Rosa Luxemburg‎ > ‎Belgien‎ > ‎

Rosa Luxemburg 19020514 Und zum dritten Mal das belgische Experiment

Rosa Luxemburg: Und zum dritten Mal das belgische Experiment

[Erschienen in der „Neuen Zeit" am 14. Mai 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 350-366]

1. Zur Antwort an Genossen Emile Vandervelde

Wenn wir mit unseren kritischen Bemerkungen über die letzte Wahlrechtskampagne nicht gewartet haben, bis die Attacken der bürgerlichen Gegner in Belgien auf die Sozialdemokratie aufhören, so hat es zwei gute Gründe: erstens, weil wir wissen, dass unsere belgische Bruderpartei als echte Kampfpartei niemals aufhört, die Zielscheibe der gegnerischen Angriffe zu sein, und zweitens, weil wir gewohnt sind, dass der Genosse Vandervelde und seine Freunde sich nie besonders durch diese Angriffe geknickt fühlten, vielmehr stets mit einigen wohlgezielten Streichen an den bürgerlichen Angreifern ihres Wegs vorbeigingen. Schien doch auch den belgischen Genossen selbst die kritische Beurteilung ihrer Taktik im jüngsten Kampfe eilig und wichtig genug, um einen außerordentlichen Parteitag zu diesem Zwecke abzuhalten.

Genosse Vandervelde wirft mir nun aber eine ganz unrichtige Darstellung der Vorgänge in Belgien vor. Die Liberalen hätten gar keinen Einfluss auf das Verhalten der sozialistischen Führer ausgeübt, und die Taktik der Arbeiterführer hätte ihre eigenen Gründe für jede der getroffenen Maßnahmen gehabt.

Niemand wäre gewiss froher als wir selbst, aus berufenem Munde, durch den hervorragendsten Führer unserer belgischen Genossen über die Irrtümlichkeit unserer betrübenden Annahmen belehrt zu werden. Leider scheinen uns die Ausführungen des Genossen Vandervelde die Frage nur noch dunkler und schwieriger zu machen.

Die Liberalen ziehen selbst Vorteile aus dem bestehenden Wahlunrecht, sie wurden in die Wahlrechtskampagne wie zur Schlachtbank geschleppt, sie sind im Grunde genommen nicht Alliierte, sondern Gegner der Sozialisten gewesen, – wie reimt sich's aber damit, dass die Arbeiterpartei doch diesen angeblichen Freunden zuliebe das Kampfobjekt auf das Männerwahlrecht beschränkte, auf jede offene Festlegung der Bedingungen der Wahlberechtigung (21. Lebensjahr) verzichtete und die den belgischen Genossen an sich wenig sympathische Proportionalwahl zur Verfassungsklausel erhob?

Wie reimt sich's ferner damit, dass die belgischen Arbeiterführer während der ganzen Kampagne ihre Waffenbrüderschaft mit den Liberalen hoch priesen, ja, dass ihr erster Ruf nach der erlittenen Niederlage in der Kammer wie draußen vor dem Volke war: Unsere Allianz mit den Liberalen ist fester denn je!

Genosse Vandervelde hat vollkommen recht, die belgischen Liberalen sind und erwiesen sich im Grunde als Gegner und nicht als Freunde der Wahlrechtsbewegung. Das widerlegt aber nicht die Tatsache, dass die belgischen Genossen mit ihnen im letzten Kampfe Waffenbrüderschaft gehalten haben, sondern erklärt nur, weshalb dieser Kampf unter solchen Umständen zu einer eklatanten Niederlage führen musste.

Und das bestätigen alle weiteren Ausführungen des Genossen Vandervelde. Sobald die Liberalen sogleich zu Beginn der Kampagne die Arbeiterpartei verraten hatten, musste es unseres Erachtens klar sein, dass die parlamentarische Aktion hoffnungslos und nur die außerparlamentarische, die Straßenaktion irgendetwas auszurichten imstande war.

Genosse Vandervelde schließt umgekehrt, dass, sobald die Liberalen sich gegen die Sozialisten gewendet hatten, die Straßenaktion aussichtslos wurde. Die Fortsetzung des Generalstreiks hätte dann nur noch den Zweck gehabt, den König zur Kammerauflösung zu bewegen, sobald auch der König versagte, blieb nichts übrig, als nach Hause zu gehen. Damit wäre aber nicht nur über den Generalstreik im letzten Falle, sondern über die Anwendung dieser Waffe in Belgien überhaupt das Todesurteil gesprochen. Denn es genügt, dass die Liberalen sich gegen die Massenbewegung aussprechen, dass Kleopold sich den Teufel um sie schert, – und auf diese beiden Ergebnisse kann man mit voller Sicherheit auch fernerhin rechnen – damit die Aktion der Arbeitermasse für zwecklos erklärt wird. Angesichts dessen fehlt uns nur noch die Erklärung des Genossen Vandervelde, wozu der Generalstreik eigentlich proklamiert wurde, außer um der Welt das wundervolle Schauspiel einer einmütigen Arbeitsniederlegung und einer ebenso einmütigen Rückkehr zur Arbeit zu gewähren.

Was aber in diesem Räsonnement des Genossen Vandervelde das Wichtigste, das ist der unabweisbare Schluss, dass ein Sieg des allgemeinen Wahlrechts überhaupt nur noch auf parlamentarischem Wege, und zwar durch eine heroische Selbstüberwindung der Klerikalen zu erwarten ist. Beruft sich doch Genosse Vandervelde im vollen Ernst auf die Äußerung des Leaders (Führer) der belgischen Rechten, Herrn Woeste, der in dem angeführten Ausspruch seine Bereitwilligkeit zu jedem neuen Wahlrechtsschwindel mit einzigem Ausschluss des allgemeinen unverfälschten Wahlrechts, auf das es eben ankommt, erklärt… .

Völlige Enttäuschung in der Aktion der Volksmassen und die einzige Hoffnung auf die parlamentarische Aktion, das Streben, dem Feinde einzureden, dass er eigentlich der Besiegte sei, während man von ihm soeben aufs Haupt geschlagen wurde, das Suchen nach Vorwänden für die Niederlage während des Kampfes und das Sichtrösten gleich nach der Niederlage mit der unbestimmten Zuversicht auf künftige Siege, der Glaube an allerlei rettende politische Wunder, wie das Eingreifen eines Königs, wie der politische Selbstmord der Gegner – das ist alles so typisch für die kleinbürgerlich-liberale Taktik, dass wir, ohne auch an einen notariell besiegelten Bündnisvertrag zwischen den Sozialisten und den Liberalen zu denken, durch die Argumentation des Genossen Vandervelde in unserer Annahme von der geistigen Leitung der Liberalen während der letzten Kampagne nur bestärkt werden.

