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Karl Liebknecht 19160600 Meinungsverschiedenheiten und Klassengegensätze

Karl Liebknecht: Meinungsverschiedenheiten und Klassengegensätze

(Über die Gegensätze in der Sozialdemokratie)1

Handschriftliches Manuskript

[IML, ZPA, NL 1/23, Bl. 388-397. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 296-305]

A. Politische Differenzen in der Sozialdemokratie können sein I. – bei tatsächlich gleichen, identischen sozialen ( Klassen-)Interessen – die Wirkung von

1. einfachen Verschiedenheiten im Grade der Aufgeklärtheit

a) über das politische, wirtschaftliche Tatsachenmaterial (Grade der Tatsachenkenntnis);

b) über die Bedeutung dieses Tatsachenmaterials (Grade der Einsicht in die sozialen Zusammenhänge);

zu a und b Spezialfall: Verschiedene Einschätzung der eignen Macht und der Macht der anderen politischen Faktoren;

c) über die eignen Klasseninteressen (Grade des Klassenbewusstseins) ;

2. verschiedenen Auffassungen über die anzustrebende Art, die eignen Klasseninteressen zu befriedigen (über das Ziel): prinzipielle Differenzen;

3. verschiedenen Auffassungen über die Methoden, die angestrebte Befriedigungsart (das Ziel) zu erreichen: taktische Differenzen, die objektiv in prinzipielle Differenzen umschlagen, soweit die verfolgten Methoden trotz formellen Bekenntnisses zum gleichen Ziel tatsächlich nicht zu diesem, sondern zu einem andren Ziel führen.

Zu I: Meinungsverschiedenheiten.

II. die Wirkung von Verschiedenheiten in den sozialen (Klassen-) Interessen; die Folge einer Klassendifferenzierung. (Der Fall des ideologischen Anschlusses an die Interessen andrer Klassen scheidet hier aus!)

Die Klassendifferenz kann bestehen, ohne dass sie erkannt wird. Wird sie nicht erkannt, so werden die aus ihr folgerichtig und notwendig fließenden politischen Differenzen (Weltanschauungsdifferenzen) irrig als bloße Meinungsverschiedenheiten betrachtet und in um so heftigerer Weise ausgefochten, je weniger bloße Meinungsverschiedenheiten vorliegen, je weniger bloße Tatsachenkenntnis, Einsicht und Verstandeserwägung entscheidet. Das objektiv begründete Versagen selbst der schönsten, schlagendsten, lückenlosesten Beweisführung erscheint dann als Folge von Verbohrtheit, Fanatismus, Quertreiberei, Böswilligkeit und anderen geistigen oder Charakterfehlern.

B. Es ist an der Zeit, die Gegensätze in der deutschen Sozialdemokratie, die der Weltkrieg drastisch enthüllt und zur äußersten Schärfe entwickelt hat, daraufhin zu prüfen, inwieweit sie bloße Meinungsunterschiede oder das Ergebnis von sozialen Differenzen darstellen.

I. Dazu bedarf es einer sorgfältigen Beschreibung und Zergliederung des deutschen Imperialismus, und zwar nach seiner wirtschaftlichen und sozialen und politischen Art und sowohl [nach] seinem esoterischen Wesen wie seinen exoterischen Erscheinungsformen; eines sorgfältigen Distinguo zwischen den sehr mannigfaltigen, einander vielfach kreuzenden, schwächenden, steigernden wirtschaftlichen, sozialen, politischen (wozu auch militärische rechnen) Interessen verschiedener Gruppen, Schichten, Kapitalfraktionen usw. (dabei ist z. B. auch die Bürokratie, die Dynastie – und die Dynastien – als charakteristische Gruppe zu sondern): Denn der „Imperialismus" ist sowenig wie „die herrschenden Klassen" und der „Kapitalismus" etwas Homogenes, vielmehr nur eine Resultante aus ganzen Strahlenbündeln von Kräften, die im Kriege wie in einem Brennglas eingefangen und – cum grano salis – zur gemeinsamen Aktion konzentriert werden.

