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Rosa Luxemburg 19130418 Tolstois Nachlass

Rosa Luxemburg: Tolstois Nachlass

[Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 185-190]

Der literarische Nachlass Tolstois, der in deutscher Sprache bei Ladyschnikow in Berlin erschienen ist, umfasst in den drei Bänden neben mehreren kleineren Skizzen und Fragmenten in der Hauptsache die große historische Erzählung „Hadshi Murat", die uns die Unterwerfung des Kaukasus durch Russland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schildert; drei Tendenzerzählungen, „Der Teufel", „Der gefälschte Coupon" und „Vater Sergius"; zwei Dramen, „Das Licht, das im Dunkel leuchtet" sowie „Der lebende Leichnam", endlich zwei Schilderungen des russischen Dorflebens aus der Zeit der Leibeigenschaft, „Ein Idyll" und „Tichon und Malanja". Außer den beiden letzten Novellen, die schon zu Beginn der sechziger Jahre entstanden sind, stammen alle aufgezählten größeren Werke aus den letzten zwei Jahrzehnten des Lebens Tolstois, und man könnte über die Frische, den Glanz und den Reichtum dieser Geistesprodukte eines mehr als Sechzig- und Siebzigjährigen staunen, wenn die Werke selbst nicht zugleich die beste Erklärung für die unerschöpfliche Fruchtbarkeit des Tolstoischen Genies böten.

Die landläufige bürgerliche Auffassung pflegt zwischen dem Künstler Tolstoi und dem Moralisten Tolstoi scharf zu unterscheiden; dem ersten wird jetzt unstreitig ein Platz unter den größten Schöpfern der Weltliteratur zugebilligt, der zweite wird als unheimlicher und abgeschmackter Geselle in die russische Wildnis verbannt, aus dem „slawischen" Hange zum Tiefsinn und ähnlichem Unsinn erklärt und als halber Schwärmer und halber Anarchist, auf jeden Fall als Feind der Kunst im Allgemeinen und seiner eigenen Kunst insbesondere beklagt. Aus dieser Auffassung heraus richtete auch seinerzeit Iwan Turgenjew seine bekannte Beschwörung an Tolstoi, sich um Himmels willen von der moralisch-philosophischen Grübelei ab- und der herrlichen reinen Kunst wieder zuzuwenden, die an den prophetischen Marotten Tolstois zugrunde ginge. Eine solche Auffassung zeugt auf jeden Fall von völliger Verständnislosigkeit Tolstoi gegenüber, denn wer sein Ideenleben nicht versteht, dem ist auch seine Kunst oder wenigstens die wirkliche Quelle seiner Kunst verschlossen.

Tolstoi ist gerade darin vielleicht ein einziger in der Weltliteratur, dass bei ihm zwischen dem eigenen inneren Leben und der Kunst völlige Identität besteht, die Literatur ist ihm nur ein Mittel, seine Gedankenarbeit und seinen inneren Kampf auszudrücken. Und weil diese unermüdliche Arbeit und dieser qualvolle Kampf den Menschen ganz erfüllten und bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufhörten, deshalb ist Tolstoi der gewaltige Künstler geworden und hat der Quell seiner Kunst bis an sein Lebensende in unerschöpflichem Reichtum und immer größerer Klarheit und Schönheit gesprudelt. Ohne große Persönlichkeit und große Weltanschauung keine große Kunst. Tolstoi suchte seit dem ersten Erwachen seines bewussten Geisteslebens nach Wahrheit. Aber dieses Suchen ist ihm nicht literarische Beschäftigung, die mit seinem Privatleben nichts zu tun hat wie bei den sonstigen „Wahrheitssuchern" der modernen Literatur, es ist für ihn ein persönliches Lebensproblem, das all sein Tun und Empfinden erfüllt, das seine Lebensweise, sein Familienleben, seine Freundschafts- und Liebesbeziehungen, seine Arbeitsweise und auch seine Kunst vollkommen beherrscht. Dieses Suchen bewegt sich auch nicht in den zwerghaften Weltschmerzen eines „Individuums", das sein liebes männliches oder weibliches Ich in dem Käfig der kleinbürgerlichen Existenz nicht ausleben kann wie bei Ibsen oder Björnson. Tolstois ewiges Suchen ist auf solche Lebens- und Daseinsformen gerichtet, die mit dem Ideal der Sittlichkeit im Einklang stehen würden. Sein sittliches Ideal ist aber rein sozialer Natur: Gleichheit und Solidarität aller Gesellschaftsmitglieder, basiert auf allgemeiner Arbeitspflicht, das ist es, nach dessen Verwirklichung die Helden seiner Werke unermüdlich tasten und streben: Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden", Lewin in der „Anna Karenina", Fürst Nechljudow in der „Auferstehung" sowie im Nachlass der „Vater Sergius" und endlich Sarynzew im „Licht, das im Dunkel leuchtet". Die Geschichte der Tolstoischen Kunst ist Suchen nach der Lösung des Widerspruches zwischen diesem Ideal und den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen. Da er von seinem Ideal in dem ganzen langen Leben und bis zu seiner Todesstunde um keinen Preis ablassen, mit dem Bestehenden nicht um eines Haares Breite Kompromisse schließen will, zugleich aber den einzigen gangbaren Weg zur Verwirklichung des Ideals, die Weltanschauung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes, nicht annimmt und als ein echter Sohn des vorkapitalistischen Russlands auch nicht annehmen kann, so ergibt sich daraus die besondere Tragik seines Lebens und seines Todes. Sein vom historischen Boden losgelöstes Gesellschaftsideal schwebt in der Luft der individuellen moralischen „Auferstehung" urchristlicher Färbung oder im besten Falle eines konfusen Agrarkommunismus. In der Lösung seines Problems ist Tolstoi sein Lebtag Utopist und Moralist geblieben. Aber für die Kunst und ihre Wirkungskraft ist nicht die Lösung, nicht das soziale Rezept, sondern das Problem selbst, die Tiefe, die Kühnheit und Aufrichtigkeit in seiner Erfassung entscheidend. Hier hat Tolstoi das Höchste an Gedankenarbeit und an innerem Kampf geleistet, und das hat ihm ermöglicht, das Höchste in der Kunst zu erreichen. Dieselbe unerbittliche Ehrlichkeit und Gründlichkeit, die ihn dazu führte, das gesamte Gesellschaftsleben in all seinen Bedingungen an dem Ideal kritisch zu prüfen, hat ihn auch befähigt, dieses Leben in seinem großen Bau und seinen Zusammenhängen als Ganzes künstlerisch zu erschauen und so zu dem unerreichbaren Epiker zu werden, als welcher er sich in seiner Mannesreife in „Krieg und Frieden" und als Greis im „Hadshi Murat" und im „Gefälschten Coupon" zeigt.