Hätten wir übrigens noch Zweifel, ob unsere aus der Ferne gebildete Auffassung der Vorgänge in Belgien sachlich zutrifft, so würden sie durch den Verlauf des soeben abgehaltenen außerordentlichen Kongresses der belgischen Genossen beseitigt. Die Anträge der Sozialisten von Charleroi, worin der Beschluss des Generalrats betreffend die Wiederaufnahme der Arbeit bedauert und jeder Kompromiss mit bürgerlichen Parteien verurteilt wird, die Ausführungen der Vertreter der großen Bergarbeitermasse, dieser ältesten und wichtigsten Bataillone der belgischen Arbeiterarmee, beweisen, dass man auch aus nächster Nähe zu denselben Schlüssen gelangen kann, wie wir sie ausgesprochen haben.

Freilich endete der Kongress mit einem Vertrauensvotum für den Generalrat der Arbeiterpartei, und das beweist, dass die Disziplin und das Vertrauen in die Führer unserer belgischen Partei glücklicherweise noch nicht ernstlich erschüttert sind. Allein bereits hat das erste Experiment mit Rücksichtnahme auf die liberale Taktik zu heftigen Auseinandersetzungen geführt; es müsste das letzte bleiben, wenn es nicht zu schlimmerem führen sollte.

Soviel zur Entgegnung dem Genossen E. Vandervelde.

Bei dieser Gelegenheit scheint es uns aber geboten, an die Vorgänge in Belgien einige Betrachtungen allgemeiner Natur zu knüpfen.

Wenn irgendeine Lehre klar und deutlich aus dem belgischen Experiment für das internationale Proletariat hervorgeht, so ist es unseres Erachtens jedenfalls die, dass die einseitigen Hoffnungen auf die parlamentarische Aktion und die bürgerliche Demokratie uns nur einer Reihe demoralisierender Niederlagen entgegenführen können. In diesem Sinne müssten die Vorgänge in Belgien als eine praktische Probe auf die Theorien des Opportunismus betrachtet werden und folgerichtig zu einer gründlichen Revision dieser Theorien bei ihren Anhängern führen.

Es geschieht zum Teil das direkte Gegenteil davon. Sowohl in der belgischen wie in der deutschen Parteipresse werden in merkwürdiger Übereinstimmung mit dem Mosse-Freisinn und dem Pfarrer Naumann Versuche gemacht, die belgische Niederlage ganz umgekehrt zu einer Revision der revolutionären Taktik zu fruktifizieren. Der Generalstreik, die Straßenaktion überhaupt sollen in Belgien ihre Überlebtheit und Untauglichkeit bewiesen haben. Im Brüsseler „Peuple" formuliert gar ein Genosse Franz Fischer als die oberste Lehre der jüngsten Erfahrungen – die Notwendigkeit des Überganges von der „Methode der revolutionären Phraseologie der Franzosen" zur „wohldurchdachten Methode der Organisation und Aufklärung der deutschen Sozialdemokratie, dieser Avantgarde des internationalen Sozialismus", und beruft sich dabei auf einen Beitrag im „Hamburger Echo", nach dem der Fall der Pariser Kommune bereits die letzte Probe von der Unbrauchbarkeit der revolutionären Mittel gewesen wäre.

Auch sonst in der deutschen Parteipresse konnte man gleich nach der Einstellung des Generalstreiks in Belgien lesen, „die Taktik, die die belgischen Genossen nunmehr befolgen, sei keine andere, als diejenige der deutschen Sozialdemokratie", die deutsche Sozialdemokratie habe stets den Generalstreik „als unbrauchbar und überflüssig" bekämpft, sie habe seit jeher „die politische Schulung und Organisation" der Arbeiterklasse für die einzige zielsichere Vorbereitung zur Eroberung der politischen Gewalt erklärt.

Die verkehrte Revision der belgischen Taktik aus Anlass der jüngsten Ereignisse wird also auch noch gewissermaßen unter der Ägide speziell der deutschen Sozialdemokratie vollzogen. Untersuchen wir nun in Kürze, was sich aus der Taktik der deutschen Sozialdemokratie für die Frage des Generalstreiks, dann im allgemeinen für die Rolle der Gewalt im proletarischen Kampfe ableiten lässt.

2. Der Generalstreik.

Der Generalstreik gehört zweifellos zu den ältesten Losungen der modernen Arbeiterbewegung und jedenfalls zu solchen, um die äußerst heftige und häufige Kämpfe im Schoße des Sozialismus ausgefochten wurden. Wenn man sich jedoch nicht vom bloßen Worte, vom Laute betäuben lässt, sondern der Sache auf den Grund geht, so muss man einsehen, dass unter dem Namen des Generalstreiks in verschiedenen Fällen ganz verschiedene Dinge verstanden und dementsprechend ganz verschieden beurteilt werden.

Es ist klar, dass der berühmte Generalstreik Nieuwenhuis' im Kriegsfall ein anderes Ding ist, als der internationale Generalstreik der Bergarbeiter, der anfangs der neunziger Jahre in England geplant wurde und zu dessen Gunsten Eleanor Marx auf dem Kongress der französischen Sozialisten in Lille (Oktober 1890) einen Antrag zur Annahme gebracht hatte; dass ein ebenso großer Unterschied zwischen dem im Oktober 1898 in Frankreich versuchten und kläglich gescheiterten Generalstreik aller Branchen zur Unterstützung der Eisenbahnerbewegung und dem glänzend gelungenen Generalstreik der Eisenbahner der Nordostbahn in der Schweiz besteht; dass der siegreiche Generalstreik in Carmaux im Jahre 1893 als Protestkundgebung gegen die Maßregelung des zum Bürgermeister gewählten Bergarbeiters Calvinhac nichts gemein hat mit dem bereits von dem chartistischen Konvent im Februar 1839 beschlossenen „heiligen Monat" usw. usw. Mit einem Worte, die erste Bedingung einer ernsten Beurteilung der Frage vom Generalstreik ist die Unterscheidung nationaler Generalstreiks von internationalen, politischer von gewerkschaftlichen, Branchenstreiks von allgemeinen, solcher, die durch ein bestimmtes Zeitereignis hervorgerufen sind, von solchen, die aus allgemeinen Bestrebungen des Proletariats abgeleitet werden usw. Es genügt bereits, sich die ganze Mannigfaltigkeit in der konkreten Erscheinung des Generalstreiks, die mannigfaltigen Erfahrungen mit diesem Kampfmittel zu vergegenwärtigen, um jedes Schablonisieren und summarische Ablehnen oder Verherrlichen dieser Waffe als eine Gedankenlosigkeit erscheinen zu lassen.

