Karl Liebknecht 19160800 VII Kanzlerapalogie

Karl Liebknecht: Die sieben „Glossen" Liebknechts

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 226-235]

VII

Kanzlerapologie

oder

Mehr als Paris für weniger als eine MesseA

Der Zweck des Bonapartismus gehört der inneren Politik an: die Massen von der sozialen und politischen Misere und von wirksamer Selbsthilfe ablenken.

Nach seinen Mitteln ist er außenpolitisch – als Ablenkung durch Chauvinismus nach außen; oder innerpolitisch – als Ablenkung durch demagogisches Gaukelspiel in der inneren Politik selbst: nicht „Brot und Spiele", sondern „Spiele" statt Brot; „Spiele" auch statt Freiheit und Frieden.B

Er wirkt auf die Massen sowohl unmittelbar, amtlich sozusagen, wie auch mittelbar durch die mannigfaltigsten Werkzeuge, deren vornehmste die Vertrauensleute der Massen sind. Sich die „Führer" der zu nasführenden Massen durch – bewusste oder unbewusste – Korruption dienstbar zu machen ist seine Krone.

Die Erreichung seines (innerpolitischen!) Zwecks kommt wechselwirkend den außenpolitischen Zwecken der Machthaber zugute.

Indem der Kanzler seine beiden Formen, neben der außenpolitischen auch die innerpolitische, anwendet, erfüllt er seine staatsmännische Aufgabe, die den Bedürfnissen des kapitalistischen Zeitalters, des Zeitalters der proletarischen Massen mehr als jeden anderen Zeitalters entspringt.

Trotz aller kraut- und schlotjunkerlichen Lästerzungen hat er durch seine schlaue Scheinhalbheit, durch seine gerissene Scheinlauheit, ohne die alle Similisozialisten aus der Lindenstraße, vom Engelufer und vom Brandenburger TorC längst im Kehricht lägen, bisher im Kriege aus den Massen das höchste an Vorteil für die herrschenden Klassen herausgeschlagen. Und schlägt es noch heute heraus.

Mit Haut und Haaren hängen die offiziellen Spitzen der Arbeiterbewegung, ihre meisten „Führer" in seinem Garn.D

Das ist mehr, als er einst in kühnsten Träumen gehofft haben mag; denn leichter mochte es ihm scheinen, die Massen bonapartistisch zu betäuben als die Führer. Es ist freilich auch weniger. Denn schließlich bildet die Bürokratie der proletarischen Organisationen und Institutionen, aus der die festen Kaders seiner Gefolgschaft bestehen, eine besondere Klasse für sich, sehr verschieden in ihren Lebensbedingungen und ihrer Psychologie von der Masse der Arbeiterschaft, mit der sie – als besondere Klasse – nur durch funktionelle Beziehungen verknüpft ist; in ihren Interessen – als besondere Klasse – nur insoweit mit der Arbeiterklasse verbunden, als es auf „pflegliche Behandlung", Wahrung und Mehrung des in der bürgerlichen Gesellschaft gewonnenen Besitzstandes geht; aber gerade in derjenigen Hinsicht von den Interessen der Arbeiterklasse abweichend, auf die es für eine revolutionäre Wendung der proletarischen Politik ankommt.

Immerhin, wenn auf die Dauer auch nicht die Massen – die objektiven Gesetze ihrer Entwicklung behüten sie davor! –, sondern nur die Bürokratie (der notabene ihre funktionelle Beziehung zur organisierten Arbeiterschaft gewisse – natürlich wechselnde Schranken auferlegt), auch die anderthalb Scheidemann sind noch soviel wie ein Spatz in der Hand. Und läuft nicht vorerst noch ein ziemlicher Tross von Arbeitern hinter dem Pfeifenspiel dieser Regierungswerber her? ..…

Die offiziellen Instanzen der Sozialdemokratie als Stützen des Krieges, als Stützen der Säbeldiktatur, als Stützen der inneren Reaktion, als Stützen trotz alles ablenkenden Getöns auch des Nahrungsmittelwuchers E

Der Parteivorstand und die Generalkommission als Denunzianten gegen den proletarischen Kampf um Frieden, Freiheit, Brot! Der Parteivorstand als gefälliger Kommis Bethmanns im Begriff, einen sozialdemokratischen Durchhalte-Parteitag oder eine Durchhalte-Reichskonferenz zu inszenieren!

