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Rosa Luxemburg 18960700 Der Sozialpatriotismus in Polen

Rosa Luxemburg: Der Sozialpatriotismus in Polen

[erschienen in Die Neue Zeit (Stuttgart), 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 459-470, nach Gesammelte Werke, Band 1/1, Berlin 1970, S. 37-51]

Die Stellung, die S. Haecker (Krakau) und seine Genossen in dem Artikel über den „Sozialismus in Polen" in der „Neuen Zeit", Nr. 37, dem Sozialpatriotismus gegenüber eingenommen haben, ist unseres Erachtens keineswegs geeignet, in dieser Frage Klarheit zu schaffen. Nach Haeckers Erklärungen soll der Unabhängigkeit Polens kein Platz im Programm der polnischen Sozialisten eingeräumt werden, sie soll aber als ein „Postulat" in der Agitation zur Geltung kommen. Es ist jedoch selbstverständlich, dass, ob man die fragliche Forderung „Programm" oder „Postulat" nennt, die Sache unverändert bleibt. Die sozialpatriotischen Tendenzen führen zum kleinbürgerlichen Nationalismus, nicht weil sie im Programm geschrieben stehen, sondern weil sie in der Agitation betätigt werden. Ein bloßer Namenswechsel beseitigt also weder die Notwendigkeit, eine Begründung der sozialpatriotischen Forderung vom sozialdemokratischen Standpunkt zu geben, noch auch die nachteiligen Folgen der Annahme dieser Forderung in der Agitation.

Ebenso wenig weiß Haecker über die Durchführbarkeit dieses „Postulats" etwas Befriedigendes zu sagen. Wenn er beteuert, dass er und seine Genossen „ja nicht von vornherein behaupten", sie seien imstande, „die Unabhängigkeit Polens vor dem großen Kladderadatsch durchzuführen", so ist das keine Lösung der Frage, sondern ein vergeblicher Versuch, ihr aus dem Wege zu gehen. Denn die Wiederherstellung Polens als eines Klassenstaates erst nach „dem großen Kladderadatsch" ist ein Unsinn und die nationale Befreiung Polens nach demselben ist selbstverständlich, kann also kein besonderes Postulat in der heutigen Agitation bilden. Was aber das Wichtigste ist – niemand von den Sozialpatrioten denkt in der Tat bei der Aufstellung dieser Forderung an etwas anderes als an einen polnischen Klassenstaat. Der Auswärtige Verband polnischer Sozialisten ebenso wie die unzahlreichen sozialpatriotischen Elemente in Russisch-Polen, mit denen sich die galizischen Sozialisten solidarisch erklären, verwerfen sogar rundweg die Forderung einer Verfassung in Russland und betrachten als ihr nächstes Ziel die Errichtung einer polnischen Republik, in der man das Lohnminimum, die Freiheit der Streiks etc. haben werde (s. Bulletin officiel, London, Nr. 1). Auch soweit, die galizischen Sozialisten in der Agitation diese Forderung aufzustellen und zu begründen versuchten, war es immer ein bürgerlicher polnischer Staat, den sie im Auge hatten. Das angestrebte Polen ist also ein vor dem großen Kladderadatsch zu errichtender polnischer Klassenstaat, und die Frage, auf welchem Wege das Proletariat denn einen solchen errichten soll, bleibt, wie auch früher, offen.

Endlich erklärt Haecker das gemeinsame Vorgehen der drei polnischen Parteien wie bei der Maifeier durch pekuniäre und andere untergeordnete Rücksichten; das verhindert aber nicht im Mindesten, dass ein solches Vorgehen in den wichtigsten Momenten des Parteilebens im Grunde genommen ein Zusammentreten zu einer gemeinsamen politischen Aktion ist, ohne dass der Boden zu einer solchen, angesichts der verschiedenen Bedingungen, in denen die polnischen Sozialisten wirken, von Haecker aufgewiesen wurde und auch aufgewiesen werden konnte.

Ebenso weiß Haecker unseren Ausführungen über die notwendigen Konsequenzen der sozialpatriotischen Aspirationen in der Bewegung nichts anderes als die heutige Praxis der polnischen Parteien entgegenzuhalten, die jedoch, wie wir ausdrücklich betonten, „nicht in Betracht kommt", weil sie „offenbar nur auf Rechnung des ihnen mit den deutschen und österreichischen Genossen gemeinsamen Programms zu setzen und keineswegs als die praktische Betätigung der Forderung der Unabhängigkeit Polens zu betrachten" ist. Unsere Hinweise dagegen auf den neueren Widerspruch zwischen dem Sozialpatriotismus und dem sozialdemokratischen Kampf, auf die theoretische Haltlosigkeit des ersteren blieben gänzlich unbeantwortet.

Wir glauben daher annehmen zu dürfen, dass die Antwort Haeckers besser als alles andere die Unmöglichkeit beweist, den sozialpatriotischen Standpunkt aufrechtzuerhalten, und sehen uns daher der Notwendigkeit enthoben, weiter auf die praktischen Fragen der galizischen Bewegung einzugehen. Wir wollen uns deshalb nur, im Anschluss an Haeckers Artikel, mit zwei Punkten von allgemeiner und prinzipieller Bedeutung befassen: mit der Resolution zum Londoner Kongress [1896], die Haecker auch als diejenige der galizischen Partei verteidigt, und mit den sozialen Verhältnissen Russisch-Polens, von denen er ganz abenteuerliche Begriffe zutage gefördert hat, die jedoch bei der Beurteilung der polnischen Frage entscheidend sind.A

I

Die Resolution zugunsten der Wiederherstellung Polens, die vor den Londoner Kongress kommen soll, lautet:

In Erwägung, dass die Unterjochung einer Nation durch die andere nur im Interesse der Kapitalisten und Despoten liegen kann, für das arbeitende Volk hingegen, sowohl für das der unterdrückten wie auch für das der unterdrückenden Nation, gleich verderblich ist; dass besonders das russische Zarentum, das seine inneren Kräfte und seine äußere Bedeutung aus der Unterjochung und Teilung Polens zieht, eine dauernde Gefahr für die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung bildet, erklärt der Kongress: dass die Unabhängigkeit Polens eine sowohl für die gesamte internationale Arbeiterbewegung wie auch für das polnische Proletariat gleich notwendige politische Forderung bildet."