Freilich ist Tolstois Genie von der ursprünglichen, natürlichen Art einer unerschöpflichen Goldader. Wie wenig aber die stärkste künstlerische Begabung ohne den sicheren Kompass einer großen, ernsten Weltanschauung schöpferisch zu wirken vermag, das zeigte jüngst wieder das Beispiel des Dänen Jensen. Sein feines, farbiges und geistreiches Erfassen der Handlung und seine souveräne Beherrschung der technischen Mittel der Erzählung machen ihn zu einem geborenen Epiker großen Stils. Und doch, was hat er in seiner „Madame d'Ora", in seinem „Rad" anderes geliefert als ein gequältes, gigantisches Zerrbild der modernen Gesellschaft, eine grell angestrichene Jahrmarktsbude mit Abnormitäten, die halb wie dreiste Kolportage wirkt und halb wie boshafte Verhöhnung der Leser selbst. Das macht, ihm fehlt eine innere einheitliche Weltanschauung, um die sich die Einzelheiten gruppieren könnten, ihm fehlen der heilige Ernst, die Ehrlichkeit und die Wahrhaftigkeit, mit denen Tolstoi an seine Sachen herantritt.

Alle diese Eigenschaften Tolstois kommen in seinem Nachlass zur höchsten Entfaltung. Hier macht er nicht die leisesten Kompromisse mehr an die Formschönheit, an das Sensations- oder Beruhigungsbedürfnis der Leser. Hier legt er jedes Beiwerk, alles Literarische beiseite und gelangt zu strengster Selbstzucht, höchster Ehrlichkeit und knappsten Ausdrucksmitteln. Hier ist seine Kunst mit der Sache so sehr identisch, dass sie kaum noch überhaupt zu merken ist. Und deshalb ist Tolstoi gerade im Nachlass, in seinen letzten Lebenswerken zu jener höchsten Kunst aufgestiegen, dass sie ihm zur Selbstverständlichkeit wird, dass ihm alles, was er in die Hand nimmt, gedeiht, sich sofort gestaltet und lebt. Er wählt hier – im „Vater Sergius" zum Beispiel, dem Lebensgang eines büßenden Weltmannes, im „Gefälschten Coupon", der Wanderungsgeschichte einer falschen Banknote durch verschiedene Schichten des russischen Volkes – Themen und Ideen, die als reine Tendenzprosa jede schwächere Kunst und jede nicht so vollkommene Ehrlichkeit unrettbar ertöten würden. Bei Tolstoi entsteht mit den einfachsten Mitteln einer ungekünstelten Erzählung ein grandioses Gemälde menschlicher Schicksale von höchster künstlerischer Wirkung.

