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Emile Vandervelde 19020430 Nochmals das belgische Experiment

Emile Vandervelde: Nochmals das belgische Experiment

[Erschienen in der „Neuen Zeit" am 7. Mai 1902. Nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 347-349]

Brüssel, 30. April 1902.

Ich lese in der „Neuen Zeit" den Artikel der Genossin Rosa Luxemburg, der in sehr lebhaften Ausdrücken die von der belgischen Arbeiterpartei in ihrem Kampfe um das allgemeine Wahlrecht befolgte Taktik kritisiert.

Vielleicht wäre es brüderlicher gewesen, mit diesen Kritiken den Augenblick abzuwarten, wo wir nicht mehr die Attacken unserer Feinde abzuwehren hätten, doch dies nebenbei; was dagegen sehr wichtig ist, das ist, in Erwartung eines vollständigeren Berichts über die Vorgänge in Belgien, vorläufig einige notorisch irrige Behauptungen unserer Genossin zu berichtigen.

In der Tat, hört man die Genossin Luxemburg, so haben die Liberalen die Leitung unserer Bewegung an sich gerissen, das Kampfziel bestimmt, die anzuwendenden Mittel gewählt, mit einem Worte, die Mitglieder des Generalrats der Arbeiterpartei unter ihre Vormundschaft genommen!

Dergleichen Behauptungen müssen für jedermann wunderlich klingen, der den belgischen Liberalismus kennt, der weiß, mit welcher Resignation, mit welchem tiefen Widerstreben sich die Liberalen – die Nutznießer des Pluralvotums in ihrer Eigenschaft als Bourgeois in demselben Maße wie die Klerikalen – zum allgemeinen Wahlrecht, etwa wie zum Tode Verurteilte zum Schafott schleppen lassen.

Um ihre Unterstützung für die Verfassungsrevision zu gewinnen, bedurfte es mehrerer Jahre hartnäckiger Propaganda und einer Drohung mit dem Abfall eines Teiles ihrer Truppen. Um diese Unterstützung perfekt zu machen, war es desgleichen notwendig –, ohne dass übrigens ein formeller Pakt zwischen Liberalen und Sozialisten bestände –, dass die Arbeiterpartei die Revisionsbewegung momentan auf das allgemeine Wahlrecht für Männer beschränkt und dasjenige für die Frauen ausschließt.

Ich für meine Person widersetzte mich diesem Beschluss, so lange Ich konnte, ich bin es aber der Wahrheit schuldig, zu konstatieren, dass, wenn er trotzdem zustande gekommen ist, es weniger als Konzession an die Liberalen geschah, denn aus Rücksicht auf die große Masse der Arbeiter, die zu meinem großen Bedauern einer sofortigen Einführung des Frauenwahlrechts sehr feindlich gegenüberstanden in der Besorgnis, dass auf diese Weise die Herrschaft der Klerikalen auf unbestimmte Zeit verlängert wäre.

Wie dem auch sei, wenn es auch wahr ist, dass die drei Oppositionsparteien: Liberale, Sozialisten und Christlich-Demokraten, schließlich über das Ziel der Kampagne einig wurden, ebenso wie die Freisinnigen und die deutschen Sozialdemokraten in der Bekämpfung des Zolltarifs einig sind, so ist es doch absolut unrichtig, dass eine Allianz oder eine Verständigung in Bezug auf die Taktik, auf die Kampfmittel unter den Liberalen und Sozialisten je stattgefunden hätte.

Vom ersten Augenblick der Agitation – was übrigens alle Welt vorausgesehen hat –- wandten sich die Liberalen, die von vornherein jede außerparlamentarische Aktion verpönt hatten, gegen uns. Die Bürgermeister Brüssels und anderer Städte, wo die Liberalen dank dem Kommunalwahlrecht die Majorität haben, organisierten die Repressalien mit derselben Härte wie die Regierung selbst, und die Arbeiterpartei, die man in der „Neuen Zeit" als die gehorsame Dienerin des Liberalismus hinstellt, sah sich ganz allein gegenüber allen Mächten der koalierten Bourgeoisie gestellt.

Unter diesen Umständen, die sehr verschieden von jenen waren, die ehemals den Sturz des Ministeriums Van den Peereboom herbeigeführt hatten, wurde die Straßenaktion ohnmächtig. Was vermochten die Tausende von Manifestanten bei all ihrem Mute gegen die Gewehre der Gendarmerie und der Zivilgarde auszurichten, die sich den sechzigtausend Bajonetten der regulären Armee angliederten, einer Armee, die gewiss der Regierung unzuverlässig erschien, deren großer Teil zum mindesten sich jedoch dem Kommando zum Massaker gefügt hätte.