Die erste Erwägung dieser Resolution gehört zu jenen Gemeinplätzen, aus denen sich absolut nichts Praktisches ableiten lässt. Bezeichnenderweise ist sie ganz gleichlautend mit der Begründung der bekannten holländischen Resolution, betreffend den Militärstreik: „In Erwägung, dass die nationalen Gegensätze keineswegs im Interesse des Proletariats, wohl aber in dem der Unterdrücker desselben liegen; in Erwägung, dass alle modernen Kriege ausschließlich durch die kapitalistische Klasse in deren Interesse hervorgerufen" werden, so soll man den Krieg durch den Militärstreik aus der Welt schaffen. Beide Resolutionen, die holländische und die sozialpatriotische, sind in dem naiven Glauben befangen, dass es genügt, etwas als für das Proletariat „verderblich" und für die Despoten nützlich zu erklären, um das Übel unmittelbar beseitigen zu können. Beide wollen eine im Wesen des Kapitalismus wurzelnde Erscheinung – den Krieg und die Annexion – ohne denselben, weil im Rahmen desselben, aufheben.

Die zweite Erwägung ist ein Trugschluss. Weder seine innere Kraft noch seine äußere Bedeutung schöpft der Zarismus aus der Teilung Polens. Die gegenwärtige Existenzbasis des Absolutismus sind die Überreste der rückständigen sozialen Verhältnisse auf dem Lande: der bäuerliche Gemeindebesitz und die vorläufige Anpassung des absoluten Regimes an die Bedürfnisse des wachsenden Kapitalismus. Seine diplomatische Bedeutung verdankt Russland der Rolle, die es in der orientalischen Frage spielt, seiner Stellung in Asien, vor allem aber der durch die Annexion Elsass-Lothringens geschaffenen politischen Lage in Europa. Alle diese inneren und äußeren Verhältnisse bestehen unverändert mit wie ohne Polen. Denkt man von dieser Seite dem Absolutismus den Garaus zu machen, so gibt man sich unseres Erachtens einer hoffnungslosen Illusion hin.

Jedoch wir nehmen gerne für einen Augenblick an, dass die Teilung Polens wirklich den Lebensnerv des Zarismus bildet. Was kann das Proletariat dagegen ausrichten? Nach der Resolution soll es die Wiederherstellung Polens fordern. Jedoch durch das bloße Fordern und durch friedliche Kundgebungen kann Polen nicht wiederhergestellt werden. Die herrschenden Klassen bilden in den polnischen Ländern das stärkste Bollwerk der Annexion, und die fremden Regierungen werden erst recht taube Ohren für die Forderungen des Proletariats haben. Würde aber dieses durch Taten seinen Forderungen Nachdruck verleihen wollen, so ist es einer blutigen Niederlage gewiss, solange es nicht Herr seiner Schicksale ist. Die Annahme dieser Resolution würde also der Aussprechung eines frommen Wunsches gleichkommen. Und da trifft zu, was Dr. Adler in Zürich gesagt hat: „Wenn wir, ein sozialistischer Kongress, nur eine Gesellschaft von Leuten darstellen, die bloß fromme Wünsche aussprechen, dann wird man fernerhin weder in Europa, soweit es herrscht, noch in Europa, soweit es unterdrückt ist, irgendwelchen Wert auf unsere Beratungen legen." Somit erscheint der Schlusssatz der Resolution ebenso unstichhaltig wie ihre beiden Erwägungen.

Die Folgen einer eventuellen Annahme der fraglichen Resolution für die polnische Bewegung sind klar: Sie wäre eine Sanktion höchster Instanz der nationalistischen Tendenzen in derselben.

Für die Bewegung in anderen Ländern würde sie auch ihre Bedeutung haben. Die polnische Resolution ist, wie wir gesagt, im Wesen identisch mit der holländischen: Die eine will durch die Aufhebung der Kriege künftigen Annexionen vorbeugen, die andere will durch die Aufhebung einer Annexion frühere Kriege rückgängig machen. Die Annahme der polnischen Resolution würde somit eine Bresche in die Beschlüsse der früheren Kongresse betreffend die holländische legen. Wenn auch die letzte ein utopisches Mittel vorschlägt, während die erste sich auf eine „Forderung" beschränkt, so sind beide nichtsdestoweniger gleich utopisch.

Endlich würde die Aufnahme der polnischen Forderung ins Programm des internationalen Proletariats konsequent eine ganze Reihe analoger nationaler Fragen, wie die staatliche Befreiung Böhmens, Irlands, die Aufhebung der Annexion Elsass-Lothringens, vor demselben aufrollen. Sie würde ferner für alle diese Länder ebenso wie für Polen die Organisation auf nationaler Grundlage zum Zwecke der nationalen Befreiung, also die Auflösung des geschlossenen politischen Kampfes aller Proletarier in jedem Staate in eine Reihe fruchtloser nationaler Kämpfe, im Prinzip sanktionieren und als eine mögliche Konsequenz in Aussicht stellen.