Und all dies erlistet durch das Versprechen, einen verschimmelten Reichsverbandsschwindel künftig vielleicht ad acta legen zu wollen! Und für ein paar gekräuselte Wortschnitzel! Und für die Spottgaben des Kapitalabfindungsgesetzes1 und der Vereinsnovelle2! Glasperlen für Gold und Blut!F

Natürlich lässt sich's der Kanzler auch etwas kosten, seinen politischen Zutreibern die Erhaltung ihres Einflusses auf die Massen zu erleichtern.G Gnädig gönnt er ihnen gelegentlich Seitensprünge, radikale Donnerworte in der Nahrungs- und Zensurfrage, und sogar verlogene „Indiskretionen". Lässt ihnen zu Gefallen auch dann und wann – am liebsten als Paradestück kurz vor den Reichstagstagungen – einen der Ultras oder eines ihrer Organe von der Zensur schurigeln.H Aber doch nur pour la roi de Prusse, um ihren Wert als Lockvögel für den Imperialismus, für die Reaktion zu erhalten, zu erhöhen.

Und hat die Taktik des Kanzlers nicht die rote Internationale zertrümmern helfen und den Schwamm ins Haus der deutschen Arbeiterbewegung gesetzt?

Die deutsche Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung in ihren Führern vom Kopf bis zur Zeh beschmutzt, im Morast kapitalistischer Liebedienerei, ministerialistischen Lakaientums watend, Fäulnis bis ins Mark ihrer Knochen, korrumpiert, diskreditiert vor aller Welt. Jeder ernste Klassenkämpfer, jeder ehrliche Internationalist, jeder aufrichtige Sozialist sich mit Ekel von ihnen wendend. Das einst so stolze Gebäude der sozialistischen Arbeiterorganisationen zerborsten. Die Arbeiterbewegung vor die Notwendigkeit eines mörderischen inneren Kampfes gestellt, der Jahre hindurch währen wird.

Eines Kampfes, der indessen die revolutionären Kräfte des Proletariats nicht lähmen, nicht schwächen wird. Denn die vom Disziplinfetisch, von der Organisationsbürokratie und von dumpfig gewordenen taktischen Überlieferungen losgelösten Kräfte der stürmischsten Elemente werden die revolutionäre Bewegung beschleunigen, vorantreiben zur ungehemmten Rücksichtslosigkeit; wenn der Krieg weiteren Zündstoff sammelt und die objektiven Ursachen der Massenempörung weiter häuft, noch während des Krieges. Oder nach dem Kriege.

Jawohl! Die These des herrenhäuslerischen Fürsten stimmt: Ein Frieden mit dem bloßen Status quo wäre eine Niederlage. Nicht zwar des deutschen Volkes, wohl aber des deutschen Imperialismus, der Hohenzollern, Junker und Krupp hauptsächlich und ihrer marxistischen Schutztruppe, vom rechten Flügelmann Haenisch bis zum linken Flügelmann Lensch3 dazu.

Jawohl! Nur ein militärischer Triumph kann die drohende soziale Sintflut beschwören, kann Indemnität verschaffen, kann verhüten, dass bei der wirtschaftlichen Liquidation des Weltkriegs mit der papiernen Herrlichkeit der Assignatenwirtschaft auch die goldene Herrlichkeit der Machthaber zusammenbricht, kann die Schuldigen der blutigen Tragödie Europas vor dem Jüngsten Gericht des Volkszorns retten.

Jawohl! Keine Kapitulation! Keine „Verständigung"! Alle Fibern angespannt, alle Fibern auch des Proletariats, für den strahlenden Sieg, den man nicht zum wenigsten braucht, um eben das Proletariat weiter in die alte Knechtschaft zu verstricken. Sieg um jeden Preis!