Wenn wir den rein gewerkschaftlichen Branchengeneralstreik ausscheiden, der bereits in den meisten Ländern zur täglichen Erscheinung geworden ist, und deshalb alles Theoretisieren überflüssig macht, und uns speziell dem politischen Generalstreik zuwenden, so muss unseres Erachtens dem Wesen dieser Kampfmethode entsprechend zweierlei unterschieden werden: der anarchistische Generalstreik und der politische Gelegenheitsmassenstreik, wie wir ihn ad hoc nennen möchten. In die erste Kategorie gehört vor allem der nationale zur Einführung der sozialistischen Ordnung in Aussicht genommene Generalstreik, der seit jeher das Steckenpferd der französischen Gewerkschaften, der Broussisten und Allemanisten, darstellt. Diese Auffassung fand zum Beispiel ihren klaren Ausdruck in dem Blatte „L'Internationale" vom 27. Mai 1869, wo es heißt: „Wenn die Streiks sich ausbreiten, miteinander in Verbindung treten, so sind sie sehr nahe daran, zu einem Generalstreik zu werden; und ein Generalstreik mit den Befreiungsideen, welche gegenwärtig herrschen, kann nur mit einem großen Zusammenbruch enden, der die gesellschaftliche Umwälzung vollziehen würde." Im gleichen Sinne beschließt der französische Gewerkschaftskongress zu Bordeaux im Jahre 1888: „Einzig und allein der Generalstreik oder die Revolution vermag die Befreiung der Arbeiterklasse herbeizuführen." Als charakteristisches Seitenstück zu diesem Beschluss wurde von demselben Kongress ein anderer gefasst, worin die Arbeiter aufgefordert werden, „sich scharf von den Politikern abzuscheiden, die sie betrügen". Auf dem gleichen Boden bewegt sich endlich auch der von Briand befürwortete und von Legien bekämpfte französische Antrag auf dem letzten internationalen Sozialistenkongress in Paris im Sommer 1900, der „die Arbeiter der ganzen Welt auffordert, sich für den Generalstreik zu organisieren, sei es, dass diese Organisation in ihren Händen ein einfaches Mittel, ein Hebel sein soll, auf die kapitalistische Gesellschaft jenen Druck auszuüben, der zur Herbeiführung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen unerlässlich ist, sei es, dass die Umstände sich so günstig gestalten, dass der Generalstreik in den Dienst der sozialen Revolution gestellt werden kann".

In dieselbe Kategorie gehört andererseits die Idee, den Generalstreik als Mittel gegen kapitalistische Kriege anzuwenden, eine Idee, der bereits der Kongress der Internationale in Brüssel 1868 durch eine Resolution Ausdruck gegeben hat und die wieder von Nieuwenhuis in den neunziger Jahren auf den internationalen sozialistischen Kongressen in Brüssel, Zürich und London aufgenommen und verfochten wurde.

Hier wie dort liegt das Charakteristische der Auffassung in dem Glauben an den Generalstreik, als an eine Panacee gegen die kapitalistische Gesellschaft im ganzen oder, was dasselbe, gegen einzelne ihrer Lebensfunktionen, der Glaube an eine abstrakte, absolute Kategorie des Generalstreiks als das Mittel des Klassenkampfes, das in jedem Augenblick und in allen Ländern gleichmäßig anwendbar und siegreich sei. Die Bäcker liefern keine Backware, die Laternen bleiben unangezündet, die Eisen- und Trambahnen zirkulieren nicht, – der Zusammenbruch ist da! … So ausgemalt auf dem Papier, taugte das Schema wie jedes Herumfahren mit der Stange im Nebel für alle Zeiten und Länder. Dieses Absehen von dem Örtlichen und Zeitlichen, von den konkreten politischen Bedingungen des Klassenkampfes in jedem Lande, zugleich von der organischen Verbindung des sozialistischen Entscheidungskampfes mit den alltäglichen proletarischen Kämpfen, mit der stufenweisen Aufklärungs- und Organisationsarbeit gab hier das typische anarchistische Gepräge der Auffassung. Mit dem Anarchistischen war aber zugleich das Utopische der Theorie gegeben, und mit diesem wieder – die Notwendigkeit der Bekämpfung der Generalstreikidee mit allen Mitteln.

Daher sehen wir auch die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten gegen die Generalstreikutopie auftreten. Die unermüdlichen Kämpfe der französischen Arbeiterpartei mit den französischen Gewerkschaften hatten hier ganz denselben Grund, wie die regelrechten Renkontres der deutschen Delegation auf den internationalen Kongressen mit Nieuwenhuis. Hier erwarb sich allerdings die deutsche Sozialdemokratie das besondere Verdienst nicht nur dadurch, dass sie die wissenschaftlichen Argumente gegen die utopische Theorie lieferte, sondern namentlich dadurch, dass sie den Spekulationen auf eine einmalige endgültige Schlacht „mit gekreuzten Armen" gegen den bürgerlichen Staat die Praxis des alltäglichen politischen Kampfes auf dem Boden des Parlamentarismus entgegenstellte.

So weit, aber auch nur so weit geht das, was man als die Bekämpfung des Generalstreiks durch die Sozialdemokratie häufig erwähnt. Lediglich gegen die absolute, anarchistische Theorie des Generalstreiks richtete sich tatsächlich die Kritik des wissenschaftlichen Sozialismus. Und lediglich gegen sie konnte sie sich auch richten.