Seit jener Zeit, wo die Einigung Polens zum Postulat der auswärtigen Politik des Proletariats erhoben wurde, hat sich vieles in der Welt geändert. Anders sieht jetzt die politische Lage Europas aus: Ihr Schwerpunkt hat sich vom Osten, von der polnischen Frage, zur deutsch-französischen Grenze verschoben. Anders gestaltet sich jetzt die Taktik des kämpfenden Proletariats. Im Jahre 1848 war sein politischer Kampf ein Barrikadenkampf und sein Hauptfeind – das Bajonett. Da galt es, sich vor der Reserve der Reaktion – vor den russischen Bajonetten – durch eine physische Mauer abzugrenzen, und ein unabhängiges Polen sollte zu einer solchen werden. Heute führt das Proletariat einen alltäglichen politischen Kampf, wobei es sich keinesfalls auf die Straße provozieren lassen will. Da sind ihm nicht sowohl die Bajonette Russlands gefährlich als sein reaktionärer diplomatischer Einfluss auf Europa; dieser kann aber nicht durch eine physische Mauer, sondern durch die Vernichtung des Zarismus im eigenen Lande vernichtet werden.

Aber auch in Russland hat sich glücklicherweise vieles verändert: Es ist nicht mehr in der absoluten sozialen Erstarrung versunken, in der es noch vor dreißig Jahren zu sein schien; sein Fundament unterwühlt jetzt der junge Maulwurf – der Kapitalismus, und das gibt eine Garantie für die Niederwerfung des Absolutismus von innen heraus. Russland weist jetzt nicht nur Bajonette, sondern auch kämpfende Proletarier auf, und diese sind eben die natürlichste Garantie der Befreiung Europas von dem Alp der Petersburger Alleinherrschaft, ebenso wie die polnischen Proletarier andererseits die natürlichsten Bundesgenossen der russischen sind in dem alltäglichen Kampfe um die Erringung der politischen Freiheiten in ihrer gemeinsamen Zwingburg. Jetzt gebietet also das Interesse der internationalen Bewegung ebenso wie der polnischen und der russischen, nicht die praktisch unrealisierbare Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaats zu fordern, was nur die Zersplitterung der proletarischen Kräfte in dem Zarenreich und die Herabstoßung eines Teiles derselben auf Abwege hoffnungsloser nationaler Bestrebungen zur Folge haben könnte, sondern umgekehrt die Vereinigung aller proletarischen Kräfte im russischen Reiche zum Kampfe um die Niederwerfung des Zarismus.

Eine in diesem Sinne abgefasste Resolution wird vor den Londoner Kongress von den Sozialdemokraten Russisch-Polens eingebracht werden.

II

Die meisten Äußerungen der Sozialisten in Westeuropa in Bezug auf die polnischen nationalen Bestrebungen weisen eine charakteristische Eigentümlichkeit auf: Man urteilt gewöhnlich über den inneren sozialen Charakter dieser Bestrebungen in Polen nach der Rolle, die man ihnen in den internationalen Verhältnissen in Europa zuweist. Unseres Erachtens wäre es richtiger, umgekehrt die Rolle der Bestrebungen zugunsten der Einigung Polens für Europa aus dem Charakter abzuleiten, den sie in Polen selbst kraft seiner sozialen Verhältnisse haben müssen. Wir wollen diese Verhältnisse kurz skizzieren, wobei wir uns mit demjenigen polnischen Lande beschäftigen, das hier vor allem in Betracht kommt – mit Russisch-Polen.

Die Bauernreform von 1864 bildet den Abschluss der Epoche der adeligen nationalen Kämpfe in Polen. Ohne den Bauern konnte der Adel über die russische Regierung nicht siegen. Der Sieg mit dem Bauern aber hatte zu seiner Voraussetzung die Abschaffung der Hörigkeit als das einzige Mittel, die Bauernschaft für die adelige Bewegung zu gewinnen – also die furchtbarste ökonomische Niederlage des Adels, die seinen politischen Sieg inhaltslos und den ganzen Kampf zum Unsinn gemacht hätte. An diesem Widerspruch mussten die adeligen Aufstände scheitern, und es war eben der Gegensatz zwischen dem Adel und dem Bauerntum, der der russischen Regierung die Rolle eines Tertius gaudens und die Möglichkeit gesichert hatte, den Adel im Schach zu halten und seine Bewegungen zu paralysieren. Das Schlussmoment des Kampfes – die Bauernreform – hat die wirtschaftliche Physiognomie des Landes vom Grunde aus verändert, die Produktionsbedingungen der adeligen Landwirtschaft umgestaltet und somit die soziale Grundlage, in der die nationalen Bewegungen ihre Wurzel hatten, weggespült.