Dazu bedarf es weiter der sorgfältigen sozialen Zergliederung der Mitgliedschaft der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften, der Genossenschaften und aller in der Arbeiterbewegung, die sich sozialdemokratisch nennt oder ihr nahesteht, bisher tätigen Kräfte – darunter des kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Einschlags, der Bürokratie, der Ideologen; nicht minder der Mitläuferschaft (besonders bei den Wahlen); einer genauen sozialen Zergliederung auch des Proletariats selbst, in seinen verschiedenen Realeinkommens- und Lebenshaltungsstufen, in seinen Eigentumsverhältnissen und -gebundenheiten, in den verschiedenen aus seinen verschiedenen Funktionen in der heutigen Gesellschaft fließenden Abhängigkeiten wirtschaftlicher, politischer, geistiger Art, nach seiner verschiedenartigen Bestimmtheit in Stadt und Land – durch das verschiedenartige Gemengeverhältnis, in dem es mit andren Schichten der Gesellschaft lebt. Die Interferenzerscheinungen sind zu untersuchen – besonders bei den Zwischenstufen zwischen Kleinbourgeoisie und Proletariat (industriearbeitende Kleinbauern etc.). Die Rolle der proletarischen Kleinbürokratie (Unterbeamte, Staatsarbeiter etc.), der „herrschaftlichen Domestiken", des „Lumpenproletariats" ist zu prüfen. Die wirtschaftliche und geistige Position der Frauen und Jugendlichen ganz besonders. Für die Begriffsbestimmung des Proletariats ist dabei nicht von dem Cunowschen Galimathias („Revol. Zeitungsliteratur", S. 326)2 auszugehen, als werde die „Klasse" bestimmt durch die „Stellung im wirtschaftlichen Gesamtprozess, die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Existenz des einzelnen vom Wirtschaftsmechanismus", nicht aber von der „Vermögenslage oder Einkommenshöhe": Denn durch jene Momente wird nicht die Klassenzugehörigkeit, sondern nur die Zugänglichkeit für das Klassenbewusstsein bestimmt.

Darnach sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen in der Arbeiterbewegung tätigen Kräften und Strömungen zu den verschiedenen Kräften und Strömungen der „herrschenden Klassen" insbesondere des „Imperialismus" zu prüfen; ihre objektiven und subjektiven, wirklichen oder eingebildeten Verknüpfungen mit oder Gegensätze zu ihnen.

II. Sind die Differenzen in der deutschen Arbeiterbewegung nur subjektive „Meinungs"- oder objektive soziale Differenzen? Zweifellos nicht nur ersteres, sondern letzteres, und zwar entscheidend.

Es kündigen sich darin geradezu neue Klassenscheidungen an; richtiger: Es treten damit Klassenunterschiede deutlich an die politische Oberfläche, die bisher im ungeschiedenen Gemisch verworren gärten.

a) Die besoldeten Funktionäre der Bewegung, Kleingewerbetreibende usw. und alles, was unmittelbar durch Besitz oder Stellung an die heutigen Gesellschaftszustände geknüpft ist (vgl. auch das Parteivermögen, das Gewerkschaftseigentum etc.) und was sonst an den heutigen Zuständen so interessiert ist, dass das gewisse Gegenwärtige ihnen wertvoller erscheint als ein ungewisses Zukünftiges. Sie fühlen Interessensolidarität mit dem Imperialismus (wenigstens gewissen Strömungen desselben) und gewissen von seinen Kriegszielen; sie betrachten den Krieg auch als ihre eigne Sache; die „Instanzen", die „Bürokratie" ist ihr gegebener Repräsentant = Mehrheit.

b) Die besser situierten gelernten Arbeiter, Handwerker, usw. Ihnen ist die Rechnung bei dem Risiko einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den herrschenden Klassen nicht klar; sie fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut – aber schwanken. Sie wollen protestieren und „kämpfen" – und können sich nicht entschließen, den Rubikon zu überschreiten: So bleiben sie im alten Geleise, kämpfen „wie bisher", auf „gesetzlichem und statutarischem Boden", und vermögen sich nur zur Entrüstung aufzuraffen, wenn die Instanzen den „alten, bewährten" Kampfboden verlassen und die „alten, bewährten" – Statuten verletzen. Sie sind international – und haben doch ein Vaterland oder können sich doch nicht entschließen, es zu verleugnen. Sie verweigern die Kredite und sind doch die „besten Patrioten" (Ledebour) und Anhänger der Landesverteidigung. Ihr Kampf gegen den Krieg ist nur eine Rechtsverwahrung. Der Krieg ist ihnen eine unliebsame Störung und dauert ihnen zu lang. Sie sehnen sich nach Ruhe, nach dem alten Stall = Der Sumpf, die Arbeitsgemeinschaft.

