Rosa Luxemburg‎ > ‎1896‎ > ‎

Rosa Luxemburg 18960725 Zur Taktik der polnischen Sozialdemokratie

Rosa Luxemburg: Zur Taktik der polnischen Sozialdemokratie*

[erschienen im Vorwärts (Berlin), Nr. 172 vom 25. Juli 1896, nach Gesammelte Werke, Band 1/1, Berlin 1970, S. 52-56]

I

Unter diesem Titel versucht „ein hochgeschätzter polnischer Genosse" (wir müssen ihn so mit dem „Vorwärts" nennen, da er anonym hervortritt) in den Beilagen des „Vorwärts" vom 15., 16. und 17. d. M. unseren Artikel in der „Neuen Zeit" Nr. 32 und 33 zu widerlegen.

Dem hochgeschätzten Genossen ist ein Malheur passiert: Er hat den sozialen Entwicklungsprozess mit den Interessen der Bourgeoisie identifiziert, und auf Grund dieser eigenen fatalen Verwechslung wirft er uns die schauerlichsten Geschichten an den Kopf. Da wir in Polen das politische Programm des Proletariats mit dem ökonomischen Entwicklungsprozess der Bourgeoisie in Einklang gebracht wissen wollen, so sollten wir für die Kolonialpolitik eintreten! Für Schutzzölle! Noch ein Schritt,und der hochgeschätzte Genosse würde uns nachweisen können, dass wir gar, um unsere Bestrebungen in Einklang mit den Interessen der Bourgeoisie zu bringen, für die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, für die Aufhebung des Koalitionsrechts, ja dafür, dass „die Flinte schießt und der Säbel haut", eintreten müssen!

Der hochgeschätzte Genosse scheint davon nie gehört zu haben, dass die allgemeine Richtung der kapitalistischen Entwicklung im Lande und die partiellen Interessen der Bourgeoisie nicht nur nicht identisch sind, sondern dass zwischen beiden oft ein tiefer Widerspruch existiert – einer der wesentlichen Widersprüche der kapitalistischen Ordnung. Das Proletariat – selbst das Produkt der kapitalistischen Entwicklung – rechnet und muss rechnen mit ihrer allgemeinen Richtung in jedem Lande und bekämpft gleichzeitig partielle Interessen der Bourgeoisie. Die allgemeine Richtung des polnischen Kapitalismus besteht in der immer festeren Verknüpfung mit Russland. Will der hochgeschätzte Genosse mit seinen Freunden auf diese Richtung „pfeifen" – wie er resolut erklärt –, dann haben wir große Besorgnis, dass die Tatsachen in Polen auf ihn mit seinem Programm der Wiederherstellung Polens pfeifen, wie schon die Ereignisse in Russland auf die Grundlagen dieses Programms gellend zu pfeifen beginnen.

Der hochgeschätzte Genosse scheint überhaupt von der Existenz einer einzigen jeweiligen Richtung der sozialen Entwicklung in jedem Lande keine Ahnung zu haben. Er denkt sich im Gegenteil die Geschichte als ein dienstfertiges Ladenfräulein, das jedem nach seinem Belieben und Geschmack das Gewünschte aus der ganzen Masse der guten Dinge auskramt, und die Sozialisten dürfen wohl das Beste auserwählen, da sie ja mit dem Mandat des künftigen Herrn der Welt in den Laden kommen. Die Aufgabe der sozialistischen Partei wird dadurch freilich sehr vereinfacht. Man braucht sich vor allen Dingen nur hinzusetzen und für ein gegebenes Proletariat alle möglichen politischen Formen und Kombinationen zu ersinnen. Dann prüfe und vergleiche man aufs Sorgfältigste alle miteinander, man wähle – wenn man ein wahrer Freund der Arbeiterklasse ist – das Allerbeste, ohne sich um die vorhandenen geschichtlich gegebenen Staatsgrenzen zu kümmern – und das Gericht ist fertig. Eine solche geistige Arbeit hat den hochgeschätzten Genossen mit seinen Freunden zu der Überzeugung gebracht, dass eine polnische Republik viel besser dem Proletariat bekommen werde als eine russische Konstitution. Die Sicherheit von der republikanischen Form des unabhängigen Polens schöpfen sie aus der literarischen Tatsache, dass der sel. Stanislaus Poniatowski, der letzte polnische Monarch, als Hagestolz und kinderlos gestorben ist. Sie haben vergessen, dass Bulgarien und Griechenland ebenfalls keine Dynastie und keine monarchischen Traditionen hatten. Die Hauptsache ist: Wo nehmen wir die Mittel her, um dieses allerbeste Programm einer allerdemokratischsten Republik zu verwirklichen? Der hochgeschätzte Genosse hat sich die Antwort sehr leicht gemacht: wir seien ja selbst der Meinung, „dass Russland eigentlich keine Kräfte mehr besitzt, dass es nur eines Fingerstoßes bedarf, um umgeworfen zu werden". Nein, der Meinung sind wir nicht, und wir haben sie auch nicht ausgesprochen. Wohl haben wir gesagt, der Zarismus müsse früher oder später „wie ein Hühnerstall vom Erdbeben" weggefegt werden. Aber „Russland" und „Zarismus", der Staat und die Staatsform – das sind doch wohl verschiedene Dinge. Dieselben in der Diskussion zu verwechseln ist manchmal sehr praktisch, aber sehr unpraktisch im politischen Leben. Das russische und polnische Proletariat kann und wird den Zarismus abschaffen, es kann aber und wird nicht den russischen Staat als ein politisches Gebilde zerstückeln. Hier liegt eben der ganze Abgrund zwischen dem Kampfe um eine Konstitution und der Bestrebung zu der Wiederherstellung Polens, zwischen der Sozialdemokratie und dem Sozialpatriotismus. Wenn der hochgeschätzte Genosse glaubt durch die Verwechselung der Worte „russischer Zarismus" und „Russland" das sozialpatriotische Programm zum sozialdemokratischen zu machen, so kann die Praxis ihn und seine Genossen für diese politische Tücke stets auf die Finger klopfen. Werden sie, statt den Zarismus, das Russland als Ganzes mit dem Kopf anrennen, so fürchten wir, dass sie nur politische Beulen davontragen.