Mit den sechziger Jahren gerät das bis dahin vorwiegend ackerbauende, naturalwirtschaftliche Polen, das bis 1851 durch eine Zollgrenze von Russland getrennt war und im Ganzen und Großen ökonomisch abgeschlossen lebte, in den Strom der eigentlichen kapitalistischen Entwicklung: Die Großindustrie hält Einzug ins Land. Die Abschaffung der russisch-polnischen Zollgrenze, die Bauernreform in Russland (1861) und das damit verknüpfte Umsichgreifen der Geldwirtschaft, der in den sechziger und siebziger Jahren in Angriff genommene kolossale Eisenbahnbau, der Polen mit allen Gegenden Russlands in Verbindung gebracht, endlich die seit den siebziger Jahren immer steigende Schutzzollpolitik, die die inneren Märkte Russlands der ausschließlichen Ausplünderung seitens der einheimischen Fabrikanten preisgegeben und ihnen 40- bis 60-prozentige Profite gesichert, versetzte die polnische Industrie in ein Paradies der primitiven Akkumulation, wo sie pilzartig emporschoss. Es begann eine fieberhafte Epoche der Neugründungen in Polen, und die Produktion gelangte in zwanzig Jahren (1870-1890) zu einer Höhe, die um das Dreifache alles übertrifft, was auf dem Gebiete der Industrie während des ganzen vorhergehenden Jahrhunderts geleistet worden war. Łódź, Sosnowiec werden in fünfundzwanzig resp. fünfzehn Jahren aus Dörfern zu großen Fabrikstädten. Das kleine Kongresspolen mit Millionen Einwohnern gelangt zu einer Produktion, die den Wert von 300 Millionen Rubel jährlich präsentiert.B

Wir haben die Faktoren der Entwicklung des polnischen Kapitalismus kurz aufgezählt, aber der Grundfaktor derselben waren und sind die russischen Absatzmärkte. Ganz parallel mit den Linien der Eisenbahnen schreitet der polnische Absatz immer tiefer nach Russland hinein, und man kann dieses Vorschreiten an der sprungweisen Erweiterung der Produktion genau verfolgen. Zwei Drittteile der polnischen Erzeugnisse werden direkt von Russland konsumiert, die übrige Industrie befindet sich in nächster Abhängigkeit von diesen für Russland produzierenden Industriezweigen. Und es sind wohlgemerkt diejenigen Produktionszweige, die in jedem kapitalistischen Lande die Grundpfeiler der Großindustrie bilden – die Eisen- und Textilindustrie, die den Absatz Polens nach Russland darstellen.C Die russischen Märkte wurden somit zum Lebensnerv des polnischen Kapitalismus und damit der ganzen modernen Entwicklung Polens.

Die Abhängigkeit der polnischen Industrie von den russischen Märkten wurde schon längst und mehrmals konstatiert. Jedoch man muss zugestehen, die russische Regierung wusste leider diese Tatsache viel tiefer und richtiger aufzufassen als manche polnischen Sozialisten. Diese zogen aus der fraglichen Erscheinung gewöhnlich den einzigen Schluss, dass die polnische Bourgeoisie keine Neigung zum Nationalismus habe. Das heißt aber die ganze objektive und dialektische Seite der Erscheinung übersehen: die Rückwirkung des polnisch-russischen ökonomischen Verkehrs auf die ganze soziale Struktur in Polen und ferner die tiefgehenden Ergebnisse dieses Verkehrs in seiner Entwicklung für die Frage der polnischen Unabhängigkeit. Diese Seite wurde bis jetzt wenig berücksichtigt, und doch ist vielleicht gerade hierin das entscheidende Moment bei Beurteilung der polnischen Frage zu suchen.

Die allgemeine Tendenz des Kapitalismus, in jedem Staate alle seine Teile in Verbindung und Abhängigkeit voneinander zu bringen, fand in Bezug auf Polen und Russland – da die Zollgrenze zwischen beiden bereits abgeschafft worden war – keine Schranken. Einerseits brachte sie in Polen die Landwirtschaft, das Handwerk, den Handel in die engste Abhängigkeit von der Großindustrie, die sie zur Zentralachse der gesamten Wirtschaft machte, andererseits fügte sie diese Achse fest in den Gesamtmechanismus der russischen kapitalistischen Wirtschaft hinein. Produktion, Austausch, Transportwesen, alles dies verwickelte sich in Polen und in Russland in einen einzigen festen Knoten. Man kann jetzt keinem dieser Faktoren in Polen ernst an den Leib rücken, ohne gewisse Interessen in Russland tief zu verletzen und umgekehrt. Jede Konjunktur der russischen Wirtschaft spiegelt sich treu in der polnischen wider und vice versa. Polen und Russland verwandeln sich in einen einzigen ökonomischen Mechanismus. Dieses Verwachsen hält vollständig Schritt mit der Entwicklung des Kapitalismus. Je mehr in beiden Ländern rückständige Produktionsformen modernen Platz machen, um so fester wird diese Verbindung, um so mehr wird die Zugehörigkeit Polens zu Russland zur Grundbedingung des ökonomischen Lebens des ersteren.D

Die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung in Polen führen somit zur ökonomischen Einverleibung des letzteren in das russische Reich. Dies ist ein objektiver geschichtlicher Vorgang, der weder von dem Willen einzelner noch von dem der Parteien abhängig und der in erster Linie auf die Produktions- und Austauschbedingungen Polens zurückzuführen ist. Dies ist vom Standpunkte der nationalen Bestrebungen eine traurige Tatsache, aber noch trauriger wäre es, vor dieser Tatsache die Augen zu schließen.E

Die gekennzeichnete Richtung der sozialen Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass es in Polen jetzt keine Gesellschaftsklasse gibt, die ein Interesse an der Wiederherstellung Polens und zugleich die Kraft hätte, dieses Interesse zur Geltung zu bringen.

Die Stellung der wichtigsten Klasse, der Bourgeoisie, ist aus dem Obigen klar. Während sie in anderen Ländern durch ihre Klasseninteressen zur Herrschaft über fremde Nationen gedrängt wird, sieht sie sich in Polen im Namen derselben Interessen auf die Unterwerfung unter eine fremde Herrschaft angewiesen.

