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Karl Liebknecht 19160406 Gegen die Kastration des Parlaments

Karl Liebknecht: Gegen die Kastration des Parlaments

Reden zur Geschäftsordnung im Deutschen Reichstag

[Nach Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 307, Berlin 1916, S. 896, 899 u. 919 und nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 566-568]

I

6. April 1916

Meine Herren, die erste Etatdebatte wurde bereits gekürzt durch Ausschaltung eines ungemein wichtigen Teils der äußeren Politik und sodann durch frühzeitige Abschneidung der Rednerliste. Bei der zweiten Etatdebatte,

(Zuruf.)

bei der Etatdebatte zweiter Lesung, bei der Generaldebatte, wie sie bei diesem Kapitel usancegemäß und nach besonderem Beschluss stattfinden soll, haben Sie bereits zu einer Zeit geschlossen,

(Zuruf: „Es ist 6 Uhr!")

wo nach dem bisherigen Brauche des Hauses niemals geschlossen zu werden pflegte. Da die Geschäftslage des Hauses es durchaus ermöglichte, weiter zu debattieren, so ist dieser vorzeitige Schluss nichts weiter als eine neue, gegen mich gerichtete gewalttätige Mundtotmachung –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, für diese Äußerung rufe ich Sie zur Ordnung! Dies gehört überhaupt nicht in eine Bemerkung zur Geschäftsordnung.

Liebknecht: Meine Herren, Sie haben mich durch diese Methode der Geschäftshandhabung verhindert, mit der Schärfe, die die Lage gebietet, den Eroberungsplänen des Herrn Reichskanzlers entgegenzutreten.

(Unruhe. – Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, das gehört nicht in eine Geschäftsordnungsdebatte. Ich kann Ihnen das Wort zur Geschäftsordnung nicht weiter erteilen.

(Lebhaftes „Bravo". – Abgeordneter Dr. Liebknecht spricht weiter. – Andauerndes Läuten der Glocke. – Lebhafte Rufe: „Ruhe! Ruhe!")1

II2

6. April 2016

Liebknecht: Meine Herren, wiederum ist mir das Wort abgeschnitten worden.

(Zurufe.)

Es wäre mir ein Leichtes gewesen, dem Herrn Abgeordneten David nachzuweisen, dass er hier wissentlich die Unwahrheit gesagt hat.

(Große Unruhe und Zurufe.)

Die Verhandlungen der Kommission – –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Das ist nicht zur Geschäftsordnung, sondern das ist zur Sache.

(Abgeordneter Dr. Liebknecht spricht weiter.)

Erlauben Sie, Herr Abgeordneter, Sie sprechen nicht zur Geschäftsordnung, haben aber nur das Wort zur Geschäftsordnung erhalten! Da Sie nicht zur Geschäftsordnung sprechen, kann ich Ihnen das Wort nicht weiter geben.

III.

7. April 1916

Vizepräsident Dr. Paasche: … Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

(Heiterkeit und Zurufe.)

Liebknecht: 3Meine Herren, lachen Sie sich nur selbst aus!

(Lachen und Zurufe.)

Den Militäretat in zwei Stunden zu erledigen und in der Weise zu verfahren, wie es mein Herr Vorredner gekennzeichnet hat, ist allerdings fast ohne Beispiel in der parlamentarischen Geschichte.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Paasche: Nachdem ich den Herrn Abgeordneten Kunert eben zur Ordnung gerufen habe, weil er eine Kritik an der Geschäftsführung geübt hat, kann ich sie bei Ihnen nicht zulassen.

Sachlich darf ich hinzufügen: Wir behandeln den Etat, wie er uns vorgelegt worden ist. In der Vorlage sind, wie die Herren sich überzeugen könnten, die Kapitel 14 bis 43 zusammengefasst, die Verhandlung erfolgt also ganz und gar der Vorlage entsprechend, und Sie haben kein Recht, eine Kritik daran zu üben.

Haben Sie sonst noch geschäftsordnungsmäßig eine Bemerkung zu machen ?

Liebknecht: Jawohl! Meine Herren, es ist auch parlamentarisch ganz außergewöhnlich, dass unmittelbar nachdem ein Regierungsvertreter, der Minister, geredet hat – –

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Ob das parlamentarisch zulässig ist, darüber entscheidet die Mehrheit des Hauses, und das Haus hat mit großer Mehrheit den Schluss der Diskussion nach der Rede des Herrn Bundesratsbevollmächtigten angenommen. Sie haben kein Recht, sich darüber zu beschweren.

(„Sehr richtig!")

Liebknecht: Herr Präsident, ich habe das gute Recht, eine Kritik an den Maßnahmen des Hauses zu üben.

(Lebhafte Rufe: „Nein! Nein!")

Gewiss, das ist zulässig, Herr Präsident!

Vizepräsident: Darüber habe ich zu entscheiden, nicht Sie!

Liebknecht: Ich habe das Recht, hier festzustellen, dass es durchaus unzulässig und eine Kastration des Parlaments ist, sofort nach einer Ministerrede Schluss der Diskussion zu machen.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich muss Sie wegen dieser Äußerung zur Ordnung rufen und entziehe Ihnen das Wort zur Geschäftsordnung.

Liebknecht: Zur Geschäftsordnung!

Vizepräsident: Nein, ich gebe Ihnen nicht wieder das Wort zur Geschäftsordnung.

(Bravo! rechts.)

1 Karl Liebknecht und Otto Rühle übergaben daraufhin dem Reichstag eine schriftliche Abstimmungsbegründung.

2 Fehlt in den „Reden und Schriften“

3 Ab hier wieder in den „Reden und Schriften“

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