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Rosa Luxemburg 18970925 Sozialdemokratische Bewegung in den litauischen Gouvernements Russlands

Rosa Luxemburg: Sozialdemokratische Bewegung

in den litauischen Gouvernements Russlands1

(Verhaftungen — Streiks — Geschichte — Gewerkschaften — Maifeier — Parteiblatt)

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 222 vom 25. September 1897, 1. Beilage, S. 1. Sp. 1 f., auch in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 111-113]

Aus Wilno meldet man wieder Verhaftungen. Die Polizei kann sich seit dem geheimnisvollen Tode des Spitzels Raphal, der Mitte April mit einer tödlichen Wunde in der Brust aufgefunden wurde, nicht beruhigen und geht blindlings auf die litauische Sozialdemokratie los, ohne jeden Grund Arbeiter und Personen aus der sog. Intelligenz in Haft nehmend.

Die Bewegung schreitet aber – durch die Streiche der Polizei unerschüttert — ruhig ihren Weg. Es sind wieder eine Reihe Streiks zu verzeichnen. Am 12. Mai streikten die Schuhmacher in der Werkstatt von Kahl, am 14. Mai die Schuhmacher bei Malewski – in beiden Fällen mit Erfolg. Am 20. Mai legten 80 Maurer beim Bau eines Hauses die Arbeit nieder. Der Zweck war, wie in den beiden früheren Fällen, eine Lohnerhöhung, die auch durchgesetzt wurde. Am 9. Juni traten die Gerber der Firma Meki in den Streik. Die Ursache war diesmal – eine grundlose Entlassung eines der Arbeiter. Um den Herren Unternehmern die Lust zur Maßregelung ihnen unliebsamer Arbeiter auszutreiben, legten alle Kollegen des Entlassenen die Arbeit nieder. Ende Juni wendete sich der Unternehmer, wie dies in Russland Brauch ist, – an die Polizei. Der Gendarmeriechef Wassiljew tat in bons et mauvais offices sein Möglichstes – umsonst. Die Arbeiter wollten die einmal in Fluss gebrachte Bewegung auch zu einer Lohnerhöhung benutzen. Die Gerber der Firma Ryfkin schlossen sich im Juli den Streikenden an und vor zwei Wochen war in Vorbereitung ein allgemeiner Gerberstreik (500 Arbeiter) in Wilno.

Zur Orientierung des deutschen Lesers bemerken wir, dass die obigen Nachrichten sich ausschließlich auf die in polnischer Sprache unter christlichen Arbeitern Litauens agierende Sozialdemokratie beziehen. In Litauen existiert nämlich seit mehr als zehn Jahren auch eine sozialdemokratische Bewegung unter den jüdischen Arbeitern, die fast ausschließlich von russischer Intelligenz in russischer oder jüdischer Sprache geleitet wird. Ganz unabhängig davon entstand aber Anfang der 90er Jahre eine sozialistische Bewegung unter den bis dahin vernachlässigten christlichen polnischen Arbeitern Litauens. (Die städtische Bevölkerung ist entweder jüdisch oder polnisch, nur die ländliche spricht noch die wirkliche litauische Sprache.) Die junge polnisch-litauische Bewegung stak anfänglich in dem in Russland damals sehr verbreiteten System der kleinen und abgeschlossenen politischen „Kränzchen", wobei das ganze Gewicht auf die Heranbildung einzelner bewusster Sozialisten gelegt, die eigentliche Massenbewegung aber, der gewerkschaftliche und politische Kampf ganz außer Acht gelassen wurden. Bei der Abgeschlossenheit der Branchen vom wirklichen Klassenkampf und bei der in ihnen sehr entwickelten politischen Kannegießerei schwärmte die ganze Organisation einige Zeit für den Nationalismus. Bald wehte indes auch in Litauen ein frischer Wind. Durch die Sterilität der Kränzchenpropaganda wurden die dortigen Sozialisten auf neue Bahnen gedrängt: Sie fingen an, sich direkt an die Massen zu wenden und sie zum täglichen Kampf um ihre naheliegenden Interessen, vor allem zum gewerkschaftlichen Kampf aufzurütteln und zu organisieren, wobei sich das Bedürfnis nach einem konkreten, aus den unmittelbaren Interessen sich ergebenden politischen Programm herausstellte. Andererseits brachte der große St. Petersburger Streik das nationalistische Gerede von der absoluten Starrheit Russlands endgültig in Misskredit. Und so ging die litauische Organisation zum sozialdemokratischen Programm, zum Kampfe um politische Freiheiten im russischen Reich über, während die nationalen Utopien in die Rumpelkammer der Kränzchen wanderten.