Der Adel, der ehemalige Chorführer der polnischen Gesellschaft, geht jetzt im Schlepptau der Bourgeoisie. Der Übergang zum Lohnsystem und das nachher hinzugetretene Sinken der Getreidepreise und der Bodenpreise haben die breite Masse der schon mit Schulden belasteten mittleren Grundbesitzer an den Rand des Ruins gebracht. Ein Drittteil aller adeligen Güter ist schon aus den Händen seiner Besitzer entschlüpft: 15 Prozent davon sind in die Hände von Juden und Deutschen übergegangen, andere 15 Prozent wurden in Parzellen geschlagen und an Zwergproduzenten verkauft. Der übrige Grundbesitz ist mit einer Hypothekenschuld belastet, die im Durchschnitt 80 Prozent, in zwei Fünfteln der Fälle aber 100 bis 250 Prozent des Wertes beträgt. Ein ganzes Drittteil der Güter ist demnächst zur Subhastation verurteilt. Die Landwirtschaft kann sich jetzt überhaupt in Polen nur in zwei extremen Existenzformen über dem Wasser halten: entweder als große Kultur mit intensiver Wirtschaft, berechnet auf die fabrikmäßige Bearbeitung ihrer Produkte und dadurch indirekt abhängig von den russischen Märkten, oder als Zwergkultur mit der rückständigsten Dreifelderwirtschaft, die sich nur dadurch zäher in ihrer Existenz erweist, weil sie auf denjenigen Teil des Einkommens, der in einem kapitalistischen Betriebe die Rente und den Profit darstellt, sowie auch auf einen Teil des Lohnes verzichtet. Der mittlere Besitzerstand – und das ist gerade der eigentliche Verfechter der nationalen Freiheit – ist heute gänzlich von einem verzweifelten täglichen Kampf ums Dasein in Anspruch genommen. Sein „soziales Programm" – um mit seinen heutigen Wortführern Bloch und Górski zu sprechen – ist eine Parzellationsbank und ein AmeliorationsF Und mit diesen beiden Rettungsmitteln kann er sich nicht erst auf eine künftige polnische Regierung vertrösten. Der vor der Türe stehende Exekutor ist ein Argument, welches dem notleidenden polnischen Agrarier die russische Zarenregierung als den einzigen Heiland erscheinen und ihn vor derselben auf den Knien rutschen lässt.

Das Kleinbürgertum stellt politisch keine einheitliche Masse dar. Einige Handwerkszweige (Bekleidungsindustrie etc.) benutzen direkt russische Märkte, ihr soziales Programm sind Handwerkerkompanien zum Absatz „im Osten". Diese und viele andere Zweige profitieren aus der Akkumulation der Kapitalien im Lande und aus der dadurch gesteigerten inneren Nachfrage. Sie sind daher Nachläufer der Großbourgeoisie. Jedoch eine ganze Reihe Handwerksbranchen haben direkt von der Konkurrenz der Fabrikindustrie zu leiden. Diese kapitalschwachen und bankerottierenden Kleinbürger mit den rückständigsten Produktionsmethoden haben allerdings Ursache, mit der bestehenden Ordnung der Dinge unzufrieden zu sein. Ebenso natürlich ergab sich die Form, in der sich diese Unzufriedenheit Luft macht. Da die Großindustrie ein Kind der russischen Annexion ist, so wurde das von ihr zermalmte Kleinbürgertum zum Adoptivvater der verwaisten nationalen Bestrebungen.

Das Bauerntum hat überhaupt keine politische Physiognomie. Die russische Regierung hat aber auf jeden Fall bei der „Bauernbefreiung" zwischen ihm und dem Adel einen Keil in der Form der „Servituten" (Nutzungsrecht der Bauern in adeligen Wäldern) eingeschoben, die eine nie versiegende Quelle von Zwist und Hader zwischen beiden bilden und eine Aussöhnung der feindlichen Brüder bis auf heute zu einer Unmöglichkeit machen. Insofern der Bauer eine politische Physiognomie haben könnte, so ist sie auch heute: der traditionelle Hass und das Misstrauen zu jeder nationalen Bewegung als zu einem „adeligen Schwindel" und die stumpfsinnige, bäuerlich verbohrte Anhänglichkeit an die russische Regierung – die vermeintliche Erlöserin des Bauern aus der adeligen Hölle.

Endlich – die bürgerliche „Intelligenz". Diese kleine, aber in Ländern ohne politische Freiheit viel Lärm machende Schicht rekrutiert sich in Polen zum größten Teil aus dem verarmten Adel und dem Kleinbürgertum. In der Schule wird sie schon durch das bestialische System der Russifikation aufgebracht und national gesinnt. Später sieht sie sich die Hauptkarrieren – die Wissenschaft, den Staatsdienst, den höheren Militärdienst – verschlossen. Darum schwärmt ein Teil der bürgerlichen „Intelligenz" in einem bestimmten Lebensalter für das Vaterland und ballt gewaltig die Fäuste in den Taschen gegen die Moskowiter Tyrannei. Desto mehr sieht sie sich aber darauf angewiesen, in den sogenannten bürgerlichen Berufen, also in direktem Dienste bei der Industrie und der Bourgeoisie, ein Unterkommen zu suchen, und dank der immer steigenden Entfaltung der Industrie findet sie noch ein solches in reichlichem Masse. Sobald der „intelligente" Jüngling als fertiger Mann solcherweise in der bürgerlichen Gesellschaft festen Fuß fasst, übernimmt er die politische Physiognomie derselben und wird „vernünftig" und „solid".

