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Karl Liebknecht 19170318 Mitteilungen, Briefe und Notizen aus dem Zuchthaus Luckau

Karl Liebknecht: Mitteilungen, Briefe und Notizen aus dem Zuchthaus Luckau

[IML, ZPA, NL 1/34, Bl. 89/90; IML, ZPA, NL 1/22, Bl. 7; Die Aktion (Berlin), 10. Jg., Heft 15/16, 17. April 1920, Sp. 209; Karl Liebknecht: Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlass Geschrieben in den Jahren 1917-1918. Unter Mitarbeit von Sophie Liebknecht herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Franz Pfemfert, Berlin 1921, S. 57-59 und 12 f.; IML, ZPA, NL 1/27, Bl. 5; Jugend-Internationale (Berlin), Nr. 19, März 1920, S. 6/7. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 332-342]

Brief an Wilhelm Liebknecht1

Luckau, den 18. März 1917

Mein liebster Helmi-Junge!2

Vor meinem Fenster braust u. schreit der Frühlingssturm u. rennt stürmisch durch den Engpass zwischen den Mauern. Warm ist's nicht; gewiss nicht; wenn auch Schnee u. Eis vor diesem wilden Burschen eilig Reißaus nehmen. Märzluft. So mag's in Deinem Köpfchen, Deinem Herzchen aussehen Da heißt's: die Lungen weit aufgespannt – Bewegung u. Entschlossenheit in die Muskeln, die Glieder. Hinaus in den Kampf. In den Kampf draußen u. in den Kampf drinnen, in sich selbst. Nur kein Verduseln, kein Verstocken, kein Stubenhocken, keine Mutlosigkeit:

Feiger Gedanken

Bängliches Schwanken,

Weibisches Zagen

Ängstliches Klagen

Wendet kein Elend,

Macht Dich nicht frei.


Allen Gewalten

Zum Trutz sich erhalten,

Nimmer sich beugen

Kräftig sich zeigen

Rufet die Arme

Der Götter herbei.3

Ich bin froh, in Deinem letzten Brief zu lesen, wie allseitig Deine Interessen sind u. wie Du die Schule u. was dort gelehrt wird achtest, ja liebst. Wenn Du aber bekennst, dass Du in manchem schlecht stehst, weil Du zu Hause nicht für die Schule, sondern auf andren Gebieten arbeitest: so bekennst Du damit einen Grundirrtum über das Wesen alles Wissens, alles Lernens. Non multa, sed multum! Nicht in oberflächlicher Expansion, sondern in gründlichem, tiefem Eindringen, im vollen Beherrschen eines wenn auch engeren Gebiets liegt auch der Umfang des Wissens, der Bildung. Denn dieser Umfang ist nicht räumlich, sondern mehrdimensional Die Intensität ist seine wichtigste Dimension. Hast Du ein Gebiet fest erobert, so kannst Du, von dort aus sicher orientiert, dort fest angesiedelt, die Welt überblicken, die Welt beherrschen. Was hat ein Wissen, das kein Wissen ist, für eine andre Wirkung, als zu verwirren statt zu klären, zu schwächen statt zu kräftigen!

Gerade Latein u. Mathematik sind ungemein wichtig. Von höchstem Bildungswert für den Verstand! Bedeutsamste Gradmesser für die Reife des Verstands, des Scharfsinns, des Gedächtnisses. Ganz ungeachtet ihrer Wichtigkeit für die allgemein-wissenschaftliche Entfaltung des Geistes.

Von S[onja] erfuhr ich, dass die Versetzungsarbeiten gut ausgefallen sind. Hoffentlich stimmt das. Wenn Ihr mich in etwa 3 Wochen besucht, bringt die Zeugnisse mit. Ich will mich genau unterrichten.

Vor allem: Wenn auch die Klippe jetzt umschifft ist – das genügt nicht! Ich will u. fordere, dass in Zukunft die Gefahr vermieden wird; ich will, dass von nun an auch nicht einmal vom ängstlichen Gemüt die Sorge geäußert werden darf, ob nicht Gefahr bestünde: Es soll, es muss alles glatt gehen! In Deinem, in Sonjas, in meinem, in unser aller Interesse. Das fordert das primitivste Ehrgefühl, gerade in unsrer jetzigen Situation. Ich hoffe, Du siehst das ein. Und beherzige:

Willst Du, mein Sohn, frei bleiben, so lerne was Rechtes und halte Dich genügsam und nie blicke nach oben hinauf!"