Aber will denn der Kanzler weniger als die „Fronde" ? Er hat nur ein Übriges getan: den sozialdemokratischen Wolf zum wedelnden Hund des Kapitals dressiert.

War dieser Erfolg nicht ein paar Redefloskeln wert? Und ein paar Gelegenheiten, wo man sich in den Ministerien und Reichsämtern und sogar im Großen Hauptquartier mit Scheidemännern und Fendrichen gemein machte? Und wäre er nicht sogar noch ein paar Scheinreförmchen und ein paar Konzessions-Südekums wert? Mehr als Paris für weniger als eine Messe!

Wie könnte die Neuorientierung billiger zu einem Wind für die Massen gemacht werden?

Fürwahr, der Kanzler unterhält zur „Ochlokratie", um mit Junius Alter zu reden, Beziehungen wie etwa Hansemann selig zur preußischen Märzrevolution.

Hat er nicht auch dem bürgerlichen Liberalismus die letzten Reste freiheitlicher Wünsche so gründlich ausgetrieben, dass niemand heute demütiger die Kürassierstiefel leckt als diese Sturmgesellen von Anno dazumal mit den zottigen Männerbrüsten?

Aber die Regierungsmethode der innerpolitischen Gewalt gegen die Volksmassen? Das Allheilmittel des Ultras? Nun, die bonapartistische Demagogie ist auch heute nicht die einzige innerpolitische Weisheit des Kanzlers, unter dessen Regiment die Moabiter Unruhen4, die Wahlrechtsdemonstrationen, die großen Bergarbeiterstreiks zusammengeschossen und -gehauen wurden, der Bissingsche Korpsbefehl5 erging, Zabern6 sich ereignete. Der Kanzler, der die geschichtliche Verantwortung für die Blutströme des Weltkriegs trägt, ist auch der Kanzler des Belagerungszustandes, der Aufhebung aller bürgerlichen Grundrechte, der schmutzigsten polizeilichen Geheimspürerei, der Vogelfreiheit jedes Freiheitskämpfers, der Bedrohung und Erpressung gegen jeden Ansatz klassenkämpferischer Regung im Proletariat. Polizei und Militär haben während des Kriegs zahlreiche Hungerkrawalle und Friedensdemonstrationen brutalisiert! Tag und Nacht stehen die Garnisonen alarm- und schussbereit, um die Regierung Bethmanns, um die bestehende Gesellschaftsordnung, um den imperialistischen Krieg gegen die deutsche Arbeiterklasse zu schützen.

Seit Kriegsbeginn nörgeln die Weltmachtleute über den Einfluss der Hochfinanz, der Deutschen Bank, in der Wilhelmstraße. Ihr Interessengegensatz ist aber kein unbedingter und allgemeiner; die Versippung der Schwerindustrie mit der Bankwelt, ihre Durchtränkung mit dem Finanzkapital ist trotz vorübergehender Stockung und selbst eines scheinbaren Rückschlags während des Krieges hochgradig. Und die Berufung des Direktors der Deutschen Bank in die Regierung bildet eine klassische Leistung.

Die Kraft Helfferichs, der mit allen Hunden des Intrigantentums gehetzt ist und den Zynismus der Diplomatie mit dem der Hochfinanz vereinigt, der die Anleihen zu einem glänzenden Geschäft für das Kriegslieferantentum gestaltet und die jüngsten Raubsteuern geschaffen hat, ist unbezahlbar gerade für die Reventlow7 und Genossen und der sichtbare Ausdruck für die kapitalistische Allseitigkeit und Biegsamkeit einer Politik, die mit Gewinnbeteiligung an Krieg, Bestechung, Landesverrat, Revolutionsmacherei, Streiks und anarchistischen Bombenanschlägen arbeitet.

Von grundsätzlicher Differenz über Kriegsziel und Kriegsmittel ist vollends keine Rede. Oberflächengekräusel aber fällt heute mehr als je aus der Berechnung: Pfennigfuchsereien, wo es sich um Billionen handelt!