Dies ein ungefähres Bild der jetzigen polnischen Gesellschaft. Durch kapitalistische Lebensadern mit Russland verbunden, weist sie nur zwei Elemente auf, die einen nationalen Anstrich haben: den schon heruntergekommenen und dem Untergang geweihten Teil des Kleinbürgertums und den noch nicht emporgekommenen Teil der „Intelligenz" – beide in der Luft hängend, beide nur Übergangsstadien und beide daher ohnmächtig, ihren politischen Idealen Leib und Leben zu verleihen. Es befinden sich also unseres Erachtens alle diejenigen im Irrtum, die, das vorkapitalistische Polen, das Land der Aufstände vor Augen, sich der Hoffnung hingeben, einige Hunderttausende im Kriegsfall nach Polen geworfener Proklamationen würden wie ein Blitzstrahl einen nationalen Brand heraufbeschwören, denn in dem heutigen Polen besitzen, wie wir gesehen, diejenigen Schichten, die ein Interesse an seiner Unabhängigkeit haben, keine Macht, und diejenigen, die die Macht besitzen, haben kein Interesse an seiner Unabhängigkeit. Ja noch mehr. Währenddem sich das alte naturalwirtschaftliche Polen als ein lockeres Aggregat abgeschlossener Fronhofbezirke beliebig teilen ließ, ohne dass man seine wirtschaftliche Struktur und somit die eigentlichen Existenzbedingungen seiner herrschenden Klassen zu verletzen brauchte, müsste man in dem heutigen kapitalistischen Polen, um es wieder zu vereinigen, in den Lebensinteressen der politisch einzig wichtigen Klassen, der städtischen Bevölkerung und eines beträchtlichen Teils der ländlichen, eine vollständige Perturbation ins Werk setzen.

Es bleibt das Proletariat. Wollte man das Maß der westeuropäischen Verhältnisse auf Polen anwenden, so könnte man sagen: Haben alle besitzenden Klassen die Fahne der Unabhängigkeit fallengelassen, um so mehr Grund für das Proletariat, sie zu der seinigen zu machen. Eine solche Ansicht beruhte jedoch unseres Erachtens auf einer rein äußerlichen Parallele. Wenn das Proletariat in Westeuropa die von der Bourgeoisie verratenen demokratischen Losungen aufnimmt, so hat dies einen guten Grund. Proletariat und Bourgeoisie sind, obwohl feindliche Brüder, doch Kinder einer und derselben sozialen Formation – der kapitalistischen. Diese trägt in sich selbst eine gewisse Summe politischer demokratischer Tendenzen, die sie ins Leben zu setzen strebt. Zuerst erscheint die Bourgeoisie als die Trägerin dieser Tendenzen, die alsdann bis zu gewissem Grade als Vertreterin des gesamten „Volkes" auftritt. Sobald jedoch die Klassengegensätze reif genug sind, um das Proletariat auf die politische Bühne zu drängen, lässt die Bourgeoisie ihre demokratischen Ideale eines nach dem anderen fallen. Wenn hier das Proletariat diese Ideale aufnimmt, so erscheint es nur als politischer Erbe der Bourgeoisie und als Träger der Tendenzen derselben kapitalistischen Periode, was überhaupt seine historische Rolle ist. In Polen gehören, wie wir gesehen, Proletariat wie Bourgeoisie einer Formation an, die schon auf dem Grabe der nationalen Kämpfe entstanden war. Die Unabhängigkeit Polens wurde eigentlich nicht von der Bourgeoisie verraten, denn sie war nie ihr Ideal gewesen. Sie war das Ideal der vorkapitalistischen, adeligen, naturalwirtschaftlichen Periode. Will man also, dass das Proletariat in Polen dieses Programm beerbt, so ist das soviel, als wollte man in Westeuropa – um eine richtige Parallele zu ziehen –, das Proletariat solle z. B. freiheitliche Bestrebungen der feudalen, vorkapitalistischen Zeit wiederaufnehmen, Bestrebungen, von denen sich nur der ideelle Überbau in die kapitalistische Periode herübergerettet hat, deren materielle Basis und damit die Verwirklichungsmittel aber von derselben in die Vergangenheit unwiderruflich zurückgeschleudert wurden. Dies ist offenbar keine Aufgabe für das Proletariat. Es muss im Gegenteil in seinen Bestrebungen mit beiden Füßen auf dem Boden der kapitalistischen Entwicklung stehen. In Polen aber bringt dieselbe kapitalistische Entwicklung, die das Proletariat erzeugt, Polen selbst in immer festere Verknüpfung mit Russland. Beide Resultate sind nur zwei Seiten eines und desselben Prozesses. Würde das Proletariat die Unabhängigkeit Polens zu seinem Programm machen, so würde es sich dem ökonomischen Entwicklungsprozess entgegen stemmen. Derselbe würde ihm dann nicht zur Verwirklichung dieser Aufgabe wie aller seiner Klassenaufgaben verhelfen, sondern, umgekehrt, zwischen ihm und dem Ziel seiner Bestrebungen eine immer größere Entfernung schaffen. Sein endgültiges Ziel, den Sozialismus, das Ergebnis der sozialen Entwicklung, würde es im Rücken haben, und will es das Gesicht diesem Ziel zuwenden, so muss es der Wiederherstellung Polens den Rücken kehren. Von der ökonomischen Entwicklung in Polen haben die nationalen Bestrebungen nichts zu erwarten, höchstens der Stillstand oder, genauer, der Rückgang könnte ihnen wieder einen Nährboden schaffen. Schon daraus ist ersichtlich, dass dies nicht das Programm des Proletariats, sondern dem sozialen Charakter nach nur ein typisches Programm des reaktionären Kleinbürgertums sein kann. Nimmt daher das Proletariat dieses Programm an, so wird es nicht – wie andere meinen – die kleinbürgerlichen Krethi und Plethi um sich gruppieren, sondern umgekehrt, so gering und schwach diese Elemente auch sind, tatsächlich auf ihren Boden hinüber treten.