Der politische gelegentliche Generalstreik, wie ihn die französischen Arbeiter hier und da zu bestimmten politischen Zwecken gebrauchten, so in dem erwähnten Fall in Carmaux, wie ihn namentlich die belgischen Arbeiter mehrmals im Kampfe um das allgemeine Wahlrecht in Anwendung brachten, hat mit jener anarchistischen Generalstreikidee nur den Namen und die technische Form gemein. Politisch sind es aber zwei entgegengesetzte Begriffe. Während jener Generalstreiklosung eine allgemeine abstrakte Theorie zugrunde liegt, ergeben sich die politischen Streiks der letzten Kategorie in bestimmten Ländern oder nur in bestimmten Städten und Gegenden als das Produkt einer besonderen politischen Lage, als Mittel zur Erzielung eines bestimmten politischen Effekts, die Wirksamkeit dieser Waffe kann schon deshalb im allgemeinen und von vornherein nidht bestritten werden, weil die Tatsachen, weil errungene Siege in Frankreich, in Belgien das Gegenteil beweisen. Aber auch die ganze Argumentation, die sich gegen Nieuwenhuis oder gegen die französischen Anarchisten so wirksam erwies, hält gegen die politischen Generalstreiks lokalen Charakters nicht im geringsten stand. Jene Behauptung, die Ausführung des Generalstreiks setze bereits eine Stufe der Organisation und der Aufklärung des Proletariats voraus, die den Generalstreik selbst überflüssig und die politische Machtergreifung durch die Arbeiterklasse ohne weiteres selbstverständlich macht, dieser meisterhafte Fechthieb des alten Liebknecht gegen Nieuwenhuis findet auf lokale und gelegentliche politische Generalstreiks keine Anwendung, denn hier sind nur eine populäre politische Losung und materiell günstige Umstände als Voraussetzungen notwendig.

Im Gegenteil, es unterliegt keinem Zweifel, dass die belgischen Generalstreiks als Mittel des Wahlrechtskampfes regelmäßig viel größere Volksmassen in die Bewegung reißen, als es dem sozialistischen Bewusstsein im eigentlichen Sinne entspricht. Ebenso bewirkte der politische Streik in Carmaux einen so starken und rapiden Aufklärungseffekt, dass sogar ein Abgeordneter der Rechten den Sozialisten nach dem Schlusse der Kampagne sagte: „Erringt noch einige solcher Erfolge wie in Carmaux, und ihr habt das flache Land erobert, denn die Bauern schlagen sich immer auf die Seite des Stärkeren, und ihr habt bewiesen, dass ihr stärker seid als die Grubengesellschaft, als die Regierung und als die Kammer." Statt sich also im geschlossenen Zirkel zwischen der als Voraussetzung notwendigen sozialistischen Aufklärung und dem beabsichtigten sozialistisch aufklärenden Ergebnis zu drehen, wie der Nieuwenhuis'sche oder der französisch-anarchistische Generalstreik, knüpft der gelegentliche politische Generalstreik nur an Momente des politischen Alltagslebens von tiefgreifender und aufregender Bedeutung an und dient seinerseits zugleich als wirksames Mittel der sozialistischen Agitation.

Desgleichen ist die Konstruierung eines Gegensatzes zwischen der politischen Alltagsarbeit und namentlich dem Parlamentarismus einerseits und dieser Kategorie des Generalstreiks andererseits ein Hieb in die Luft. Denn, weit entfernt, die parlamentarische und sonstige Kleinarbeit ersetzen zu wollen, reiht sich der politische Generalstreik bloß den anderen Agitations- und Kampfmitteln als ein Glied in der Kette an, ja noch mehr, er stellt sich selbst dem Parlamentarismus als ein Werkzeug in den Dienst. Bezeichnenderweise dienten alle bisherigen politischen Generalstreiks der Wahrung oder der Eroberung parlamentarischer Rechte: der in Carmaux dem Kommunalwahlrecht, die in Belgien – dem allgemeinen gleichen Wahlrecht.

Wenn somit die politischen Generalstreiks in Deutschland noch nicht vorgekommen und sonst nur vereinzelt in wenigen Ländern praktiziert worden sind, so liegt das durchaus nicht daran, dass sie einer angeblichen „deutschen Methode" des sozialistischen Kampfes widersprechen, sondern an dem einfachen Umstand, dass ganz bestimmte soziale und politische Bedingungen dazu gehören, einen Generalstreik als politisches Mittel zu ermöglichen. In Belgien bringt es die hohe industrielle Entwicklung im Verein mit dem kleinen Umfang des Landes mit sich, dass sowohl die lokale Ausbreitung der Arbeitsniederlegung leicht und rapid vor sich geht, wie dass eine absolut nicht zu große Zahl Streikender, etwa 300.000, genügt, um das ökonomische Leben des Landes lahmzulegen. Deutschland als ein umfangreiches Land mit lokal zersprengten Industrierayons, großen dazwischen gestreuten agrarischen Distrikten und einer absolut gewaltigen Arbeiterarmee befindet sich in dieser Beziehung in einer unvergleichlich ungünstigeren Lage. Und dasselbe bezieht sich auf Frankreich als Ganzes, überhaupt auf größere, weniger industriell zentralisierte Länder.

Was aber außerdem als entscheidendes Moment hinzukommt, ist ein bestimmtes Maß der Koalitionsfreiheit und der demokratischen Sitten. In einem Lande, wo streikende Arbeiter, wie in Oberschlesien, einfach durch Polizei und Gendarmen zur Arbeit getrieben werden, wo die Agitation Streikender unter „Arbeitswilligen" geradeswegs ins Gefängnis, wo nicht ins Zuchthaus, führt, kann natürlich von einem politischen Generalstreik nicht die Rede sein. Es ist also durchaus nicht als eine imaginäre Überlegenheit der deutschen Sozialdemokratie und eine momentane Verirrung der romanischen Länder zu betrachten, wenn der Generalstreik als politisch Waffe bisher nur in Belgien und zum Teil in Frankreich gebraucht wurde. Es ist dies vielmehr – neben dem Mangel bestimmter sozialer und geographischer Bedingungen – ein Zeugnis mehr für unsere halbasiatische Zurückgebliebenheit in politischer Hinsicht.

Endlich weist das Beispiel Englands, wo alle ökonomischen und politischen Voraussetzungen eines siegreichen Generalstreiks in hohem Maße zutreffen und wo diese mächtige Waffe trotzdem niemals im politischen Kampfe zur Anwendung kommt, auf noch eine wichtige Vorbedingung ihres Gebrauchs hin: auf die innere Verwachsung der gewerkschaftlichen und der politischen Arbeiterbewegung. Während in Belgien der wirtschaftliche Kampf mit dem politischen als ein organisches Ganzes funktioniert, die Gewerkschaften mit der Partei sich in jeder größeren Aktion zusammenfinden, einander auf Schritt und Tritt in die Hand arbeiten, schließt die engherzig gewerkschaftliche, deshalb auch zersplitterte Kirchturmpolitik der Trade Unions sowie der Mangel einer starken sozialistischen Partei in England ihre Zusammenfassung in politischen Generalstreiks aus.