Die Summa lautet: Das neuromantische Gottesgnadentum der Hohenzollern, bei allen feudalen Allüren im Kern ein kapitalistisches Bürgerkönigtum mit der Losung: „Bereichert euch!", braucht mitsamt seinen Trabanten nicht nur den Krieg zum bonapartistischen Zweck. Es muss sich zum gleichen Zweck in der Pose des roi des gueux, des sozialen Königtums üben, am meisten in der Kriegszeit, um den Krieg zu vervolkstümlichen, um die Tat der außen- und innerpolitischen Dekapitierung und der wirtschaftlichen und körperlichen Ausschlachtung der breiten Massen zu erleichtern, in der Erwartung, dass das deutsche Volk nach seiner geschichtlichen Helotenüberlieferung, nach seiner Erziehung in. politischer Unmündigkeit und bürokratischem Drill die Pose für die Wahrheit nehmen und die Tat übersehen wird.

Bethmann Hollweg aber ist der Staatsmann, der zugleich die Tat auszuführen und die Pose vorzustellen hat.

Möglich, dass er sich gegen das Ultimatum an Serbien zunächst ähnlich gesträubt hat wie gegen die Mobilisation am 30. Juli; möglich, dass er manchen Vorgängen mehr als ein Hamlet denn als ein Richard III. gegenübertrat – gleichviel, er ist der geriebene und zugleich der brutale kapitalistische Geschäftsmann der inneren und äußeren Politik, zu dessen propagandistischen und Reklamemitteln ebenso die Verlogenheit wie das eifrige Rühren der Ehrbarkeitstrommel gehört.

Er ist das Urbild des in allen Wassern des Imperialismus gewaschenen Staatsmannes, die politische Verkörperung, die konzentrierte Sartre des Hochkapitalismus, die Dreieinigkeit des deutschen Dreschers, der deutschen Krämerseele und des deutschen Professors von der Leibgarde der Hohenzollern.

Und mag der „Piraten"-Kampf nebenher auch ein Zeichen der Nervosität über den Kriegsverlauf und daraus folgenden innerpolitischen Gefahren sein und, was die Kanzlerverteidigung und -gegenangriffe anlangt, ein Symptom der Besorgnis, dass die Kampfweise der Fronde, wenn sie der Regierung auch die Scheidemänner immer rettungsloser ausliefert, doch in allzu gewagtem Spiel zugleich das Vertrauen anderer Volkskreise in die Regierung zerstört:

Im Wesen ist der Ansturm, der sich scheinbar gegen den Bonapartismus der Demagogie richtet, selbst ein Haupttrumpf dieser Demagogie, deren Zweck es ist, die offene Verschiebung der offiziellen Regierungspolitik auf die eigens dafür konstruierte neue „mittlere Linie" zwischen der bisherigen offiziellen Regierungspolitik und den wildesten Scharfmacherfolgerungen so vorzubereiten und durchzuführen, dass die Durchhalte-Genossen dem „gemäßigten" Kanzler noch Halleluja singen.I Zugleich erfüllt er die Aufgabe, die union sacrée abzubauen und die innere Politik in den Friedenszustand überzuleiten. Eine Aufgabe, wie sie in Russland nach dem Willen der echt russischen Pogromisten die Politik des Kabinetts Stürmer erfüllen soll.J

Die deutschen Januschauer und die russischen Potsdamiten, „liebe Freunde" seit jeK, reichen sich wieder die Hand, die sie sich schon seit dem zweiten Kriegsmonat („Herbstsonnenfädchen" 1914) entgegenstrecken. Die Blaue Internationale mit blauem Blut in den Adern und blauem Dunst und blauen Bohnen fürs Volk.

Wenn sich das Zentrum und andere bürgerliche Parteien bei diesem Theater auf die Seite des Kanzlers stellen, so, wie sie offen ausplaudern, nicht aus annexionistischer Bescheidenheit, auch nicht aus Bereitschaft zu demokratischen Reformen. Im Gegenteil: um die annoch gefügige, aber stutzig gewordene Arbeiterschaft im Kriege weiter gründlich rupfen und nach dem Kriege ebenso gründlich prellen zu können.L

Denn alle – wie sie sich politisch nennen mögen – sind sie einig in dem Gedanken, der auch das Vaterunser der russischen Potsdamiten ist: unter allen Umständen verhindern, dass „die Früchte des Siegs durch die Revolution zunichte gemacht werden"!