c) Die besitzlose Masse der ungelernten Arbeiter, das Proletariat im eigentlichen, engen Sinn. Für sie ist die Rechnung klar. Sie haben wirklich „kein Vaterland", d. h., die imperialistischen Staaten sind ihnen nicht Vaterland, sondern schlechthin bedrückende und aussaugende Herrschaftsorganisationen. Sie haben an diesen Staaten wirklich nichts zu verlieren als ihre Ketten und durch ihre Niederwerfung und Sprengung alles zu gewinnen.

Nur sie sind Internationale der Gesinnung, des Willens, der Tatbereitschaft, nicht der Phrase oder imbezillen Hoffnung. Für sie ist die Suprematie der Internationale über alle Klassen- und alle nationale Gemeinschaft eine lebendige Realität.

Diese Massen, das Proletariat, vertreten wir.3

Für die Schicht a sind 5 Einzeltatsachen besonders charakteristisch:

1. Die Stellung zu den Nahrungsmittelkrawallen, die sie vertuscht, beschönigt, bekämpft.

In Chemnitz (November 1915) wurde von der Mehrheit heftige Klage geführt, dass von den Krawallen auch parteigenössische Geschäftsinhaber betroffen worden seien. Man glaubt die Gegensätze zwischen den Girondisten und den radikalen Demokraten aus der großen Revolution und zwischen den Liberalen und den sozialistischen Demokraten aus der Juli- und Februarrevolution gegenüber den Hungerkrawallen naturgetreu abkonterfeit zu sehen4

Eine genaue soziale Analyse der Hauptleistungen der Mehrheitspolitik während des Kriegs und ihrer Vorläufer aus der Zeit vor dem Krieg würde lehrreich sein.

2. Die Denunziation und Bekämpfung der politischen Streiks – Juli 1916.5

3. Der Verzicht der Generalkommission auf das Streikrecht der Eisenbahner (vgl. Verhandlungen der Budgetkommission des Reichstags vom Nov. 19166 – Zwangsdienstgesetz7 –).

4. Die Stellungnahme zum Zwangsdienstgesetz (Aufhebung der Freizügigkeit, des Streikrechts usw.).

5. Der Zusammenschluss der Zeitungen der freien Gewerkschaften mit den christlichen und Hirsch-Dunckerschen zur Unterstützung der Regierung und zur Bekämpfung der revolutionären Massenregungen.

C.81. Wenn die zu B II unter a und b bezeichneten sozialen Schichten (Klassen) in Klassenharmonie und Pudelergebenheit für Regierung und Imperialismus schwelgen (zu a) oder in Griesgrämigkeit und Galle über den störenden Weltverlauf jammern und zetern, schwanken, nichts tun und mit dem Stirnrunzeln eines im Mittagsschlaf gestörten Philisters nach dem Status quo des gewohnten Oppositionstrotts verlangen (zu b), so ist darum längst nicht gesagt, dass diese ihre Politik ihren, wirklichen, weiter ausschauenden Interessen wirklich dient. Das Gegenteil ist der Fall bei b und ebenso bei a – am wenigsten bei der Berufsbürokratie der Arbeiterbewegung: Deren Interesse ist durchaus auf Vermeidung jeder ernsthaften Auseinandersetzung, jedes entscheidenden Konflikts; auf Offizialität; auf eine beschauliche Fortsetzung einer mäßig bewegten, von den herrschenden Klassen wohl geduldeten, ja gern gesehenen Arbeiterbewegung gestellt, die die „Organisationen" und – ihre Stellungen, ihre Existenzen nicht aufs Spiel setzt. Die Organisation ist ihnen Selbstzweck, nicht Mittel zum revolutionären Zweck. Der Kampf ist ihnen nicht Zweck der Organisation, sondern die Organisation Zweck des „Kampfs"; die Erhaltung und Förderung der Organisation, d. h. ihrer Existenzquellen, ist der Zweck, zu dem sie – um der Organisation Zulauf zu verschaffen – überhaupt nur für Kämpfe zu haben sind; für Kämpfe in loyalen Grenzen, über die sie nur widerstrebend von den Massen hinaus gerissen werden können. Sie sind keine Revolutionäre, höchstens Reformisten; und im tiefsten Sinn – objektiv – eine an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in paradoxer Form schmarotzende Schicht. Nur Ideologie hilft darüber hinaus. Das ist der verhängnisvolle Zirkel, in dem sich die großen, zentralisierten, mit fest besoldeten und von ihrem bisherigen Klassenniveau aus gut besoldeten Funktionären versehenen Organisationen bewegen, dass sie in dieser Berufsbürokratie eine den revolutionären Interessen des Proletariats geradewegs feindliche Schicht nicht nur erzeugen, sondern zu ihrem Bevollmächtigten, Führer und gar leicht Tyrannen machen, die ein energisches Interesse gegen eine revolutionäre Politik des Proletariats hat, während die geistige und moralische Selbständigkeit, der Wille, die Initiative, die Eigenaktion der Massen zurückgedrängt oder ganz ausgeschaltet werden.

