Gerichtsverhandlung erster Instanz

Gerichtsverhandlung erster Instanz vom 28. Juni 1916 vor dem Kommandanturgericht Berlin

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 75-79]

Wie der ursprüngliche Anklagevertreter erster Instanz, Kriegsgerichtsrat Matschke, der sich gegen die Anklage wegen Landesverrat gesträubt hatte, alsbald durch den Kriegsgerichtsrat Coerrens ersetzt worden war, so unmittelbar vor der Hauptverhandlung der für den Vorsitz zunächst zuständige Major Habelmann, der dienstlich behindert war, durch den Major Roether. Schon vorher war der an sich berufene Beisitzer Oberleutnant Thalenhorst durch Oberleutnant Hilgenberg ersetzt.

Zusammensetzung des Gerichts („ein auf Befehl des Gerichtsherrn der Kommandantur zu Berlin zusammengetretenes Kriegsgericht", nach dem Wortlaut des Urteils!) :

Richter:

1. Major Roether als Vorsitzender

2. Kriegsgerichtsrat Schreier als Verhandlungsführer

3. Militärhilfsrichter Dr. Ritthausen

4. Hauptmann v. Usedom

5. Oberleutnant Hilgenberg.

Vertreter der Anklage: Kriegsgerichtsrat Dr. Coerrens. Militärgerichtsschreiber: Reichel.

Gerichtsherr erster Instanz (Kommandanturgericht, Berlin):

Kommandant von Berlin, General der Kavallerie von Boehn; sein Stellvertreter, der die Berufung vom 1. Juli1 eingelegt hat, Generalleutnant Freiherr von Seebach.

Die Zugänge zum Gerichtsgebäude sind abgesperrt. Für die Verhandlung wurden Karten ausgegeben. Der kleine Zuschauerraum ist dicht gefüllt, im Verhandlungsraum zahlreiche Militärs.

Aufruf der Sache 9¼ morgens. Nach Vereidigung der als Richter berufenen Offiziere durch den Verhandlungsführer erfolgt die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse. Dann verliest der Anklagevertreter die Anklageverfügung. Im Anschluss daran stellt er den Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Verhandlung, gleichzeitig beantragt er, auch über diesen seinen Antrag in geheimer Sitzung zu verhandeln.

Verhandlungsführer: Ist dazu etwas zu bemerken?

Angeklagter: Diese Flucht aus der Öffentlichkeit hatte ich erwartet.

Verhandlungsführer: Sie dürfen jetzt keine materiellen Ausführungen zum Antrag des Anklagevertreters machen.

Angeklagter: Diese Feigheit des deutschen Militarismus, der deutschen Militärjustiz! Selbst über den Ausschluss der Öffentlichkeit soll hinter verschlossenen Türen verhandelt werden! Ich fordere Öffentlichkeit! Haben Sie den Mut dazu!

Verhandlungsführer: Diese Ausführungen sind unzulässig, der Zuschauerraum ist zu räumen!

Die Räumung erfolgt. In geheimer Sitzung begründet der Anklagevertreter sodann seinen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Verhandlung. Er stützt sich u. a. darauf, dass sogar die deutsche Volksvertretung, der Reichstag, bei der Verhandlung vom 11. Mai vor der vollen öffentlichen Erörterung zurückgeschreckt sei.

Angeklagter: Ich protestiere dagegen, dass der Reichstag, dieses unterwürfigste und erbärmlichste aller Parlamente einschließlich der russischen Duma, als Volksvertretung bezeichnet wird.

Verhandlungsführer: Solche Beleidigungen kann ich nicht dulden.

Angeklagter: In dieser politischen Sache, in der ich schärfste politische Angriffe gegen die Regierung und die staatlichen Instanzen zu vertreten habe, muss ich ungeschminkt sprechen dürfen.

Verhandlungsführer: Was haben Sie zum Antrag des Anklagevertreters zu sagen?

Angeklagter: Ich wiederhole, diese Flucht aus der Öffentlichkeit hatte ich erwartet. Die Regierung der Zensur, des Belagerungszustandes und des bösen sozialen Gewissens, die Regierung des Lebensmittelwuchers und des Dreiklassenwahlrechts für die „Helden des Vaterlandes", die Regierung, auf der die Blutschuld für diesen ungeheuerlichen Raubkrieg lastet, diese Regierung hat allen Grund, sich im Dunkel zu verstecken. Und der Militarismus hat das Licht noch nie vertragen können.