Nach oben – d. h. zu den Reichen und Bequemen: denn Dein Leben soll u. wird Arbeit u. Kampf u. Mühe sein; nicht Sonnenscheinbehagen.

Aber gerade darin soll u. wird Dein Glück liegen. Das soll das Goethesche Distichon sagen. Du musst lernen, dass die Menschen nichts andres sind als eine höhere Art von Tieren. Jeder voll Schwächen u. Kräften, voll des „Guten" u. des „Bösen"; dass sie naturgeschichtlich zu betrachten sind; dass die Aufgabe des Menschen, der sich bewusst ein höheres Ziel setzt u. der von seinem Inneren vorangetrieben wird, das Edle zu fördern, dass dessen Aufgabe ist, sich mit allen seinen Fähigkeiten, mit seinem ganzen Wesen hineinzuwerfen in das gewaltige Ringen um die Höherentwicklung der Menschheit, die Befreiung der Massen, um die Wohlfahrt aller. Der Krieg u. die vielen Mängel der Welt plagen u. bekümmern Dich – jawohl – sie müssen jedes Gemüt umdüstern; aber aus der Nacht gibt's Rettung, nur eine Rettung freilich: den Entschluss, die Beseitigung dieser Übel sich zum Lebenszweck zu setzen. Nur das Leben ist unmöglich, das alles laufen lassen wollte, wie es läuft. Nur das ist möglich, das sich selbst zu opfern bereit ist, zu opfern für die Allgemeinheit.

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebend'ge will ich preisen,

Das nach Flammentod sich sehnet.

Und solang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und Werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde."4

Mein Leben war bisher, trotz allem, glücklich, gerade in den Zeiten, in denen ich am heißesten zu kämpfen u. zu „leiden" hatte. Und so wird's Dir sein. Das ist unser Krieg! Verstehst Du?

Du sollst nicht über Deine Bedenken hinweg hopsen – Du sollst nicht auf meine Worte hören – Du musst alles von Grund aus durcharbeiten, selbst für Dich – durchfechten; könnt' ich dauernd bei Dir sein, viel könnt' ich Dir helfen. So wirst Du mir schreiben – stets darfst Du's, wenn Du mich ernstlich brauchst! Nie fehle ich Dir …

In 3 Wochen ca. werde ich Euch hier haben – ich erwarte Euch gesund u. voll guter Nachrichten.

Um mich keine Sorge. Ich hatte sogar ein paar (2) Wochen täglich V2 Liter Milch. Und wenn man friert, macht man Freiübungen, u. abends geht's früh ins Bett. Ich muss schließen – Brief wird abgeholt.

Küsse, Küsse, Küsse

Dein Papa

Grüße allen. Alles Beste.

All Deine Sorgen möcht ich Dir fort küssen – fort scheuchen – mein armer kleiner Kämpfer! Nun, in dem Kampf siegen wir! [An den Rand geschrieben:]

Ihr sollt die Matthäus-Passion hören – in klassischer Aufführung –, das wundervollste Werk auf dem Gebiet des Oratoriums. Die Noten hatte ich im Militärarrest. Studiere sie vorher. Nicht ganz leicht zu verstehen. Kontrapunkt u. Fuge – sieh im Musiklexikon nach, was das ist. Gleich der erste Satz: 8stimmiger Chor nebst Cantus firmus; durchblickt man das Zaubergewebe, ist man bezaubert vor Seligkeit. Nichts Süßeres, Zarteres, Rührenderes u. – in den Volksszenen – nichts Großartigeres kennt die Musik.

Lies Faust, Dichtung u. Wahrheit! Hermann u. Dorothea! u. Egmont, mein Kind – lern ihn auswendig.

Lies Schiller, er ist viel größer, als Du meinst; ich schlürfe ihn gerade wieder ein. Herders Cid!, „Stimmen der Völker in Liedern".

Mitteilung an Ernst Meyer

Ernst:

Nicht zerstören, auch nicht das Äußre des Manuskripts5 sondern nur in letzte Form bringen, durchsehen u. ergänzen. Eigenart lassen – dafür ohne Verantwortung – im Vorwort ausdrücklich hervorheben.