Die nähere Betrachtung beweist somit, dass alles absolute Beurteilen und Verurteilen des Generalstreiks ohne Rücksicht auf besondere Verhältnisse in jedem Lande und namentlich auf Grund der deutschen Praxis nichts als nationale Überhebung und gedankenlose Schablonisierung ist. Und wieder zeigt es sich bei dieser Gelegenheit, dass, wenn uns mit solcher Beredsamkeit die Vorzüge der „freien Hand" in der sozialistischen Taktik, des „Sichnichtfestlegens", der Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit der konkreten Verhältnisse angepriesen werden, es sich im Grunde genommen immer nur um die Freiheit im Techtelmechtel mit bürgerlichen Parteien handelt. Steht dagegen eine Massenaktion, eine entfernt nach revolutionärer Taktik aussehende Kampfmethode in Frage, so erweisen sich die Schwärmer für die „freie Hand" sofort als die engherzigsten Dogmatiker, die den Klassenkampf auf dem ganzen Erdenrund in die spanischen Stiefel der sogenannten deutschen Taktik hineinzwängen möchten.

Wenn nun in Belgien der Generalstreik soeben resultatlos geblieben ist, so kann diese Tatsache schon deshalb zu einer „Revision" der belgischen Taktik nicht ausreichen, weil notorisch der Generalstreik weder vorbereitet noch eigentlich politisch angewendet, vielmehr von den Führern lahmgelegt und, bevor er überhaupt etwas ausrichten konnte, aufgelöst worden ist. Da die Massenaktion von der politischen, genauer parlamentarischen Leitung der Bewegung gar nicht in Aussicht genommen wurde, so standen die streikenden Massen ratlos im Hintergrund der Bühne, ohne jede Verbindung mit der eigentlichen im Vordergrund geführten Aktion, bis sie ganz von der Bühne abkommandiert wurden. Die Erfolglosigkeit der ganzen jüngsten belgischen Kampagne vermag somit ebenso wenig die Untauglichkeit des Generalstreiks zu beweisen, wie die Übergabe der Metzer Festung durch Bazaine die Untauglichkeit der Festungen im Kriege, wie der parlamentarische Verfall der deutschen Liberalen die Untauglichkeit des Parlamentarismus beweist.

Gerade umgekehrt. Das Fiasko der letzten Aktion der belgischen Arbeiterpartei muss jeden mit den Vorgängen Bekannten zu der Überzeugung bringen, dass nur der Generalstreik – wirklich ins Feld geführt – etwas hätte erreichen können. Und wenn eine Revision der Taktik der belgischen Genossen geboten ist, so scheint sie uns lediglich in der von uns bereits in dem vorigen Artikel an dieser Stelle angedeuteten Richtung zu liegen. Die Aprilkampagne hat nämlich das eine klar bewiesen: dass ein mittelbar gegen die Klerikalen, unmittelbar aber gegen die Bourgeoisie gerichteter Streik ein Schlag ins Wasser wird, sobald das kämpfende Proletariat mit der Bourgeoisie politisch verkoppelt ist. Aus einem Medium der politischen Pression auf die Regierung wird die Bourgeoisie für die Arbeiterschaft zur Kugel am Fuße, die ihre Schritte lähmt. Die wichtigste Lehre des belgischen Experiments lautet also nicht gegen den Generalstreik als solchen, sondern umgekehrt gegen eine parlamentarische Allianz mit dem Liberalismus, die jeden Generalstreik zur Unfruchtbarkeit verurteilt.

Dem Reagieren hingegen auf das bloße Wort „Generalstreik" mit den alten verschlissenen Schlagworten, die gegen die hirnverbrannten Ideen der Anarchisten und des Nieuwenhuis gedient haben, dem „Revidieren" der belgischen Taktik, lediglich auf Grund des oberflächlichsten Missverständnisses der belgischen Vorgänge, muss aber deshalb besonders scharf entgegengetreten werden, weil nicht nur die belgische Arbeiterschaft nach wie vor, sondern auch die schwedische gerade im Begriff steht, die Waffe des Generalstreiks im Kampfe um das allgemeine Wahlrecht zu schwingen. Es wäre sehr traurig, wenn sich auch nur die kleinste Gruppe der Kämpfenden in diesen Ländern durch die Redensarten von der Vorzüglichkeit der angeblichen „deutschen" Methoden in ihrer Strategie irre machen ließe.

3. Gewalt und Gesetzmäßigkeit.

Trotzdem bereits so viel in der letzten Zeit von der endgültigen Unbrauchbarkeit der revolutionären Mittel alten Stils geredet wurde, so ist es bis jetzt nie klar ausgesprochen worden, was man eigentlich unter diesen Mitteln versteht und womit man sie ersetzen will.

Gewöhnlich, so auch aus Anlass der belgischen Niederlage, pflegt man den „revolutionären Mitteln", d. h. in der Hauptsache der gewaltsamen Straßenrevolution, die alltägliche Organisation und Aufklärung der Arbeitermassen entgegenzustellen. Ein solches Verfahren ist jedoch aus dem einfachen Grunde verfehlt, weil Organisation und Aufklärung an sich noch kein Kampf, sondern bloß Vorbereitungsmittel zum Kampfe und als solche sowohl für eine Revolution wie für jede andere Form des Kampfes notwendig sind. Organisation und Aufklärung machen an sich noch ebenso wenig den politischen Kampf überflüssig, wie die Bildung von Gewerkschaften und Sammlung von Beiträgen die Lohnkämpfe und Streiks überflüssig machen. Was man in Wirklichkeit einander entgegenstellt, indem man im Gegensatz zu „revolutionären Mitteln" die Vorzüge der Organisation und Aufklärung anpreist, ist: einerseits gewaltsame Revolution, andererseits gesetzliche Reform, Parlamentarismus. „Es ist möglich, aus dem Kapitalismus zum Kommunismus durch eine Reihe sozialer Formen, rechtlicher und wirtschaftlicher Einrichtungen überzugehen, und deshalb ist es unsere Pflicht, vor dem Parlament diese logische Progression zu entwickeln." In diesen Worten Jaurès' (Petite République vom 11. Februar 1902) ist die obige Auffassung klar und deutlich formuliert, ebenso wie in der anderen Erklärung von ihm, „die einzige Methode, die dem Proletariat bleibt, sei diejenige der gesetzlichen Organisation und gesetzlichen Aktion". (Petite République vom 15. Februar 1902.)

Es ist für die Klärung der Frage äußerst wichtig, dies von vornherein festzuhalten, um alle Selbstverständlichkeiten über den Nutzen der Organisation und die Aufklärung der Massen aus dem Diskussionsfeld zu räumen und die Auseinandersetzung auf den einzigen wirklichen Streitpunkt zu konzentrieren.