II

Der hochgeschätzte Genosse meint, dass das sozialpatriotische Programm sich mit der Tätigkeit der deutschen, österreichischen und russischen Sozialdemokratie in vollste Harmonie bringen lässt. In Bezug auf die beiden ersten Fälle, auf Deutschland und Österreich, brauchen wir nicht viel zu unseren Ausführungen in Nr. 33 der „Neuen Zeit" hinzuzufügen, da sie unbeantwortet blieben. Die Sozialpatrioten hoffen durch die „größtmöglichste Demokratisierung der beiden Kaiserreiche" zu der Unabhängigkeit Polens zu gelangen. Wir haben nachgewiesen, dass die Demokratisierung des Staates nicht zu dessen Zerstückelung – in Deutschland und Österreich –, gerade umgekehrt, zu dessen Befestigung führt. Entweder verzichten also die polnischen Sozialisten auf die Bestrebung, einen polnischen Klassenstaat zu errichten, oder sie werden ihn auf einem anderen Wege ob dem der Demokratisierung Deutschlands und Österreichs anstreben und dann notwendig in einen Widerspruch mit der gesamten sozialdemokratischen Bewegung geraten.

Ja, in dem Wesen des Sozialpatriotismus liegt die natürliche Tendenz, das Verhältnis der polnischen Bewegung zu der deutschen resp. der österreichischen auf etwas rein Äußerliches, Zufälliges, auf eine nicht prinzipielle, sondern reine Zweckmäßigkeitsfrage zu reduzieren. So schreiben die Freunde des hochgeschätzten Genossen in ihrem „Robotnik Jednodniówka" 1895, dass in Galizien die Sozialisten mit der österreichischen Partei organisiert seien, weil sie keine Gründe gesehen haben, warum sie nicht mit derselben vereinigt sein sollten, da die österreichische Partei eine sehr gute Organisation besitzt. Wenn also die galizischen Sozialisten nicht mit der portugiesischen Partei ein Ganzes bilden, so ist das lediglich für die letztere eine gerechte Strafe für ihre mangelhafte Parteiorganisation.

Was aber Russland betrifft, so befindet sich der Kampf um die Wiederherstellung Polens dort geradezu im schärfsten Gegensatz zu dem Kampfe des russischen Proletariats um eine Verfassung. Und dessen sind sich die Sozialpatrioten selbst durchaus bewusst. „Stellen wir uns für einen Augenblick vor", schreiben sie in einem Leitartikel in ihrem „Przedświt" (Morgenröte) vom Oktober 1895, „dass wir in den Demokratismus und das nahe Bevorstehen der russischen Konstitution den Glauben gewonnen haben. Sollen wir sie in diesem Falle als eine politische Forderung aufstellen? Sofort antworten wir: nein. Zwei einander ausschließende Forderungen kann eine Partei in einem Atem nicht aufstellen." In der Tat; eine Bestrebung, in den gegebenen Staatsgrenzen die politischen Einrichtungen zu demokratisieren, und die andere Bestrebung, aus den gegebenen Staatsgrenzen zu entkommen, schließen einander aus. Daher bedeutet auch der Sozialpatriotismus den inneren Zwiespalt zwischen den proletarischen Kräften in Russland und folglich die Schwächung des Kampfes gegen den Zarismus. Ein seltsames psychologisch-politisches Phänomen, dass eine Partei, welche im zarischen Russland den Kampf um die Niederwerfung des Zarismus negiert, sich noch des erhabenen Bewusstseins erfreut, nicht nur im eigenen Interesse, sondern sogar im Interesse der ganzen zivilisierten Welt zu phantasieren! Hoffentlich wird der Vertreter der Zivilisation, das internationale Proletariat, in London eigene Interessen besser zu unterscheiden wissen als der hochgeschätzte Genosse mit seinen hochgeschätzten Freunden.