Ernst: Mitverfasser. Plan erwähnen:

Mit Morizet u. Walton Newbold (Informator von Gen. Snowden, Verfasser von Broschüren! Z. B. „War Trust exposed"!) gemeinsam! Unmittelbar vor Krieg; durch Krieg zerschlagen.

Meine sehr viel zusammenfassende Rüstungskapitalrede von 1914

April 1917.

Versicherung auf Gegenseitigkeit

Scheidemann steht mit Reventlow6 und Genossen in einer Schimpf- und Beschämungsversicherung auf Gegenseitigkeit7, die wenigstens für Scheidemann eine gewisse Garantie seiner augenblicklichen politischen Existenz bietet: Sie gewährt ihm das Mindestmaß von „Märtyrertum", dessen er neben der gelegentlichen oppositionellen Geste so dringend bedarf, um die Massen weiter nasführen zu können. So paradox diese Form der Beihilfe für die verräterische Mehrheitspolitik ist, sie rentiert sich vortrefflich für die alldeutschen Scharfmacher, die den unersetzlichen Wert der Mehrheitspolitik für die imperialistischen Interessen gar wohl begriffen haben.

Mitte 1917.

Imperialistische Ausblicke

I. Die Grenze für die Pressionspolitik wie für die ganze Expansion des deutschen imperialistischen Komplexes richtet sich – abgesehen von den sozialen Gegenwirkungen – nach dem Grad der kapitalistischen Interessenübereinstimmung oder -gegensätzlichkeit zwischen Deutschland und den von ihm beanspruchten Einflussgebieten sowie nach dem Verhältnis zwischen der dauernden imperialistischen Ausdehnungsmacht Deutschlands (des deutschen Komplexes) und der Widerstandskraft der beanspruchten Einflussgebiete (insbesondere der besetzten und ihrer indirekt gepressten Hinterländer), wobei der Einfluss der anderen imperialistischen Komplexe eine immer entscheidendere Rolle spielt: Jenes Verhältnis wird in stets wachsendem Maße ein Ausdruck des Gegensatzgrades und des Machtverhältnisses zwischen den verschiedenen imperialistischen Komplexen oder Systemen sein. So etwa war an anderer Stelle gesagt; auf die Folgen der Divergenz und Diskordanz zwischen der nur militärischen und der imperialistischen (politischen und wirtschaftlichen) Expansionskraft hingewiesen und die Frage aufgeworfen, ob die imperialistische, d. h. die politische und wirtschaftliche, Kraft Deutschlands auf die Dauer die militärisch gewonnenen Machtpositionen behaupten kann.

Die Beantwortung der Frage (vom rein imperialistischen Boden aus) hängt nach obigem nicht von der absoluten Größe dieser künftigen imperialistischen Kraft ab, sondern – außer vom Grade des kapitalistischen Antagonismus – von ihrer relativen Größe, von ihrem Verhältnis zu der eigenen wirtschaftlichen und politischen Kraft der umstrickten Einflussgebiete und der in ihnen wirksamen Kraft der anderen imperialistischen Systeme. Hier öffnen sich unbegrenzte Perspektiven. Der polnische Versuch, noch unter der unbemäntelten Okkupation eine gewisse Widerstandskraft herauszubilden, ist voller Interesse.8

Russland beginnt das elementare Lebensgebot zu erfüllen und sich systematisch wieder aufzubauen, wirtschaftlich und politisch durch Neuorganisation seiner entfesselten Kräfte – und militärisch; wobei es gegen den deutschen Imperialismus den amerikanischen (wirtschaftlich) und französischen (militärisch) Einfluss einzusetzen und auszuspielen scheint.

Alle kapitalistische Durchdringung und imperialistische Beherrschung hat, wie der Kapitalismus überhaupt, die Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen. Sie führt früher oder später zur wirtschaftlichen und politischen Verselbständigung der beherrschten Völker, Verselbständigung natürlich nur im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung, innerhalb der weltwirtschaftlichen Gebundenheit, relative Selbständigkeit zunächst innerhalb der einzelnen, imperialistischen Systeme – der Vorstufe vor der höheren Stufe einer allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Zusammenfassung der Menschheit zum einen und unteilbaren sozialistischen Weltsystem.