So ist der Kanzler der echte Repräsentant gerade dieses Kriegs, der kapitalistischer Erwerbssucht, imperialistischer Machtgier und reaktionärem Unterdrückungswillen entsprungen und dienstbar ist, dessen kapitalistischer Beruf es ist, in sprunghaft beschleunigtem Tempo zugleich mit den brutalen Mitteln der ursprünglichen wie nach den verfeinerten Regeln der zivilisierten Akkumulation fabelhafte Reichtümer in wenigen Händen zusammenzuballen, der für diesen seinen Zweck das Proletariat ins Feuer treibt und so die intensivste Form der Massenausbeutung und Knechtung darstellt.

In schwindelndem Maße hat der Weltkrieg seine Funktion bereits erfüllt, so dass die Steinmann-Bucher aus vollem Herzen versichern können: „Wir haben Geschmack am Kriege gewonnen."

Schon beginnt sich eine gewaltige Machtverschiebung zugunsten der herrschenden Klassen zu befestigen; schon hat, ohne das Ende des Kriegs abzuwarten, eine neue Gründerperiode auf riesig erhöhter Stufenleiter eingesetzt.

Und wenn wirklich den imperialistischen Machthabern ein Sieg zu fiele, wie sie ihn erträumen, so wäre dies ein Sieg des Absolutismus, der Geheimdiplomatie, der Säbel-, Polizei- und Junkerherrlichkeit, des ökonomischen Scharfmachertums, der Privilegienparlamente, der Ausnahmegesetze, der Hakatisten8 und der Koalitionsrechtsfeinde; ein Sieg des Zollwuchers und der Steuerausplünderung, des Muckertums und der Schulreaktion, ein Sieg der arbeiterfeindlichen Mächte und Bestrebungen auf allen Gebieten, ein Sieg des Zarismus und – durch die Vergewaltigung anderer Völker – die Vorbereitung eines neuen Weltkriegs und alles in allem ein Verhängnis für das deutsche Volk, eine Heimsuchung für die Menschheit.

Und weil dem so ist, kennt das klassenbewusste Proletariat nur ein Verhältnis zu diesem Krieg: unversöhnlichen Konflikt! Und nur eine Antwort darauf: alle Fibern angespannt, nicht für den Sieg, sondern für den Klassenkampf, für die soziale Revolution!

A Überreicht August 1916.

B Die Stelle S. 84 des „Klassenkampfs" über die Methode des Bonapartismus ist, wie manche andere Stelle der Schrift, infolge äußerer Schwierigkeiten missraten und verstümmelt. Sie sollte lauten:

Die Methoden der Bonapartes gegen das Volk sind vorzüglich drei: rücksichtslose Gewalt bei guter Gelegenheit, Verwirrung und Korruption. Nur die letzten zwei rechnen zum Bonapartismus im technischen Sinn. Auf alle drei waren die herrschenden Klassen in Deutschland beim Kriegsausbruch wohl präpariert Verwirrung und Korruption sind für sie die bequemeren und wirksameren. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihnen die Anwendung dieser beiden Methoden nur allzu leicht gemacht."

C Gemeint sind der sozialdemokratische Parteivorstand, der in Berlin in der Lindenstraße seinen Sitz hatte, die Generalkommission der Gewerkschaften, deren Büro sich am Engelufer befand, und die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, deren Räume sich im Reichstagsgebäude am Brandenburger Tor befanden. Die Red.

D Die freien Gewerkschaften mit den christlichen und Hirsch-Dunckerschen verbündet, ein Block von Giesberts und Behrens bis Legien! Verbündet vor allem zur Denunziation und Ausrottung des proletarischen Klassenkampfs gegen den Krieg!