Unsere Geschichtsauffassung missfällt dem hochgeschätzten Genossen. Um ihre Unzulänglichkeit darzutun, stellt er uns einige Fragen, die wir – wie er zu glauben scheint – von unserem Standpunkt gar nicht beantworten können.

Warum ist z. B. – trotz des vorteilhaftesten Warenverkehrs mit Russland – „die loyale, der fremden Regierung geneigte Partei gerade am schwächsten in Russisch-Polen"? Sehr einfach: Weil der hochgeschätzte Genosse es eben erdichtet hat, dass sie am schwächsten ist. Im Gegenteil, während in Galizien und Posen das ganze zahlreiche Kleinbürgertum eine nationale Opposition bildet, ist in Russisch-Polen auch das Kleinbürgertum zum großen Teil terroristisch, dank den Vorteilen, die es aus der Zugehörigkeit zu Russland zieht. Ja diejenigen Klassen, die Russland loyal sind – die Bourgeoisie, der Adel, ein Teil des Kleinbürgertums –, geben die stärksten Beweise ihrer Loyalität, zu denen sich eine kapitalistische Klasse aufschwingen kann; sie lecken mit Selbstverleugnung denjenigen Fuß, der sie in politischer und nationaler Hinsicht mit lauter Fußtritten regaliert: siehe die polnischen Schweifwedler in Petersburg und Moskau während der Thronbesteigung und der Krönung Nikolaus' II.

Die zweite schreckliche Frage: Warum die litauischen Junker, trotzdem sie unter der Konkurrenz des russischen Getreides leiden, keine Anhänger der Wiederherstellung Polens, sondern Russenfreunde sind? Ebenso einfach: Weil die litauischen Junker eben keine Gymnasiasten, sondern praktische Leute sind, daher die Verheißungen des hochgeschätzten Genossen von einem konkurrenzfreien Getreidemarkt in einem erst zu errichtenden polnischen Staate als ein kindisches Geplauder betrachten und ihre Sorgen nicht durch Zukunftsstaatsphantasien, sondern durch reelle Mittel, wie das Betteln bei dem Zarentum u. dgl., zu beseitigen suchen.

Die dritte Frage: Warum die galizischen Schlachtschitzen, die von den ungarischen Ochsen bedrängt werden, sich auch nicht für die Wiederherstellung Polens begeistern? Vielleicht lässt sich das erstaunliche Phänomen damit erklären, dass die österreichische Regierung den galizischen Schlachtschitzen eine Möglichkeit gewährt, die polnischen und ruthenischen Bauern wie Schweine und Ochsen zu behandeln, wie ihnen das allerbeste Vaterland keine größere gewähren kann, und somit eine reichliche Kompensation für den Drang des ungarischen Viehes nach dem Westen gibt.

Es scheint somit mit „unserer" materialistischen Geschichtsauffassung nicht gar so schlecht zu stehen, wie es der hochgeschätzte Genosse glaubt: Es sind immer und immer wieder die materiellen Interessen, die die politische Physiognomie der verschiedenen Klassen bestimmen und erklären.

Wir werden aber zum Schluss mit Achille Loria verglichen und mit der Gleichung Loria zu Marx wie Freihändler vulgaris zu Ricardo niedergeschmettert. Jedoch nach den Proben der eigenen Begriffe des hochgeschätzten Genossen über die materialistische Geschichtsauffassung trösten wir uns damit, dass dabei wahrscheinlich nichts Böses gemeint war, da die schreckliche Formel für ihn selbst eine Gleichung mit vier Unbekannten zu sein scheint.

* Den ersten Teil des Artikels, der sich im wesentlichen mit den Ausführungen unseres Freundes G. Plechanow deckt, zu veröffentlichen, glauben wir unterlassen zu dürfen. Die Red.

Kommentare