Zu dieser Bürokratie rechnen auch die besoldeten Parlamentarier.

Ein Übel, gegen das organisatorisch nur ein Kraut gewachsen ist: Beseitigung der besoldeten Bürokratie oder ihre Ausschaltung von allen Beschlüssen, ihre Beschränkung auf technische Hilfsarbeit. Verbot der Wiederwahl aller Funktionäre nach bestimmter Dauer, wodurch zugleich die Zahl der organisationstechnisch bewanderten Proletarier vermehrt wird; jederzeitige initiative Absetzungsmöglichkeit während der Amtsdauer; Beschränkung der Zuständigkeit der Instanzen; Dezentralisation; Urabstimmung für wichtige Fragen (Veto und Initiative). Bei der Wahl der Funktionäre muss das entscheidende Gewicht auf ihre Erprobung im entschlossenen, schlagfertigen revolutionären Handeln, im revolutionären Kampfgeist, in rücksichtsloser Opferwilligkeit unter bereitwilliger Einsetzung der ganzen Existenz gelegt werden. Die Erziehung der Massen und jedes Einzelnen zur geistigen und moralischen Selbständigkeit, zur Autoritätsungläubigkeit, zur entschlossenen Eigeninitiative, zur freien Aktionsbereitschaft und -fähigkeit bildet, wie die einzige sichernde Grundlage für die Entwicklung einer ihrer historischen Aufgaben gewachsenen Arbeiterbewegung überhaupt, so die wesentliche Voraussetzung für die Austilgung der bürokratischen Gefahren. Diese Erziehung hat unter der Fahne des internationalen Klassenkampfs verschärft und prononciert antimilitaristisch zu erfolgen. Die selbständige Jugendbewegung im Sinn der Jenenser Beschlüsse wird dabei ein wichtiger Faktor sein. Vgl. Leitsätze vom Januar 1916, Aktionsprogramm vom März 1916.

II. Die Schicht a (außer der Berufsbürokratie der Arbeiterbewegung) ist mehr zu ihrem Verderb als zu ihrem Gedeih mit der bestehenden Ordnung verbunden, das kleinbürgerliche Element hängt an ihr nur als an seinem Friedhof, um mit seinem Untergang als kleinbürgerliches Element ins Proletariat einzugehen. Die Schicht b unterliegt der kapitalistischen Ausbeutung, ist aber, wie die Schicht a, reformistischen Illusionen leichter zugänglich als die Schicht c. Beiden Schichten fehlt, auch soweit ihre Endinteressen denen der Schicht c verwandt oder gleich sind und trotz ihrer vielfach größeren Möglichkeit geistiger Orientierung, doch die psychische Ungehemmtheit und der Impuls zur radikalen Loslösung von der kapitalistischen Ordnung. Ihr Bekenntnis zur Internationalität, zum Sozialismus hat einen anderen psychischen Inhalt als bei dem Proletariat im engeren Sinn. Ihre Psychologie ist – unabhängig von ihren wirklichen weiter ausblickenden Interessen – durch objektive Ursachen (ihre soziale Lage) so bestimmt, dass sie den national-harmonischen und selbst imperialistischen und klassenharmonischen Vorstellungen leichter anheimfallen.