Ich habe nichts zu verbergen. Nicht die Handlungen, um die man mich verfolgt, auch nicht meine Politik. Die Politik des Klassenkampfs und der Solidarität der Arbeiterklassen aller Länder verlangt die Öffentlichkeit. Ich verlange sie für den internationalen Sozialismus.

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und verkündet nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit den Beschluss, die Öffentlichkeit während der Dauer der Verhandlung auszuschließen.

Angeklagter: Ich gratuliere Herrn v. Bethmann Hollweg!

Verhandlungsführer: Der Zuschauerraum ist zu räumen.

Im Zuschauerraum erhebt sich Rechtsanwalt Theodor Liebknecht:

Ich beantrage, der Ehefrau des Angeklagten, Frau Dr. Rosa Luxemburg, der besten persönlichen und politischen Freundin des Angeklagten, und mir, dem Bruder des Angeklagten, die Anwesenheit an der Verhandlung zu gestatten.

Verhandlungsführer: Wer einen Antrag auf Zulassung zur Verhandlung stellen will, möge vortreten und sich bei mir melden.

Fast alle Zuhörer melden sich. Nach kurzer Verständigung zwischen Verhandlungsführer und Vorsitzendem verkündet der erstere, dass nur einigen im amtlichen Auftrage (Kriegspresseamt usw.) erschienenen Offizieren die Anwesenheit gestattet werde.

Rechtsanwalt Theodor Liebknecht, erregt: Ich habe nicht recht verstanden; auch ich und die Frau des Angeklagten werden ausgeschlossen?

Verhandlungsführer: Es ist alles erwogen.

Der Angeklagte, seiner Frau und seinem Bruder, während sie mit dem übrigen Publikum den Saal verlassen, nachrufend: Geht doch hinaus und verhöhnt die Komödie!

In geheimer Verhandlung

Verhandlungsführer: Angeklagter, wollen Sie sich zur Anklage äußern?

Angeklagter: Ich erkläre folgendes (vgl. den Schriftsatz vom 26. Juni. Ich habe diese Erklärung schriftlich niedergelegt und überreiche sie hiermit dem Gericht. Ich verzichte auf alle Zeugen und sonstige Beweismittel.

Auf Befragen fügt der Angeklagte noch hinzu, was im zweiten Schriftsatz vom 28. Juni nachträglich schriftlich niedergelegt ist, und trägt seinen Schriftsatz vom 8. Mai zu 1 und den ersten Absatz zu 2 vor.

Nunmehr folgt die Verlesung des Flugblatts „Auf zur Maifeier!" und des Handzettels sowie der ausländischen Pressemeldungen über die Demonstration und das Flugblatt, der letzteren, soweit sie fremdsprachig sind, unter Übersetzung durch die Dolmetscher. Dabei stellt sich heraus, dass die vom Kriegspresseamt schriftlich zu den Akten gelieferten Übersetzungen zum Teil sehr ungenau, zum Teil geradezu entstellend sind. Nach dem Kriegspresseamt sollte z. B. „La Frontière" vom 11. Mai die Demonstration als eine Huldigung für die französische Republik bezeichnet haben; in Wirklichkeit ist von einer Huldigung für die französische Revolution die Rede.

Angeklagter: Ich stelle fest, dass diese ausländischen Pressestimmen vom Kriegspresseamt mit einer tendenziösen Parteilichkeit ausgewählt sind, die – gelinde gesagt – nicht überboten werden kann. Näheres dazu erspare ich mir.

Verteidiger2: Wir verzichten darauf, unser Pressematerial vorzulegen, das ganz anders lautet.

Anklagevertreter: Für die Auswahl der Pressestimmen bin ich verantwortlich.

Angeklagter: Um so schlimmer! Dann gelten meine Worte zugleich dem Anklagevertreter und Gerichtsherrn. – Ich wiederhole, dass ich auf alle Zeugen und Beweismittel verzichte.

Verteidiger: Auch ich bedarf keiner weiteren Beweisaufnahme.

Verhandlungsführer: Mir scheint auch, wir brauchen nichts weiter.

Anklagevertreter besteht auf Verlesung der Zeugenaussagen über die Verbreitung des Flugblatts und Handzettels außerhalb Groß-Berlins Nach deren Beendigung erklären Angeklagter und Verteidiger von neuem ihren Verzicht auf weitere Beweisaufnahme.

Verhandlungsführer: Ich meine, die Zeugen könnten entlassen werden.

Auf Verlangen des Anklagevertreters wird der Zeuge Kriminalkommissar Dr. Neumann zurückbehalten, die anderen werden entlassen.