Mit dem Übergang zur Massenagitation entfaltete die litauische Partei ihre Tätigkeit in bemerkenswerter Weise. Den Gewerkschaften wurde die größte Aufmerksamkeit und Energie zugewendet; die wichtigsten Gewerbe sind bereits organisiert und zwar in musterhafter Weise. Der Einfluss der Partei erstreckt sich bis auf das weibliche Proletariat – auf Wäscherinnen und Schneiderinnen. Und dies trotz der enormen Schwierigkeiten, welche der vorwiegend handwerksmäßige Charakter der Industrie und ihre Zersplitterung der Organisation bieten. Zu den wichtigen positiven Errungenschaften der polnischen Sozialdemokratie in Litauen gehört u. a. die Durchsetzung des achtstündigen Arbeitstages an Sonnabenden in den Eisenbahnwerkstätten in Wilno. Ein diesbezüglicher Erlass für alle staatlichen Unternehmungen des Reiches wurde bekanntlich unmittelbar nach dem St. Petersburger Streik publiziert, blieb aber vorerst in Litauen ein toter Buchstabe. Die Sozialdemokratie beschloss im Januar 1897 ihn ins Leben einzuführen. Zu diesem Behufe fingen die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte an, einfach jeden Sonnabend systematisch nach acht Stunden Arbeit nach Hause zu gehen. Die Verwaltung ließ sich das nicht ruhig gefallen. Polizei und Gendarmerie waren natürlich bei der Hand und sperrten die Arbeiter in den Fabrikräumen ein, um sie gewaltsam zur Fortsetzung der Arbeit zu zwingen. Die Eingesperrten saßen ihrerseits ruhig, ohne die Arbeit zu berühren. Dies wiederholte sich jeden Sonnabend. Die Partei verbreitete zur Ermunterung der Kämpfenden Flugblätter, worauf die Verwaltung auch mit Flugblättern antwortete. Das Ende war – ein glänzender Sieg der Sozialdemokratie, und der machtlosen Polizei blieb nichts anderes übrig, als sich durch Verhaftungen zu rächen.

Die von der Partei geleiteten Streiks waren in den letzten zwei Jahren zahllos, fast alle Gewerbe und bedeutenden Werkstätten sind von ihnen berührt worden. Das heurige Maifest wurde gefeiert durch Arbeitsniederlegung— zum ersten Mal in Litauen! — von einem Teile der Schuhmacher, Schreiner, Schlosser, Schneider und auf den Ziegeleien. Hier wurden die Arbeiter jeder in seiner Wohnung von der Polizei gesucht und mit Gewalt zur Arbeit getrieben. Sie waren jedoch mit dem Umkleiden etc. so ungeschickt, dass sie vollzählig auf der Ziegelei erschienen – um 6 Uhr abends, wo sie natürlich von dem fuchswilden Unternehmer wieder nach Hause geschickt wurden. Die Partei hat auch abends Versammlungen am 1. Mai veranstaltet, wo zeitgemäße Reden abgehalten und besonders die politischen Ziele des Kampfes sehr stark betont wurden.

Seit Ende März gibt die polnische Sozialdemokratie in Litauen ein eigenes hektographiertes Parteiblatt „Echo des Arbeiterlebens" 'heraus. Das Blatt wird mit Geschick und Temperament redigiert und ist sogar mit wirksamen satirischen Illustrationen ausgestattet. Soeben ist bereits die fünfte Nummer des „Echo" erschienen. – In der kurzen Zeit ihrer Existenz hat die Sozialdemokratie also sehr viel geleistet. – Neulich gab der geheimnisvolle Tod des verhassten Spitzels Raphal den Regierungsorganen in Litauen sehr deutlich zu fühlen, dass es vielleicht besser ist, der Arbeiterbewegung nicht gar zu sehr nahe zu treten.

Augenblicklich stehen die Verhaftungen und der Gerberstreik im Vordergrund des Parteilebens. Über beides werden weitere Nachrichten bald vorliegen.

Der polnische Nationalismus hat bereits in Litauen jede Spur von Einfluss in der Arbeiterbewegung verloren, weshalb auch die Nationalisten sich darauf beschränken müssen, statt irgendwelche Tatsachen aus der Bewegung, lediglich über belletristische Dialoge zwischen Gendarmen und Arbeitern und dergleichen Geschichten zu berichten, die sie auch – dank der Unkenntnis, welche über russische Verhältnisse herrscht – selbst in solchen gediegenen Arbeiterblättern, wie die „Wiener Arbeiter-Zeitung", glücklich unterbringen zu verstehen.

1* Ein im Westen Russlands liegender Länderstrich. [Fußnote der Sächsischen Arbeiter-Zeitung]

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