III. Schicht a und Schicht b fluktuieren natürlich untereinander und zur Schicht c. Die Grenzen sind flüssig.

IV. Wenn oben Schicht a = „Mehrheit" und Schicht b = „Sumpf" gesetzt sind, so bedarf diese Gleichsetzung zweier wichtiger Vorbehalte :

a) Angehörige beider Schichten können, nicht als fremdklassige Ideologen, sondern vermöge tieferer sozialer Einsicht und günstiger psychischer Veranlagung, dennoch politisch aus dem Rahmen der Schicht heraus in die Reihen des proletarischen Internationalismus treten.

b) Die „Mehrheit" wie der „Sumpf" verfügen über eine gewaltige Schar von Anhängern aus dem Proletariat im engeren Sinn, die geistig und psychisch unter dem Einfluss der sozialen Schichten a und b stehen, deren Vertreter diesen politischen Gruppen den entscheidenden Stempel aufdrücken.

Insofern ist „Mehrheit" und „Sumpf" Rekrutierungsfeld für den proletarischen Internationalismus.

D. Es fragt sich: Passen diese verschiedenen Elemente (B II a, b, c) unter den Hut einer politischen Partei, einer Gewerkschaftsorganisation?

Die Frage ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. Es handelt sich darum, das Mittel der Organisation auszunutzen, um die stärkste revolutionäre Macht für das sozialistische Ziel zu entfalten; dafür ist das Wichtigste (wenn auch nicht einzige): im Proletariat die stärkste revolutionäre Aktionskraft und -bereitschaft zu entwickeln.

Das praktische Problem lautet also: Welche Organisationsform ist es, die a) den Angehörigen der Schicht c das höchstmögliche Maß von Klassenbewusstsein und Schulung zum Klassenkampf vermittelt; b) die dieses höchstmögliche Maß der größten Zahl von Angehörigen der Schicht c in möglichst vollkommener Weise übermittelt; c) der Schicht c für ihre Aktion den wirksamsten technischen Apparat bietet?

Nur adminikulierend, niemals richtunggebend, kann außerdem in Betracht kommen die Eignung der Organisationsform, a) aus den übrigen Schichten – a und b – eine möglichst große Zahl als Helfer für die Politik der Schicht c zu gewinnen; aber nur als Helfer, nicht als Faktoren, die die Richtung und Kraft der Schicht c durch Einführung der Tendenzen ihrer Schicht verschieben und neutralisieren; b) die widerstrebenden oder passiven Faktoren in ihrer hemmenden Wirkung möglichst zu schwächen.

So kann das Verbleiben in einer gegebenen Organisation unter Umständen durch den Rekrutierungs- und Propagandazweck empfehlenswert sein; es kann aber auch ein Hindernis für die Klärung des Klassenbewusstseins und für die Schulung bilden. Eine große Gefahr ist die Hemmung, ja Aufhebung der selbständigen Aktionskraft, der Mangel einer eignen Organisation als des technischen Apparates für die eigne Aktion. Viel wird von dem Maß an Bewegungsfreiheit innerhalb der Organisation abhängen. Die Organisation kann so gelockert werden, dass sie nur noch eine gemeinsame Scheinfirma für verschiedene Organisationen ist. Auf Äußerlichkeiten kommt es nicht an.

Jede Organisationsform, die die Schulung im internationalen revolutionären Geist und die selbständige Aktionsfähigkeit und Initiative der revolutionären Massen hemmt, ist zu verwerfen. Jede organisatorische Gemeinsamkeit mit Anhängern der jetzigen Mehrheitspolitik ist ausgeschlossen. Eine organisatorische Beziehung zum „Sumpf" ist nur möglich bei Wahrung völliger Freiheit und Unabhängigkeit des Handelns. Keine Verbindung, die der freien Initiative Fesseln anlegt.