E Auch für die tatsächlich vollzogene teilweise „Evakuierung" französischer Gebiete, die man durch den bodenlosen Schwindel von der Völkerrechtswidrigkeit der englischen Blockade zu decken sucht (vgl. die amtliche Erklärung über die „Verpflanzung der Liller Bevölkerung aufs Land", „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", 17. 9. 16); auch für die Verwandlung Londons in eine „Festung London" (zur Rechtfertigung der Zeppelinangriffe!), die genauso sicher Festung ist wie Berlin, Hamburg oder Bremen.

1 Der Grundgedanke dieses im Juni 1916 angenommenen Gesetzes war, Kriegsversehrten und Kriegerwitwen nach bestimmten Richtlinien ein Stück Land zur Ansiedlung bzw. eine Heimstätte für die Ausübung eines Handwerks zur Verfügung zu stellen. Das war als einmalige Abfindung für einen Teil der laufenden Rentenbezüge gedacht.

2 Die Novelle zum Reichsvereinsgesetz von 1908, die im Juni 1916 vom Reichstag verabschiedet wurde, war ein Zusatz zu § 17 dieses Gesetzes, dem sog. Jugendparagraphen. Durch sie wurde die willkürliche und bürokratische Anwendung der Bestimmungen über politische Vereine und ihre Versammlungen auf die Gewerkschaften unterbunden und somit Jugendlichen unter 18 Jahren die Teilnahme an Gewerkschaftsversammlungen ermöglicht.

F Das nennt Bülow (S. 152): dem deutschen Leben mit der Freiheit die Zukunft retten. Genauso, wie nach Bülow jetzt, war auch 1848 die Armee „erhoben über die Auseinandersetzungen, die sich innerhalb des Staates um seine zeitgemäße Umgestaltung entspannen" (Bülow S. 149/150); nämlich erhoben als ein Richtbeil gegen die Massen des Volks. Der Bülowsche Hymnus (S. 150 ff.) auf den deutschen Militarismus, den „Geist des deutschen Volks in Waffen", „die über alle Politik und jeden inneren Gegensatz (nämlich als Richtbeil!) erhobene, zu Kraft, Willen und Tat gewordene Vaterlandsliebe des deutschen Mannes", „das beste Stück unserer staatlichen, unserer nationalen, unserer Volksentwicklung", zeigt diesen pomadisierten Phraseur auf dem Parnass der Groteskkomik. Natürlich ist nach ihm ein „Antagonismus zwischen dem deutschen Heere und dem deutschen. Volke" nicht vorhanden. Wer wollte auch die Harmonie zwischen dem Kerkermeister und Scharfrichter und dem Gerichteten verkennen? Nicht uneben ist die Definition als „das Größte", „was Preußen Deutschland gegeben hat" (S. 150).

G Es besteht die Schwierigkeit zu verhindern, dass die noch geduldigen Schäflein durch das Indianergeheul der Draufgänger auch misstrauisch gegen die Regierung werden. Darum muss sie energisch und ostentativ von ihnen abrücken. So steigert sich leicht der Ton auf beiden Seiten, und es ist selbst beim deutschen Michel keine einfache Kunst, die richtige Mischung zu finden. So bleibt auch diese Taktik der Blendung riskant und voll Reibungsflächen.

H Auch das jetzige (Anfang September 1916) Verbot der „Deutschen Tageszeitung" (die sofort ein Ersatzblatt zur Hand hatte) und die Zensur-Maßregelung Reventlows ist nicht anders zu werten. Sand in die Augen: Kurz vor der neuen Reichstagssitzung!

3 Konrad Haenisch (1876-1925) und Paul Lensch (1875-1926) vertraten vor dem ersten Weltkrieg die Politik der Linken in der deutschen Sozialdemokratie, schwenkten aber nach dem 4. August 1914 auf sozialchauvinistische Positionen um und bekannten sich zur Kriegspolitik der herrschenden Klasse. Die Red.

4 Im September/Oktober 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit, für die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse. Als Streikbrecher, geschützt durch ein starkes Polizeiaufgebot, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei Personen und verwundete zahlreiche andere.