Wir sehen die Paten- und Vormundschaft des englischen Kapitals am Deutschland des 19. Jahrhunderts und ihr Ende. Wir sehen die Verselbständigung der englischen Dominions innerhalb des britischen Imperiums, ja auch darüber hinaus. Die Imperialisten aller Systeme müssen verzweifelt erkennen, dass auch sie am Ende von den Kreaturen abhängen, die sie machten, und dass sie den Bau, den sie errichten, nicht vollenden und nicht bewohnen werden, dass sie in all ihrer Herrlichkeit nur Kärrner einer besseren Zukunft sind.

II. Die riesige finanzielle Belastung, mit der außer Japan alle kriegführenden Staaten aus dem Kriege hervorgehen werden, wird ihre wirtschaftlichen und politischen imperialistischen Ausdehnungstriebe ungemein verstärken (und in der ursprünglichen Akkumulation gesteigert). Ebenso wird (nur im Sinn der Kapitalanlage verstärkt) bei den finanziellen Kriegsgewinnländern (bes. Japan) ihre günstige Finanzlage wirken und allgemein die zu gewärtigende Abschließungstendenz. Andererseits wird das Bestreben der Mutterländer, die finanziellen Lasten auf Kolonien und Dominions abzuwälzen, Loslösungstendenzen zeitigen und fördern – als Flucht vor dem Steuerdruck, eine Gefahr, die besonders England und Frankreich bedroht.

Mitte 1917.

Deutschland und die russische Revolution

1904 schleuderte Fürst Bülow jenes „tua res agitur" (d. h. des Deutschen Reiches) gegen die aufdämmernde russische Revolution; und wie über ein Jahrhundert vorher, so war das Jahrzehnt bis zum Ausbruch des Weltkrieges eine dauernde borusso-zarische Allianz gegen die russische Revolution. Hat sich dies seit dem August 1914, in dem die Kriegsstimmung des deutschen Volkes mit der frechen Demagogie „Gegen den Zarismus!" aufgepeitscht wurde, und gar seit dem März 1917 in sein Gegenteil verkehrt? Natürlich nicht. Die Katzenfreundlichkeiten gegen das revolutionäre Russland sind ein integrierender Bestandteil, ja das Hauptingredienz der jetzigen deutschen Intrige gegen das revolutionäre Russland, das halb friedensreif geprügelt, halb friedensreif gestreichelt werden soll. Sicherlich ist der Bedarf der deutschen Reaktion nach einer Stütze außerhalb Deutschlands seit der Waffenstreckung der deutschen „Sozialdemokratie" und bei der traurigen Passivität der deutschen Arbeiterklasse ungemein verringert, wie andererseits die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Zarismus oder eines politischen Gleichwerts dafür bei den deutschen Interessenten noch keineswegs aufgegeben ist. Doch lassen sich Wandlungen der offiziellen und auch der alldeutsch-junkerlichen Kriegszielpolitik gegenüber Russland erkennen, die auch vom Gesichtspunkt der inneren Politik Deutschlands betrachtet werden müssen: Das zarische Russland durfte für die preußisch-deutsche Reaktion stark sein, ja musste oder sollte es doch sein. Ein revolutionäres Russland darf für die preußisch-deutsche Reaktion auch heute so wenig stark sein wie eine revolutionäre Macht in Deutschland selbst: Es bedroht die innerpolitische und soziale Position der herrschenden Klassen des Deutschen Reichs. Tua res agitur – gilt ihnen trotz aller aus schlauer Sonderfriedens-Übertölpelungsabsichten geborener revolutionsfreundlicher Versicherungen auch heute, auch für die weitere Zukunft und für die kommende Friedenszeit – um so mehr, je radikaler und je machtvoller die russische Revolution ist.

Auch hier liegt eines der Motive für die Operationen um Riga9 und die immer klarer hervortretenden Annexionspläne nicht nur in Bezug auf Polen, sondern auch in Bezug auf Litauen und die Ostseeprovinzen.

Mitte 1917.

Das zarische Russland war uns gewiss zu groß – ein freies, ein revolutionäres Russland kann uns nicht groß genug sein.

1917.

Die Aufgaben der deutschen Arbeiter nach dem Kriege

Beim Versagen des Proletariats, beim Ausbleiben der sozialen Revolution gegen den Krieg, bei deutschem Sieg vor allem, werde der ganze Krieg „umsonst" geführt, würden die ganzen Opfer „umsonst" gebracht sein – so hört man oft.