Diese Initiative in den Massen zu fördern ist gerade in Deutschland, dem Land des passiven Massenkadavergehorsams, die dringendste Erziehungsaufgabe, die gelöst werden muss, selbst auf die Gefahr hin, dass vorübergehend alle „Disziplin" und alle „strammen Organisationen" zum Teufel gehen. Dem Individuellen ist weit größerer Spielraum zu geben, als in Deutschland bisher Tradition. Auf das Wortbekenntnis ist geringstes Gewicht zu legen. Worte sind Schemen; selbst Verstandesbegriffe, logisch klar erkannt und bekannt, sind Schemen im Spiel der politischen Kräfte, ein Dunst, der im Sturm der politischen Tatprobe weggeblasen wird, es sei denn, dass sie Resultanten des ganzen persönlichen Wesens darstellen. Das Elementare, Instinktmäßige entscheidet schließlich im großen Massendurchschnitt, es bildet die entscheidende Grundlage, wie für die gesamte Weltanschauung, so für die nicht eingebildete, sondern wirklich politische Stellung auch bei den Individuen, trotz aller Verstandesphantasmagorie. Der Verstand ist nur ein Diener, nicht der Herr, ein Produkt, kein Schöpfer.

Die Zersetzung der jetzigen Partei und der jetzigen Gewerkschaften (deren Leiter – Generalkommission! – eben in der Eisenbahnerfrage förmlich auf das Streikrecht verzichtet haben!) vollzieht sich in den mannigfaltigsten Formen; alle, auch die scheinbar abstrusesten, werden zum Besten des proletarischen Internationalismus ausschlagen, wenn er die nötige Aktivität entfaltet. Alle abgesplitterten „radikalen" Elemente werden zu einem nach den immanenten Gesetzen des Internationalismus bestimmten Kristall zusammenschießen, wenn Intransigenz gegen allen Opportunismus, Weitherzigkeit gegen alle Bemühungen eines gärenden revolutionären Kampfgeistes geübt wird.

Juni und November 1916.

1 Originalüberschrift. Die Red.

2 Heinrich Cunow: Die revolutionäre Zeitungsliteratur Frankreichs während der Jahre 1789-94, Berlin 1908. Die Red.

3 Der folgende Text bis zum Ende des Abschnitts B II ist eine nachträgliche Ergänzung Karl Liebknechts und wurde nach seinen Angaben von uns an dieser Stelle eingefügt. Die Red.

4 Die Vergleiche beziehen sich auf die Revolutionen von 1789, vom Juli 1850 und vom Februar 1848 in Frankreich. Die Red.

5 Am 25. Juli 1916 veröffentlichten der sozialdemokratische Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften einen Aufruf, der sich gegen die wachsende Streikbewegung der Arbeiter und die Massenaktionen gegen Hunger und Krieg wandte. In diesem Aufruf warnten der PV und die Generalkommission „die Arbeiterschaft vor dem Treiben der im Dunkel der Anonymität wirkenden Protest- und Generalstreikapostel nachdrücklich" und forderten die Mitglieder auf, nur den Anweisungen der rechten Führer zu folgen und „treu zu den Organisationen zu stehen".

6 Am 24. Oktober und 3. November 1916 wandte sich der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten, von Breitenbach, gegen den Deutschen Eisenbahner-Verband, der nicht auf das Streikrecht verzichtet hatte, und bezeichnete ihn als „nicht zu den von der Staatseisenbahn zugelassenen Verbänden" gehörig. In den Debatten des Reichshaushaltsausschusses am 24. November 1916 über das Hilfsdienstgesetz wurde daraufhin von rechten sozialdemokratischen Parlamentariern versichert, „der in Betracht kommende Verband denke gar nicht daran, während des Krieges in einen Streik einzutreten" (David).

7 Am 2. Dezember 1916 beschloss der deutsche Reichstag mit den Stimmen der sozialdemokratischen Fraktion und gegen die Stimmen der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst". Danach war jeder männliche Deutsche vom 17. bis zum 60. Lebensjahr zum Hilfsdienst während des Krieges verpflichtet. Alle nicht in kriegswichtigen Einrichtungen und Betrieben beschäftigten Personen konnten zwangsverpflichtet werden. Das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes war aufgehoben.

8 Ursprünglich lautete der erste Satz dieses Abschnittes: „Trifft dies zu, so fragt sich: Passen diese verschiedenen Elemente unter den Hut einer Partei, einer Gewerkschaftsorganisation?" Gemäß späteren Angaben Karl Liebknechts wurde dieser Satz hier (siehe S. 303) von uns gestrichen und an seiner Stelle der von ihm neu formulierte Abschnitt C aufgenommen. Die Red.

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