Wir haben nicht genügend Raum, alle Folgen aus der obigen Skizze zu ziehen. Die wichtigsten sind jedoch:

1. Die nationalen Bestrebungen in Polen können, abgesehen von ihrer Aussichtslosigkeit, keine ernste Bewegung im Lande selbst schaffen, und daher kann ihnen auch keine irgendwie bedeutende Rolle in der Politik des internationalen Proletariats zugewiesen werden.

2. Die positiven Aufgaben des polnischen Proletariats gestalten sich ganz analog denjenigen der Sozialdemokratie in allen anderen Ländern: als die Demokratisierung der gegebenen staatlichen Einrichtungen. Indem Polen und Russland zu einem kapitalistischen Mechanismus werden, wird das polnische und das russische Proletariat zu einer Arbeiterklasse, und als ihre nächste gemeinsame Aufgabe ergibt sich – die Niederwerfung des Zarismus.

Der Kampf um die politischen Freiheiten in Russland gewährt dem polnischen Proletariat die Möglichkeit, nicht nur seine Interessen als Arbeiter zu wahren, sondern zugleich, in einzig wirksamer Weise für autonome Freiheiten in Polen ringend, als Verteidiger der bedrohten polnischen Nationalität auf dem Posten zu stehen.

Auf dem Boden der oben entwickelten Grundsätze steht die Sozialdemokratie Russisch-Polens seit ihrem ersten Auftreten im Jahre 1889.

A Haecker glaubte seine Entgegnung mit einigen Bemerkungen persönlichen Charakters einleiten zu müssen, die ich um so weniger auf mir sitzen lassen möchte, als sie auch die Organisation, der ich angehöre, treffen, und die ich hier noch kurz beantworten will.

1. Die von Haecker aufgewärmte Ente, als hätte ich in dem „Sozialist", Organ der Unabhängigen, oder überhaupt je „gegen die Polnische Sozialistische Partei" geschrieben, wurde von mir schon im „Vorwärts", Nr. 241 vom Jahre 1893, als solche bloßgestellt. Seltsam, dass Haecker gerade diese Berichtigung übersehen hat! Das Lächerliche dabei ist aber, dass der inkriminierte Artikel gegen mich und meine Genossen polemisiert.

2. Die „Sprawa Robotnicza" (Arbeitersache) ist nicht eingegangen. Ihr Erscheinen wurde nur für einige Zeit eingestellt infolge der Massenverhaftungen, die unsere Partei heimgesucht, jetzt erscheint schon ihre 24. Nummer.

3. Die Sozialdemokratie Russisch-Polens war weder 1893 aus irgendeiner Partei ausgetreten, noch hat sie sich jetzt mit irgendeiner vereinigt. Diese ungenaue Kenntnis unseres Parteilebens verdankt Haecker den tendenziösen Schriften der Londoner Sozialpatrioten, aus denen er seine obigen Informationen wie auch das angebliche „Dokument" über die Vereinigung der Sozialdemokratie mit den Sozialpatrioten geschöpft hat und an denen nichts Wahres ist.

4. Haecker sucht meine Ansichten über den Sozialpatriotismus mit meiner Relegation von dem Züricher Kongress in Zusammenhang zu bringen. Ein solcher Zusammenhang besteht allerdings, aber in einem umgekehrten Sinne: Die Ansichten, die ich hier vertrete, waren bereits in dem Bericht über die sozialdemokratische Bewegung in Russisch-Polen niedergelegt, mit dem ich auf dem Züricher Kongress erschienen war, und eben dieser Bericht war die eigentliche Ursache meiner Relegation, wie dies in zwei galizischen Parteischriften („Lemberger Arbeiterkalender für 1894" und „Kurze Geschichte der galizischen Bewegung" von Zegota) deutlich genug ausgesprochen wurde.

BAus Rücksichten auf den Raum müssen wir aus dem reichen Material, das offizielle und andere Berichte zu diesem Punkte bieten, nur einige wenige Angaben herausgreifen:


1871

1890

+ Prozent

Gesamtwert der Produktion in Millionen Rubel

66,7

210

215

Gesamtwert der Textilproduktion in Millionen Rubel

18,8

100,0 (1891)