Was uns vor allem an dem festen Entschluss, jeden Gebrauch der Gewalt im proletarischen Kampf durch die parlamentarische Aktion zu ersetzen, merkwürdig erscheint, ist die Vorstellung von einer willkürlichen Revolutionsmacherei. Nach dieser Auffassung werden Revolutionen offenbar, je nachdem sie als nützlich oder als überflüssig und schädlich erkannt sind, gemacht oder unterlassen, vorbereitet oder ad acta gelegt, und es kommt nur darauf an, welche Überzeugung jetzt in der Sozialdemokratie die Oberhand gewinnt, damit Revolutionen in kapitalistischen Ländern fernerhin zustande kommen oder nicht. So sehr jedoch die legalistische Theorie (Theorie der unbedingten Gesetzlichkeit) des Sozialismus die Macht der Arbeiterpartei in anderen Stücken unterschätzt, so sehr überschätzt sie sie in diesem Punkte.

Die Geschichte aller bisherigen Revolutionen zeigt uns, dass gewaltsame Volksbewegungen, weit entfernt, ein willkürliches, bewusstes Produkt der sogenannten „Führer" oder der „Parteien" zu sein, wie sich der Polizist und der offizielle bürgerliche Historiker einbildet, vielmehr ganz elementare, mit Naturgewalt sich durchsetzende soziale Phänomene sind, die ihre Quelle in dem Klassencharakter der modernen Gesellschaft haben. An dieser Sachlage hat sich zunächst durch das Aufkommen der Sozialdemokratie noch nichts geändert, und auch ihre Rolle besteht nicht darin, der geschichtlichen Entwicklung des Klassenkampfes Gesetze vorzuschreiben, sondern umgekehrt darin, sich ihren Gesetzen und dadurch diese sich dienstbar zu machen. Wollte sich die Sozialdemokratie proletarischen Revolutionen widersetzen, falls diese eine geschichtliche Notwendigkeit sind, so wäre das einzige Ergebnis dies, dass die Sozialdemokratie sich aus einer Führerin in eine Nachläuferin oder in ein ohnmächtiges Hindernis des Klassenkampfes verwandeln würde, der sich schließlich wohl oder übel ohne sie und gegen sie im gegebenen Augenblick durchsetzen müsste.

Es genügt, sich diese einfachen Tatsachen zu vergegenwärtigen, um einzusehen, dass die Frage: Revolution oder rein gesetzlicher Übergang zum Sozialismus? nicht eine Frage der sozialdemokratischen Taktik, sondern vor allem eine Frage der geschichtlichen Entwicklung ist. Mit anderen Worten: Indem unsere Opportunisten die Revolution aus dem proletarischen Klassenkampf eliminieren, dekretieren sie damit zugleich nicht mehr und nicht weniger, als dass die Gewalt aufgehört hat, ein Faktor der modernen Geschichte zu sein.

Dies der theoretische Kern der Frage. Man braucht die obige Ansicht nur zu formulieren, damit ihr Wahnwitz in die Augen springt. Die Gewalt hat nicht nur mit dem Aufkommen der bürgerlichen „Gesetzmäßigkeit", des Parlamentarismus, nicht aufgehört, eine geschichtliche Rolle zu spielen, sondern sie ist heute genauso gut wie in allen früheren Epochen die Basis der bestehenden politischen Ordnung. Der ganze kapitalistische Staat beruht auf der Gewalt, und seine militärische Organisation ist an sich ein genügender, faustdicker Beweis dafür, den zu übersehen ein wahres Kunststück des opportunistischen Doktrinarismus ist. Aber auch die Domänen der „Gesetzmäßigkeit" selbst liefern dafür bei näherem Zusehen Beweise genug. Sind Chinakredite nicht von der „Gesetzmäßigkeit", vom Parlamentarismus gelieferte Mittel zu Gewaltakten? Sind Gerichtsurteile wie das Löbtauer nicht „gesetzliche" Ausübung der Gewalt? Ja fragen wir besser: Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Wenn ein „freier Bürger" von einem anderen gegen seinen Willen, zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelass gesteckt und dort eine Zeitlang gehalten wird, so versteht jeder, dass dies ein Gewaltakt ist. Sobald jedoch die Operation auf Grund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelass „königlich-preußisches Gefängnis" oder Zuchthaus heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist es ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe „Militärdienst" heißt, bildet sich der gute Bürger ein, in vollem Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen gegen ihren Willen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, dass ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang „indirekte Steuererhebung", dann liegt bloß eine Ausübung der geltenden Gesetze vor.

Mit einem Worte: was sich uns als bürgerliche Gesetzmäßigkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Opportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln: die „gesetzliche Ordnung" als eine selbständige Schöpfung der „Gerechtigkeit" und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine „Sanktion" der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als die Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporgewachsenen politischen Gewalt der Bourgeoisie.

Daran ist nun das Phantastische der ganzen Theorie des sozialistischen Legalismus zu messen. Während die herrschenden Klassen in vollem Umfang, in ihrem ganzen Tun und Lassen sich auf die Gewalt stützen, soll das Proletariat allein im Kampfe gegen diese Klassen auf den Gebrauch der Gewalt von vornherein und ein für allemal verzichten. Und zwar welches fürchterliche Schwert soll ihm als Waffe zur Niederzwingung der herrschenden Gewalt dienen? Dieselbe Gesetzlichkeit, in der sich die Gewalt der Bourgeoisie zu einer herrschenden, zur gesellschaftlichen Norm stempelt!

Freilich, dieses Gebiet der bürgerlichen Gesetzlichkeit des Parlamentarismus ist nicht nur ein Herrschaftsfeld für die kapitalistische Klasse, sondern auch der Kampfboden, worauf die Gegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie zum Austrag kommen. Allein, da für die Bourgeoisie die Rechtsordnung nur ein Ausdruck ihrer herrschenden Gewalt ist, so kann der parlamentarische Kampf für das Proletariat nur das Streben sein, auch seinerseits seine Gewalt zur Herrschaft zu bringen. Steht hinter unserer gesetzlichen, parlamentarischen Tätigkeit nicht die Gewalt der Arbeiterklasse, jederzeit bereit, im Notfall in Aktion zu treten, dann verwandelt sich die parlamentarische Aktion der Sozialdemokratie in einen ebenso geistreichen Zeitvertreib, wie zum Beispiel das Wasserschöpfen mit einem Siebe. Die „Realpolitiker", die unausgesetzt auf die „positiven Erfolge" der parlamentarischen Tätigkeit der Sozialdemokratie hinweisen, um sie als ein Argument gegen die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Gewalt im Arbeiterkampf auszuspielen, bemerken gar nicht, dass diese Erfolge selbst bei aller Geringfügigkeit doch nur als ein Produkt der unsichtbaren, latenten Wirkung der Gewalt zu betrachten sind.