Blieb der Generalstreik, die gewaltige Demonstration, die mit beispielloser Plötzlichkeit von über 300.000 Mann veranstaltet wurde, die ihre Arbeit niederlegten, um ihre Rechte zu fordern.

Dass diese Demonstration ungenügend war, um den Widerstand der klerikalen Mehrheit zu brechen, das haben die Ereignisse bewiesen. Dass sie aber unnütz war, das bestreiten wir in aller Form.

Um dies zu beweisen, wird auch genügen, zu konstatieren, dass der Führer der Rechten, die Seele des Widerstandes, Herr Woeste, der drei Wochen früher von einer Verfassungsrevision absolut nichts hören wollte, ja gar die ganze Existenz einer Revisionsbewegung in Abrede stellte, im Augenblick der Abstimmung, am 18. April, sich genötigt sah, die folgende Erklärung abzugeben:

Wir wissen, dass die Institutionen nicht unwandelbar sind. Die Gesetze sind veränderlich, und wenn die Parteien bereit wären, die Probleme des Wahlrechts ohne Leidenschaft zu erwägen und nach einer von der jetzt gültigen verschiedenen Lösung zu suchen, ohne bis zum einfachen allgemeinen Wahlrecht ohne jede Einschränkung (suffrage universell pure et simple) zu gehen, so bin ich überzeugt, dass ein großer Teil unter uns sich zu einer solchen Erwägung entschließen würde."

So scheint sich denn die Rechte bald zur Revision resignieren zu müssen. Die Linke tritt für dasselbe vollzählig ein, und ist einmal die Revision beschlossen, dann sind wir absolut sicher, dass sie mit dem Siege des allgemeinen Wahlrechts enden wird.

Vorläufig jedoch wurde unser Revisionsantrag abgelehnt, und es wäre absurd gewesen, zu denken, dass die Fortsetzung des Generalstreiks die Mehrheit zur Änderung ihres Beschlusses bewegen konnte.

Anderseits wurde es zwei Tage nach der Abstimmung, am 20. April, ganz klar, dass der König sich zum größten Nutzen der republikanischen Idee mit seinen Ministern solidarisch erklärte und von seinem Rechte der Kammerauflösung Gebrauch zu machen ablehnte. Was vermochte nun von diesem Augenblick an, die Fortsetzung des nunmehr aussichtslosen Generalstreiks zu erreichen?

War es denn nicht unvergleichlich richtiger, ihn einzustellen, dem Proletariat die unnötigen Opfer zu ersparen, seine Kräfte für einen neuen Angriff aufzuheben und einen neuen Beweis der proletarischen Disziplin zu geben, durch eine ebenso allgemeine Wiederaufnahme der Arbeit wie es die Arbeitsniederlegung gewesen war?

Dies war es, was der Generalrat der Arbeiterpartei beschloss, nicht auf einen Ratschlag der Radikalen hin, deren Manifest nicht um ein Haar in der Waagschale gewogen hat, sondern nach Anhören der Delegierten der lokalen und gewerkschaftlichen Föderationen, die sich mit 29 Stimmen gegen eine bei zwei Stimmenthaltungen, für die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit ausgesprochen hatten.

Der nächste Kongress der Arbeiterpartei wird urteilen, ob dieser Beschluss dem wohlverstandenen Interesse der sozialistischen Sache entsprach. Einstweilen behaupte ich, dass unsere Niederlage unseren Mut nicht geschwächt hat und dass wir energischer denn je den Kampf bis zum Siege zu führen, entschlossen sind.

Ich danke noch den deutschen Genossen, die uns in diesen schwierigen Zeiten materiell und moralisch unterstützten.

PS. Als ich vorliegende Zeilen an die „Neue Zeit" schrieb, hatte ich keine Kenntnis von ihrem Artikel „Ein dunkler Maitag", der ohne Signatur erschien, also die ganze Redaktion engagiert. Ich stehe davon ab, ihn zu beantworten, da ich glaube, dass Angriffe, die gegen die Gesamtheit der belgischen Arbeiterpartei gerichtet sind, von der Arbeiterpartei selbst zurückgewiesen (relevées) werden müssen. Diese wird nicht unterlassen, der nächsten Zusammenkunft des Internationalen Büros die Frage vorzulegen, ob das Recht der Kritik, das wir den Genossen der anderen Länder absolut zugestehen, sie ermächtigt, auf gröblich unrichtige Berichte hin Urteile abzugeben, die nicht bloß übelwollend (malveillantes), sondern sogar beschimpfend (injurieuses) sind. Und zwar Urteile, die nicht von einer einzelnen Persönlichkeit ausgehen, sondern von der Redaktion eines offiziellen Organs.

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