432

Eisen- und Stahlproduktion in Millionen Pud

0,9

7,5

733

Kohlenproduktion in Millionen Pud

12,6

151

1098

Die Zahl der Spindeln in der Baumwollindustrie ist im Zeitraum von zehn Jahren (1877-1886) gestiegen von 216.640 auf 505.622 (+ 134 Prozent). Im gleichen Zeitraum zeigt die Zahl der Spindeln in der russischen Baumwollindustrie eine Vermehrung von 32 Prozent, in der nordamerikanischen (1881-1891) um 29 Prozent, in der englischen um 8 Prozent. – Von den größten polnischen Fabriken wurden, wie eine im Jahre 1886 veranstaltete Enquete zeigte, bis 1860 25 Prozent, von 1860 bis 1886 75 Prozent errichtet. – Die Produktion von Łódź, Hauptzentrum der Textilindustrie, war im Jahre 1860 2,6 Millionen Rubel, im Jahre 1888 40,0 Millionen. Die Produktion von Sosnowiec war im Jahre 1879 0,5 Millionen Rubel, im Jahre 1885 13,0 Millionen. In den letzten zehn Jahren ist Sosnowiec zum Hauptpunkt der Eisen- und Kohlenindustrie Polens geworden. – Die Industrie ist tatsächlich weit größer als aus den offiziellen Angaben hervorgeht. So z. B. beläuft sich der Gesamtwert der Produktion für das Jahr 1890 nicht auf 210 Millionen Rubel, sondern, wie dies zahlenmäßig festgestellt werden kann, auf 300 Millionen. Somit übersteigt jetzt die industrielle Produktion Polens – nach ihrem jährlichen Werte gemessen – dem Werte nach die Getreideproduktion fast um das Dreifache. Nach der Zusammenstellung der Getreideeinfuhr (aus Russland) und der Getreideausfuhr in Polen ergibt sich schon ein Defizit der Produktion, das durch den Überschuss der Einfuhr gedeckt wird. Polen, der ehemalige Speicher Europas, ist also zum rein industriellen Lande geworden. – Alle obigen Angaben wurden folgenden Quellen entnommen: J. G. Bloch: Die Industrie Kongress-Polens 1871-1881, Warschau 1884, S. 17 u. 151: Geschichtlich-statistische Rundschau der Industrie Russlands, St. Petersburg 1883, Bd. I, Tabellen XI u. XV; Offizieller Bericht zur Ausstellung in Chicago 1893, Band über „Die Fabrikindustrie Russlands", S. 32/33 u. 13; Materialien zur Handels- und Industriestatistik Russlands für das Jahr 1891, St. Petersburg 1894, S. 124-147; Bericht zur Ausstellung in Chicago 1893, Band über „Bergbau Russlands", S. 59/60 u. 91 i J. Janshul: Abriss der Geschichte der Fabrikindustrie Polens, Moskau 1887, S. 6 u. 39; A. S.: Moskau und Łódź, St. Petersburg 1889, S. 17.

C Wir stützen uns hierin auf die „Berichte der Kommission zur Untersuchung der polnischen Fabrikindustrie", St. Petersburg 1888, und andere offizielle Berichte. Der deutsche Leser kann auch einiges in den „Diplomatie and Consular Reports on Trade and Finance", Nr. 128, S. 6, u. Nr. 321, S. 7, finden. Von den Erzeugnissen der ganzen Textilindustrie Łódź' (polnisches Manchester) wurden in den Jahren 1886 und 1887 fast drei Viertel von Russland und nur ein Viertel von Polen selbst konsumiert.

D Dies ist das Verhältnis, welches Haecker so auffasst, als sei Polen „Herr der Situation". „Russland hingegen ist so sehr in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben", sagt er, „dass es gänzlich von der kongresspolnischen Produktion abhängt." Die folgenden Ziffern werden ihn hoffentlich eines Besseren belehren:

Nach dem zitierten „Bericht zur Ausstellung in Chicago" beträgt im Jahre 1890 der Gesamtwert der industriellen Produktion

Russlands

1597 Mill. Rubel = 13,5 Rubel pro Kopf d. Bevölk.

des Petersburger Rayons

242 Mill. Rubel = 40,0 Rubel pro Kopf d. Bevölk.

des Moskauer Industrierayons

460 Mill. Rubel = 38,0 Rubel pro Kopf d. Bevölk.

Kongresspolens

210 Mill. Rubel = 25,0 Rubel pro Kopf d. Bevölk.

Somit nimmt Polen in Russland in industrieller Beziehung ebenso absolut wie relativ die dritte Stelle ein, wobei es von der Produktion des Moskauer Rayons allein mehr als zweifach übertroffen wird. Russland besitzt also eine große eigene Industrie, die obendrein viel älter ist als die polnische. Das verhindert natürlich nicht im mindesten, dass zwischen beiden Ländern die tiefgehendste Arbeitsteilung stattfindet und dass Polen gänzlich von russischen Absatzmärkten abhängt. Die Textilindustrie Polens macht z. B. – ganz unverhältnismäßig zu seiner Bevölkerung – ein ganzes Viertel und die polnische Stahl- und Eisenindustrie ein Sechstel der russischen aus.

E Man urteile darnach von der tiefen Auffassungsweise Haeckers, der uns zumutet, dieser objektive geschichtliche Vorgang sei unsere „Programmforderung" – er sagt nämlich, die Sozialdemokratie Russisch-Polens „fordere" die organische Einverleibung Polens in Russland. Es ist klar, dass daran gerade so viel Wahres ist, als dass die Sozialdemokratie den Untergang des kleinen Mannes, die Aufhebung der Familie etc. „fordert".

F Die obigen Angaben haben wir u. a. den Arbeiten von J. G. Bloch: Der Grundbesitz und dessen Verschuldung, Warschau 1890, und Der Ameliorationskredit und die Lage der Landwirtschaft, Warschau 1892, ferner L. Górski: Unsere Fehler in der Landwirtschaft, Warschau 1874, und der „Landwirtschaftlichen Encyclopädie", Bd. I, Warschau 1890, entnommen, einiges auch den „Foreign Office, Miscellan. series", Nr. 347: Report on the Position of Landed Proprietors in Poland, u. Nr. 355: Report on the peasantry and peasant holdings in Poland.

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