5 Am 30. April 1907 erließ der kommandierende General des VII. Armeekorps in Münster, Freiherr von Bissing, einen Befehl mit detaillierten Anweisungen darüber, wie sich die Truppen bei Unruhen, im Falle des Belagerungszustandes, bei Straßenkämpfen usw. zu verhalten hätten. Dieses Dokument war ein typisches Beispiel für die Brutalität, mit der der bürgerlich-junkerliche Staat gegen die Arbeiterklasse vorzugehen gedachte. (Den Wortlaut des Dokuments siehe Zeitschrift für Geschichtswissenschaft [Berlin], VI. Jg. 1958, Heft 6, S. 1302 bis 1305.)

6 Im November 1913 war es in dem elsässischen Städtchen Zabern zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur, Oberst von Reuter, maßte sich aus eigener Machtvollkommenheit die polizeiliche Exekutivgewalt an, ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und 27 Personen verhaften. Obwohl diese Vorgänge in ganz Deutschland und selbst bei Teilen des Bürgertums einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla auslösten und der Reichstag nach heftigen Debatten die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte, mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen missbilligte, wurde Oberst von Reuter von einem Kriegsgericht in Straßburg von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert. Bereits während des Wütens der Soldateska in Zabern hatte der Kronprinz von Preußen an von Reuter telegraphiert: „Immer feste druff!" Der Berliner Polizeipräsident von Jagow hatte sich in einem Artikel in der „Kreuz-Zeitung" vom 22. Dezember 1913 ebenfalls vorbehaltlos auf die Seite des Militärs gestellt und gefordert, den Leutnant Forstner, einen der Hauptschuldigen an den Ausschreitungen in Zabern, straffrei ausgehen zu lassen.

7 Ernst Graf zu Reventlow (1869-1943), bis 1899 aktiver Seeoffizier, dann Schriftsteller, marinetechnischer Berater an einigen Zeitungen, z. B. „Berliner Tageblatt", „Kreuz-Zeitung", „Deutsche Tageszeitung"; trat während des ersten Weltkrieges für eine rücksichtslose Kriegführung mit allen Mitteln ein, besonders im U-Boot-Krieg; war Hauptvertreter eines annexionistischen Friedens. Die Red.

I Das Gegenstück jetzt in der Nahrungsmittelfrage. Kaum ist Oldenburg-Januschau mit seinem Donnerwetter über Batocki hergefallen, schon kommen die Cunows („Vorwärts", 12. 9. 16) mit ihren Feuereimern angelaufen, um das Haus des „Diktators" vor eingebildetem Blitzschlag zu retten. Vor Schreck sind diese politischen Schildbürger, die sich noch gestern – mit aller Vorsicht und vielen Hintergedanken, versteht sich! – ein wenig zu kritisieren getrauten, im Handumdrehen offen Batocki-offiziös geworden, was sie bis dahin allerdings im Resultat auch schon waren.

J Vgl. die Denkschrift der äußersten Rechten an die russische Regierung. „Berliner Tageblatt" vom 27. Juli 1916.

K Seinen „lieben Freund" nannte vor Jahren Herr von Oldenburg den berüchtigten Purischkewitsch. [W. M. Purischkewitsch, ein russischer reaktionärer Politiker, war 1900-1916 Beamter im zaristischen Innenministerium.]

L Auch das Jahr 1870 hatte seinen 4. August, hatte seine „herrliche Wandlung der Volksstimmung", von der Gustav Freytag schwärmt („Deutsche Tageszeitung", Feuilleton, 6. Juli 1916). Der Lohn war die Gründerperiode, die Bismarck–, Tessendorf- und Puttkämerei, das Sozialistengesetz.

8 Anhänger des Ostmarkenvereins, einer 1894 in Berlin gegründeten Propagandaorganisation des deutschen Monopolkapitals und der Junker zur rücksichtslosen nationalen Unterdrückung der Polen. Nach den Anfangsbuchstaben der Gründer, von Hansemann, Kennemann, von Tiedemann-Seeheim, auch Hakatisten-Verein genannt.

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