Aber nicht genug. Die Tatsache, dass auf dem Grunde der bürgerlichen Gesetzlichkeit doch nur wieder die Gewalt liegt, kommt in den Wechselfällen der eigenen Geschichte des Parlamentarismus zum Ausdruck.

Praktisch äußert sich das in der handgreiflichen Tatsache, dass, falls die herrschenden Klassen einmal im Ernst glauben könnten, hinter unseren Parlamentariern ständen nicht zur Aktion im gegebenen Falle bereite Volksmassen, die revolutionären Köpfe und die revolutionären Zungen wären nicht imstande oder hielten es nicht für zweckmäßig, im gegebenen Falle revolutionäre Fäuste zu regieren, dass in diesem Falle der Parlamentarismus selbst und die ganze Gesetzlichkeit uns früher oder später als Boden des politischen Kampfes unter den Füßen weggezogen würden. Dies beweist in positiver Weise das Schicksal des Wahlrechts in Sachsen, wie in negativer Weise das des Reichstagswahlrechts. Es wird wohl niemand zweifeln, dass das so häufig bedrohte allgemeine Wahlrecht in Deutschland nicht etwa aus Rücksicht auf den deutschen Liberalismus, sondern hauptsächlich aus Furcht vor der Arbeiterklasse, aus Überzeugung, dass die Sozialdemokratie hier keinen Spaß versteht, nicht eskamotiert wird. Und ebenso wird auch der größte Fanatiker der Gesetzlichkeit nicht zu bestreiten wagen, dass, falls man uns eines Tages das allgemeine Reichstagswahlrecht doch eskamotieren sollte, die deutsche Arbeiterklasse keineswegs von bloßen „gesetzlichen Protesten", sondern vielmehr von gewaltsamen Mitteln früher oder später die Zurückeroberung des gesetzlichen Kampfbodens würde erhoffen dürfen.

So wird die Theorie des sozialistischen Legalismus schon durch die praktischen Eventualitäten ad absurdum geführt. Die Gewalt erscheint, weit entfernt, durch die „Gesetzlichkeit" entthront zu sein, vielmehr als der eigentliche Schirmherr, genauer als die Basis der Gesetzlichkeit – sowohl auf Seite der Bourgeoisie wie auf der des Proletariats.

Und umgekehrt erweist sich die Gesetzlichkeit als das ständigen Schwankungen unterworfene Produkt der jeweiligen Machtverhältnisse unter den kämpfenden Klassen. Bayern wie Sachsen, Belgien wie das Deutsche Reich sind ebenso viele Beispiele aus der allerletzten Zeit dafür, dass die parlamentarischen Bedingungen des politischen Kampfes gewährt oder verweigert, aufrechterhalten oder zurückgenommen werden, je nachdem dabei die Interessen der herrschenden Klasse in der Hauptsache gesichert werden können oder nicht, ferner, je nachdem die latente Gewalt der Volksmassen als Sturmbock oder ausreichende Schutzwehr ihre Wirkung ausübt.

Kann aber somit die Gewalt als Mittel der Defensive zum Schutze des parlamentarischen Besitzstandes in gewissen äußersten Fällen nicht entbehrt werden, dann ergibt sie sich nicht minder als das in bestimmten Fällen unersetzliche Mittel der Offensive dort, wo das gesetzliche Terrain des Klassenkampfes erst zu erobern ist.

Die Versuche der Revision der „revolutionären Mittel" im Anschluss an die jüngsten belgischen Ereignisse sind vielmehr die merkwürdigste Probe der politischen Konsequenz, die der revisionistische Drang überhaupt seit Jahren zum Besten gegeben hat. Selbst, wenn man von einem Fiasko der „revolutionären Mittel" im Sinne der Gewalt in der belgischen Kampagne sprechen könnte, so setzt die summarische Verurteilung dieser Mittel auf Grund der einen belgischen Niederlage offenbar voraus, dass der Gebrauch der Gewalt im Arbeiterkampfe unbedingt eine Garantie des Erfolges unter allen Umständen und in jedem Falle geben müsse. Es ist klar, dass, dürfte man in dieser Weise schlussfolgern, wir längst zum Beispiel den gewerkschaftlichen Kampf, die Lohnkämpfe hätten ad acta legen müssen, denn diese haben uns gewiss schon unzählige Niederlagen eingebracht.

Das Merkwürdigste liegt jedoch darin, dass in dem belgischen Kampfe, der die Wirkungslosigkeit der Gewaltmittel bewiesen haben soll, von Gewalt seitens der Arbeiter – wenn man nicht mit der Polizei den ruhigen Streik schon zu einer Gewalttat stempelt – nicht der geringste Gebrauch gemacht worden ist! Und gerade deshalb beweist die belgische Niederlage das direkte Gegenteil von dem, was man ihr unterschieben will: Sie beweist, dass in Belgien gegenwärtig das allgemeine gleiche Wahlrecht, nach allem zu urteilen, angesichts des Verrats der Liberalen wie der Entschlossenheit des Klerikalismus zu den äußersten Mitteln, ziemlich wenig Aussicht hat, ohne Gewaltanwendung errungen zu werden. Ja, sie beweist noch mehr! Sie beweist, dass, wenn sogar so elementare, rein bürgerliche, nicht im geringsten über den Rahmen der bestehenden Ordnung hinausgehende parlamentarische Formen wie ein gleiches Wahlrecht auf friedlichem Wege nicht zu erobern sind, dass, wenn die herrschenden Klassen schon zum Widerstand gegen eine im kapitalistischen Staat selbstverständliche, rein bürgerliche Reform an die nackte Gewalt ihrerseits appellieren, dass angesichts dessen alle Spekulationen auf eine friedliche parlamentarische Abschaffung der kapitalistischen Staatsgewalt, der ganzen Klassenherrschaft, nichts als eine lächerliche Phantasie aus der politischen Kinderstube sind.

Und noch eins beweist die belgische Niederlage! Sie beweist wieder einmal, dass, wenn die sozialistischen Legalisten die bürgerliche Demokratie als die berufene historische Form zur allmählichen Verwirklichung des Sozialismus betrachten, sie nicht mit einer konkreten Demokratie, einem konkreten Parlamentarismus operieren, wie sie hienieden auf Erden ihr tristes und schwankes Dasein führen, sondern mit einer eingebildeten, abstrakten Demokratie, die über allen Klassen stehend, in ewigem Fortschritt und stetem Wachstum ihrer Macht begriffen ist.

