwohlgeboren dem bisher unternommenen Versuch zur Rechtfertigung der Unterdrückung meiner Winterfeldzug-Anfrage „nichts hinzuzufügen" haben, war mir nicht zweifelhaft. Ich habe von meiner Kritik dieses Versuchs nichts abzulassen und bedaure, nicht auf das Gebiet folgen zu können, auf dem man wichtige politische Angelegenheiten unter dem Injurien-Gesichtspunkt betrachtet.

Meine gestrige Mitteilung an den Reichstag war bei Eingang Ihres heutigen Briefes bereits abgefertigt. Ich reiche ihr sofort eine Ergänzung nach.

Hochachtungsvoll

Karl Liebknecht

1 Karl Liebknecht schrieb dazu in „Betrachtungen und Erinnerungen aus ,großer Zeit'": „Ich führte aus dem Krankenhaus … eine Korrespondenz mit dem Direktor und dem Präsidenten, die ich, zusammengefasst, den sämtlichen Mitgliedern des Reichstages und noch besonders dem sozialdemokratischen Fraktionsvorstand zugehen ließ." (Karl Liebknecht: Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, S. 440.)

2 Hugo Haase.

3 Die nächste Sitzung des Reichstags war am 9. Dezember 1915.

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