Ja, wenn das nur wäre! Wenn das internationale Proletariat seine Arbeit, seinen Kampf nach dem Kriege in der Machtstellung und in dem Punkte wiederaufnehmen und fortsetzen könnte, in denen es sich bei Kriegsausbruch befand!

Aber es ist in allen kriegführenden Ländern grauenhaft geschwächt – physisch und moralisch; die besitzenden Klassen der siegreichen Länder sind gewaltig gestärkt – politisch und wirtschaftlich. Die meisten Führer und ein großer Teil der arbeitenden Massen in den siegreichen Ländern bis ins Mark korrumpiert, betäubt, desorganisiert oder entmutigt; in den besiegten Ländern bis zur Raserei chauvinisiert oder verzweifelt; die besitzenden Klassen selbstbewusster und zielklarer als je. Das Proletariat aktionsunfähiger, die besitzenden Klassen aktionsfähiger als je. Die internationale Solidarität gewaltig gehemmt – die Völkerverhetzung gewaltig erleichtert, ja zum chronischen Zustand erhoben. Der Imperialismus triumphierend, der Sozialismus diskreditiert – selbst die Kommune von 1871 rückwirkend …10: Ein Riesendefizit, nicht eine Null ist das Kriegsergebnis für das revolutionäre Proletariat!

Aus dem Deutsch-Französischen Kriege, aus allen Kriegen seitdem ging der Sozialismus rein und neu geheiligt, neu gestählt hervor – aus dem Weltkriege als ein Trümmerhaufen. Ein Trümmerhaufen seiner Ideologie, ein Trümmerhaufen seiner Organisationen – am meisten dort, wo sie sich äußerlich durch Unterwerfung unter die herrschenden Gewalten am besten erhalten haben, d. h., als Ganzes den Todfeinden des Proletariats in die Hand gespielt sind.

Die Arbeiterbewegung bis hinter das Jahr 1870 zurückgeworfen: Das ist das Fazit.

In jedem einzelnen Lande und in der Internationale muss von vorn angefangen werden – in der Aufklärungsarbeit, in der Organisation, in der Schulung zum Klassenkampf, in der Erziehung zur internationalen Solidarität.

Die Schöpfung einer aktionsfähigen internationalen Massenorganisation und -bewegung des Proletariats, diese grundlegende Aufgabe, hat von neuem zu beginnen; unter schwierigeren Bedingungen als je. Alle Hände ans Werk! Arbeiten – nicht verzweifeln!

Auch nach dem Kriege wird, wie während des Krieges, ja, in noch höherem Maße oder doch offensichtlicher, Deutschland der Schlüssel- und Angelpunkt der internationalen Lage sein; besonders für die revolutionäre Entwicklung. Und Pflicht des deutschen Proletariats ist höchste Aktivität – um so mehr, je mehr es während des Krieges versagt hat. So wird es seine historische Schuld zu büßen haben, nur so seine Schuld sühnen können. Vor den künftigen Geschlechtern aber wird der deutsche Arbeiter verflucht und verworfen sein, der diese Pflicht nicht erkennt und erfüllt.

Im Einzelnen wird unsere Aufgabe sein:

1. Unter Zugrundelegung der nach dem Kriege vorhandenen staatlichen Gestaltungen und ihren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und historischen Bedingungen in jedem Lande die Anhänger zu sammeln, zu ordnen, im Geiste des revolutionären Internationalismus zu schulen und in diesem Geiste mit aller Kraft und den wirksamsten Mitteln (ohne Rücksicht auf Gesetzfreiheit? Natürlich!) Massenagitation und -organisation zu betreiben.

2. Vom Boden der nach dem Kriege vorhandenen staatlichen Gebilde, imperialistischen Komplexe, kapitalistischen Weltbeziehungen ausgehend, die proletarische Internationale als Zusammenfassung der vom Geiste des revolutionären Internationalismus erfüllten Proletarier aller einzelnen Länder als den Träger des internationalen Klassenkampfes wiederherzustellen.

3. Die nach dem Kriege vorhandenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Massenerregungen für Organisation und Kampf in allen Ländern auszunutzen.