Ganz phantastische Unterschätzung der wachsenden Reaktion und ebenso phantastische Überschätzung der Errungenschaften der Demokratie gehören hier zueinander und ergänzen einander auf das Glücklichste. Jaurès schwelgt inmitten der winzigen Reformen Millerands und der mikroskopischen Erfolge des Republikanismus und erklärt jede Vorlage über eine Reform des Gymnasialunterrichts, jedes Projekt einer Arbeitslosenstatistik für ebenso viele Grundsteine der sozialistischen Ordnung. Er erinnert dabei ganz an seinen Landsmann Tartarin aus Tarascon, der in seinem exotischen „Wundergarten" zwischen den Blumentöpfchen mit fingergroßen Bananen, Baobabs und Kokospalmen sich einbildet, dass er unter dem kühlen Schatten eines tropischen Urwaldes lustwandelt.

Und unsere Opportunisten stecken solche Backenstreiche von der Wirklichkeit, wie den jüngsten Verrat des belgischen Liberalismus, ein und erklären darauf: ceterum censeo, der Sozialismus kann nur durch die Demokratie des bürgerlichen Staates verwirklicht werden.

Sie bemerken gar nicht, dass sie dabei nichts anderes tun, als nur mit anderen Worten die alten Theorien wiederholen, wonach die bürgerliche Gesetzlichkeit und Demokratie die Freiheit, Gleichheit und allgemeine Glückseligkeit zu verwirklichen berufen ist, – nicht Theorien der großen französischen Revolution – ihre Losungen waren erst naiver Glaube vor der historischen Probe aufs Exempel – sondern Theorien der schwatzhaften Literaten und Advokaten von 1848, der Odilon Barrot, Lamartine, Garnier-Pages, die alle Verheißungen der großen Revolution durch das bloße parlamentarische Geschwätz zu verwirklichen gelobten. Und es war erst nötig, dass diese Theorien ein tagtägliches Fiasko binnen einem Jahrhundert erlebten, dass die Sozialdemokratie als das fleischgewordene Fiasko dieser Theorie sie so gründlich begrub, dass sogar die Erinnerung an sie, an ihre Urheber, an das ganze historische Kolorit völlig verschwunden war, damit sie heute als eine ganz frische Idee zur Verwirklichung der sozialdemokratischen Ziele auferstehen konnte. Was den opportunistischen Lehren somit zugrunde liegt, ist offenbar nicht, wie man sich einbildet, die Theorie der Evolution, sondern die periodischen Wiederholungen der Geschichte, wobei jede neue Auflage immer langweiliger und abgeschmackter wird.

Die deutsche Sozialdemokratie hat unbestreitbar eine äußerst wichtige Revision der sozialistischen Taktik vor Jahrzehnten vollzogen und sich damit ein ungeheures Verdienst vor dem internationalen Proletariat erworben. Diese Revision bestand darin, dass der alte Glaube an die gewaltsame Revolution als einzige Methode des Klassenkampfes und als das jederzeit anwendbare Mittel zur Einführung der sozialistischen Ordnung verabschiedet wurde. Heute ist es, wie die Pariser Resolution von Kautsky wieder formuliert hat, herrschende Ansicht geworden, dass die Ergreifung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse erst das Ergebnis einer mehr oder weniger langen Periode des regelmäßigen täglichen Klassenkampfes sein könne, indem die Bestrebungen zur fortschreitenden Demokratisierung des Staates und des Parlamentarismus ein äußerst wirksames Mittel zur geistigen und zum Teil materiellen Hebung der Arbeiterklasse darstellen.

Das ist aber auch alles, was die deutsche Sozialdemokratie praktisch nachgewiesen hat. Weder ist damit die Gewalt aus der Geschichte überhaupt, noch gewaltsame Revolutionen als Kampfmittel des Proletariats ein für allemal wegdekretiert und der Parlamentarismus zur einzigen Methode des Klassenkampfes erhoben worden. Ganz im Gegenteil, die Gewalt ist und bleibt die ultima ratio auch der Arbeiterklasse, das bald in latentem, bald in aktivem Zustand wirkende oberste Gesetz des Klassenkampfes. Und wenn wir durch die parlamentarische wie jede andere Tätigkeit die Köpfe revolutionieren, so geschieht es, damit schließlich im Notfall die Revolution aus den Köpfen in die Fäuste hinuntersteigt.

Allerdings nicht aus Vorliebe für Gewalttaten oder für revolutionäre Romantik müssen die sozialistischen Parteien früher oder später, in Fällen, wo unsere Bestrebungen sich gegen vitale Interessen der herrschenden Klassen richten, auch auf gewaltsame Zusammenstöße mit der bürgerlichen Gesellschaft gefasst sein, sondern aus bitterer historischer Notwendigkeit. Der Parlamentarismus als allein seligmachendes politisches Kampfmittel der Arbeiterklasse ist ebenso phantastisch und in letzter Linie reaktionär, wie der allein seligmachende Generalstreik oder die allein seligmachende Barrikade. Freilich ist die gewaltsame Revolution unter den heutigen Verhältnissen ein äußerst schwer anwendbares, zweischneidiges Mittel. Und wir dürfen auch erwarten, dass das Proletariat von diesem Mittel nur dann Gebrauch machen wird, wenn es den einzigen passierbaren Weg für sein Vordringen darstellt, und selbstverständlich nur unter Bedingungen, wo die gesamte politische Lage und das Kräfteverhältnis mehr oder minder die Wahrscheinlichkeit des Erfolges verbürgen. Aber die klare Einsicht in die Notwendigkeit der Gewaltanwendung sowohl in einzelnen Episoden des Klassenkampfes wie zur endgültigen Eroberung der Staatsgewalt ist dabei von vornherein unerlässlich, sie ist es, die auch unserer friedlichen, gesetzlichen Tätigkeit den eigentlichen Nachdruck und die Wirksamkeit zu verleihen vermag.

Wollte die Sozialdemokratie wirklich einmal, wie ihr die Opportunisten nahelegen, von vornherein und ein für allemal auf den Gebrauch der Gewalt verzichten und die Arbeitermassen auf die bürgerliche Gesetzlichkeit einschwören, dann würde ihr ganzer parlamentarischer und sonstiger politischer Kampf früher oder später kläglich in sich zusammenfallen, um der uneingeschränkten Herrschaft der Gewalt der Reaktion das Feld zu räumen.

Kommentare