Dieselbe tiefe, man möchte sagen, beispiellose Ehrlichkeit verwandelt die beiden Dramen des Nachlasses, trotzdem ihnen so ziemlich alles abgeht, was als „dramatische Handlung" und „Lösung" zu den landläufigen Erfordernissen eines bühnenfähigen Stückes gehört, in Erlebnisse von tiefer, erschütternder Wirkung. Es ist besonders interessant und lehrreich, in einer Theatervorstellung die geistige Kluft zu beobachten, die zwischen diesen beiden genialen Schöpfungen eines großen Dichters und dem bürgerlichen Publikum gähnt. „Das Licht, das im Dunkel leuchtet" ist nichts anderes als das eigene Lebensdrama Tolstois. In diesem Kampfe eines einsamen Titanen gegen die täglichen Umklammerungen des Kompromisses, denen er sich zu entreißen sucht und in denen er verblutet, sieht das Bourgeoispublikum natürlich nur ein rührendes „Ehedrama", einen Konflikt zwischen „Mutterpflichten", „Gattenpflichten" und was dergleichen holde Drangsale des deutschen Philisterschlafzimmers mehr sind. Die erschütterndsten Szenen wie die vor dem Militärkommando, wo ein Jüngling seinen Abscheu vor dem Militarismus in einer entschiedenen Dienstverweigerung zum Ausdruck bringt und dafür einer endlosen geistigen Folter ausgesetzt wird, wie der vergebliche letzte Fluchtversuch des Kämpfers für soziale Gleichheit aus seiner Familie und die tragische Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Frau – alle diese tiefernsten, ehrlichen Worte wirken in dem Milieu des deutschen Bourgeoispublikums, das durch die landläufige Verlogenheit des heutigen Theaters korrumpiert ist, wie etwas durchaus Unpassendes, Befremdendes, Peinliches, beinahe wie eine Unanständigkeit. Ebenso wenig geistiges Band knüpft sich zwischen dem Zuschauerraum und dem anderen Drama Tolstois, dem „Lebenden Leichnam". Das geputzte Publikum des deutschen Theaters, das sich wohl hauptsächlich wegen der Sensation eines Zigeunerchors und der gruseligen Pikanterien der „Eheirrung" zu den Vorstellungen drängt, ahnt offenbar gar nicht, dass es auf es unausgesetzt Ohrfeigen von der Bühne regnet, wo die wohlanständige, honette Gesellschaft in ihrer ganzen inneren Erbärmlichkeit, Beschränktheit und kalten Selbstsucht geschildert wird, während die einzigen Wesen mit fühlender menschlicher Brust und mit großmütigen Regungen unter den so genannten „Lumpen", unter Verstoßenen und Verkommenen zu finden sind. Das korrumpierte, durch den Panzer der Trivialität seines Daseins unempfindlich gemachte Bourgeoispublikum, das ins Theater geht, nur um sich zu zerstreuen, merkt gar nicht, dass von ihm selbst „die Fabel erzählt", wenn der verlumpte Held des Dramas in seiner letzten Zufluchtsstätte, einer schmutzigen Schenke, seine Lebensgeschichte mit den schlichten Sätzen erklärt: „Wer in den Kreisen, denen ich entstamme, geboren ist, der hat nur drei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder kann er ein Amt bekleiden, kann Geld verdienen und den Schmutz, in dem wir leben, vermehren – das war mir zuwider, oder vielleicht verstand ich es auch nicht, vor allem aber war es mir zuwider. Oder er kann diesen Schmutz bekämpfen, doch dazu muss er ein Held sein, und der bin ich nie gewesen. Oder endlich drittens: Er sucht zu vergessen, wird liederlich, trinkt und singt – das habe ich getan, und so weit hab' ich's damit gebracht."1 Die „ein Amt bekleiden, Geld verdienen und den Schmutz vermehren" klatschen begeistert Beifall dem mimenden Schauspieler, aber das geistige Reich des Dichters blieb ihnen ein böhmisches Dorf, wie ihnen das Geistesleben der modernen Arbeiterbewegung, des Massenhelden, der „den Schmutz bekämpft", auf ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.

Deshalb gehört der Nachlass Tolstois, sowohl die Erzählungen wie die Dramen, noch mehr als seine früheren Werke vor das Arbeiterpublikum. Tolstoi hatte freilich kein Verständnis für die moderne Arbeiterbewegung, aber es wäre ein schlimmes Zeichen für die geistige Reife der aufgeklärten Arbeiterschaft, wenn sie ihrerseits kein Verständnis dafür hätte, dass die geniale Kunst Tolstois trotzdem den reinsten und echtesten Geist des Sozialismus atmet. Als Todfeind der bestehenden Gesellschaft, als unerschrockener Kämpfer für Gleichheit, Solidarität unter den Menschen und für Rechte der Besitzlosen, als unbestechlicher Entlarver aller Heuchelei und Verlogenheit der heutigen Zustände in Staat, Kirche, Ehe ist Tolstoi trotz aller utopistisch-moralisierenden Form in seinem Wesen durch und durch geistesverwandt mit dem revolutionären Proletariat. Seine Kunst gehört vor das Arbeiterpublikum, aber allerdings vor ein revolutionär aufgeklärtes, von den Schlacken des deutschen Philistertums gereinigtes Arbeiterpublikum, das imstande ist, sich selbst über alle Vorurteile und jeden Autoritätsglauben zu erheben, und das den Mut hat, auch innerlich alle feigen Kompromisse von sich zu werfen. Namentlich kann es keine erzieherisch bessere Lektüre für die Arbeiterjugend geben als die Werke von Tolstoi.

1 Leo Nikolajewitsch Tolstoi: Der lebende Leichnam, Leipzig (1948), S. 59/60.

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