Anklagevertreter: Ich beantrage, die Dolmetscher besonders darauf hinzuweisen, dass sie über die Verhandlung völlige Verschwiegenheit zu beobachten haben, so dass sie sich bei jeder Mitteilung über die Verhandlung strafbar machen.

Angeklagter: Auch das noch! Aber glauben Sie nur nicht, dass Sie die Öffentlichkeit ausschließen! Je mehr Sie sich darum bemühen, um so weniger wird es Ihnen gelingen, um so sicherer werden wir Ihrer Beschlüsse und Gesetze spotten. So wahr die Sonne in diesen Saal scheint, so wahr wird die Welt erfahren, was Sie im Dunkel verbergen möchten!

Verhandlungsführer: Der Herr Anklagevertreter wünscht nur, dass die Dolmetscher auf die bestehenden Gesetzesbestimmungen besonders hingewiesen werden.

Angeklagter: Eben darauf beziehen sich meine Worte.

Verhandlungsführer: Das Gericht hat keinen Grund, den Antrag des Anklagevertreters abzulehnen. (Die Dolmetscher werden über den § 18 Einführungsgesetz zur MStGO belehrt.)

Nach einer kurzen Pause ergreift der Anklagevertreter das Wort. Seine Ausführungen decken sich mit der Anklageschrift. Am Schluss des einstündigen Plädoyers beantragt er wegen versuchten Kriegsverrats und Ungehorsams 6 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust.

Der Verteidiger bestreitet in wenigen Sätzen das Vorliegen eines Kriegsverrats.

Der Angeklagte bemerkt das im 2. Schriftsatz vom 28. Juni zu 5 und 6 sowie im Schriftsatz vom 4. Juli Wiedergegebene.

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Nach etwa eineinviertelstündiger Beratung wird – bei inzwischen wiederhergestellter Öffentlichkeit – das Urteil auf 2 Jahre 6 Monate 3 Tage Zuchthaus verkündet.

Bevor der Verhandlungsführer die Begründung des Urteils beginnt, beantragt der Anklagevertreter, die Öffentlichkeit auch für die Verkündung der Urteilsgründe auszuschließen.

Angeklagter: Auch das noch! So wenig Vertrauen zur Zensur! So große Furcht vor dem Volke! Aber es wird Ihnen nicht gelingen, sich zu verstecken!

Verhandlungsführer: Die Verhandlung über den Antrag des Herrn Anklagevertreters ist geheim, der Zuschauerraum ist zu räumen.

In geheimer Sitzung begründet der Anklagevertreter seinen Antrag mit der Sorge um die Staatssicherheit. Der Verteidiger widerspricht.

Angeklagter: Nur zu! Vollenden Sie die neue Ruhmestat des deutschen Militarismus, der die Welt erobern will und den das böse Gewissen vor dem eigenen Volke in panischen Schrecken jagt! Das gehört zu einer Regierung, die bramarbasierend auf ihre Popularität pocht und die Freiheit einkerkert, die Wahrheit als Konterbande behandelt und die Lüge in allen Gassen feilbietet.

Jawohl! Die Besorgnis des Anklagevertreters vor einer Gefährdung der kapitalistischen Regierungsmacht, die Besorgnis, aus der auch das ganze Verfahren geboren wurde, ist wohl begründet. Aber diese Sorge ist meine Zuversicht.

Nun beschließen Sie wiederum nach dem Antrag des Anklagevertreters. Aber täuschen Sie sich nicht: Wie mit dem ganzen Verfahren, so werden Sie auch mit diesem Beschluss dem System, das Sie zu schützen wähnen, die tiefste Wunde schlagen.

Das Gericht zieht sich zur kurzen Beratung zurück und verkündet dann, nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit, die Ablehnung des Antrags. Die mündliche Begründung des Urteils, die nun erfolgt, besteht aus wenigen Sätzen. Zum Strafmaß heißt es: Das Gesetz lässt keine andere Strafe als Zuchthaus zu. Da der Angeklagte aus politischer Überzeugung gehandelt hat, so hat das Gericht die gesetzliche Mindeststrafe für ausreichend gehalten und die bürgerlichen Ehrenrechte nicht aberkannt. (Das Wort „Fanatismus", das der Lügen-Wolff-Bericht3 aus durchsichtigen Gründen brachte, ist nicht gefallen.)

Schluss der Verhandlung um 4 Uhr.

1 Siehe S. 112. Im Original: 1. Juni. Die Red.

2 Rechtsanwalt Otto Bracke aus Braunschweig. Die Red,

3 Gemeint ist der Bericht des Wolffschen Telegraphen-Büros (WTB) über den Prozess. Die Red.

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