4. Die nach dem Kriege vorhandenen nationalen Gegensätze durch Umschmelzung möglichst auch in den Dienst des internationalen Klassenkampfes zu stellen oder doch für diesen Kampf möglichst unschädlich zu machen.

5. Den internationalen Klassenkampf in allen Ländern auf allen Gebieten mit aller Schärfe zu führen; dabei die spezielle antimilitaristische Arbeit (Agitation und Organisation!) in den militärischen und nichtmilitärischen Massen mit besonderem Eifer zu betreiben.

6. Bei alledem den Hauptnachdruck auf Deutschland zu legen: Die deutschen Massen müssen vor allem gewonnen und vorangetrieben werden.

7. Nach den Bedürfnissen, wie sie durch die Aufgaben zu 1-6 diktiert werden, die verräterischen, unzuverlässigen, falsch orientierten und schwächlichen (nicht aktionsfähigen) Strömungen im Proletariat zu bekämpfen.

Mitte 1917.

1 Brief ging durch die Zensur der Zuchthausverwaltung. Die Red.

2 Ältester Sohn Karl Liebknechts, geb. am 6. März 1901. Die Red.

3 Goethes Werke. Hrsg. von Prof. Dr. Karl Heinemann, Neunzehnter Band, Leipzig und Wien o. J., S. 28/29. Die Red.

4 Goethe. Poetische Werke. Gedichte und Singspiele III, West-östlicher Diwan, Berlin 1965, S. 22. Die Red.

5 Karl Liebknecht hatte unmittelbar vor Kriegsausbruch ein Manuskript fertiggestellt, das als Teil einer gemeinsamen Arbeit mit dem Franzosen Andre Morizet und dem Engländer Walton Newbold über das internationale Rüstungskapital gedacht war. Karl Liebknecht schrieb am 18. März 1918 an seine Frau, dass sie versuchen solle, entweder Ernst Meyer oder Julian Marchlewski-Karski – mit letzterem habe er schon öfter darüber gesprochen – zu bitten, das „Rüstungsmanuskript" in der vorliegenden Form mit „kurzer Ergänzung auf die neuere Zeit" herauszugeben. Über das Schicksal des „Rüstungsmanuskripts" ist bisher nichts bekannt geworden.

6 Ernst Graf zu Reventlow (1869-1943), bis 1899 aktiver Seeoffizier, dann Schriftsteller, marinetechnischer Berater an einigen Zeitungen, z. B. „Berliner Tageblatt", „Kreuz-Zeitung", „Deutsche Tageszeitung"; trat während des ersten Weltkrieges für eine rücksichtslose Kriegführung mit allen Mitteln ein, besonders im U-Boot-Krieg; war Hauptvertreter eines annexionistischen Friedens. Die Red.

7 Am 15. Mai 1917 hielt Philipp Scheidemann zu den Fragen der Kriegsziele im Reichstag eine „oppositionelle" Rede, in der er mit der Gefahr der Revolution drohte, wenn die Regierung nicht unzweideutig auf alle Annexionen verzichten würde. Er wandte sich besonders gegen die von den Alldeutschen propagierten Eroberungsziele und verteidigte sich vor allem gegen Reventlow und dessen Gesinnungsfreunde, die die SPD als „Verständigungspolitiker" und deren Friedensvorstellungen als „Verzichtfrieden" bezeichnet hatten. Gleichzeitig setzte sich Scheidemann für die imperialistische Durchhalte-Politik als „Verteidigung unseres Landes" ein.

8 Am 5. November 1916 wurde durch die Regierungen der Mittelmächte ein „unabhängiger polnischer Staat" mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung proklamiert und ein Provisorischer Staatsrat eingesetzt. Im Frühjahr 1917, unter dem Einfluss der Februarrevolution in Russland, kam es zu Kundgebungen und Streiks gegen die verschärfte Unterdrückung und Ausbeutung des polnischen Volkes durch die deutschen Okkupanten. Gleichzeitig unternahm der Provisorische Staatsrat Versuche, sich von der Bevormundung durch die deutschen Imperialisten zu lösen und einen selbständigen, bürgerlichen polnischen Staat aufzubauen.

9 Im Ergebnis dieser Operationen wurde Riga am 3. September 1917 von deutschen Truppen besetzt. Die Red.

10 Punkte in der Quelle. Die Red,

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