Franz Mehring 18940100 Björnsons „Fallissement"

Franz Mehring: Björnsons „Fallissement"

Januar 1894

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 5, S. 3-9. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 102-106]

Neben Ibsen ist Björnson der Klassiker der norwegischen Dramatik, ja man kann im gewissen Sinne sagen: beide sind die letzten großen Dramatiker der bürgerlichen Welt. Und es hat schon seinen guten Grund, dass sie Norweger und keine Deutschen sind.

Norwegen ist das Land, das sich nach dem Siege der europäischen Reaktion bei Waterloo allein in unserem Weltteile eine demokratische Verfassung zu wahren wusste, dank dem urwüchsigen Kleinbauern- und Kleinbürgertum, das seit mehreren Jahrhunderten die herrschende Klasse der norwegischen Gesellschaft gebildet hatte.

Der norwegische Bauer war nie leibeigen, und das gibt der ganzen Entwicklung, ähnlich wie in Kastilien, einen ganz andren Hintergrund. Der norwegische Kleinbürger ist der Sohn des freien Bauern und ist unter diesen Umständen ein Mann gegenüber dem verkommnen deutschen Spießer."1 So Engels, der damit in treffender Weise den Unterschied bloßlegt zwischen den bürgerlichen Klassen von Deutschland, die ihren eigentümlichen Charakter von Beschränktheit, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative durch den Dreißigjährigen Krieg und die ihm folgende Zeit erhalten haben, und den bürgerlichen Klassen von Norwegen, die niemals gewaltsam in überlebte Zustände zurückgeworfen worden sind und durch Jahrhunderte sich in normalem Zusammenhange mit ihren ökonomischen Produktionsbedingungen auch geistig entwickelt haben.

Freilich hatte diese kleinbürgerliche Welt, die der Entwicklung der großen Industrie, die der Börse und allen sonstigen Hebeln der Kapitalkonzentration keinen Raum bot, auch einen geistig beschränkten Horizont, eben den Horizont eines Kleinbauern- und Kleinbürgertums; was darüberhinaus lag an geistigen Anregungen und Interessen, das konnte zunächst nur als künstlich eingeführte Treibhauspflanze gedeihen. Aber je mehr die moderne Produktionsweise auch Norwegen in ihre Kreise zog, umso tiefere Wurzeln schlugen die fremden Reiser in dem noch frischen und jungfräulichen Boden. Dies ist der Grund, weshalb sich in Norwegen und den skandinavischen Ländern überhaupt – daneben auch in Russland, wo unter wesentlich anderen tatsächlichen Vorbedingungen sich doch ebenfalls die Bourgeoisie kräftig entwickelt – eine letzte, in ihrer Art klassische Literatur entfaltet hat. Sie macht gleichsam im abgekürzten Verfahren die literarische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts durch, und kein skandinavischer Dichter zeigt diesen Prozess klassischer auf als Ibsen: erst die Romantik, dann den kleinbürgerlichen Radikalismus, endlich all den Hypnotismus, Mystizismus, Spiritismus, worin die großbürgerliche Gesellschaft von Europa den St. Veitstanz ihrer Auflösung vollzieht.

Doch ist die kleinbürgerliche Wurzel der skandinavischen Dramatik ihre echteste und unvergänglichste. Weder die Dramen aus Ibsens erster, romantischer Periode, die mittelalterlichen Historien und die faustisch-dunkeln Dichtungen, noch die Dramen aus seiner dritten, mystischen Periode, wie „Baumeister Solneß", sind unvergängliche Kunstwerke. Diesen Ruhm können nur die Dramen seiner mittleren, kleinbürgerlichen Periode beanspruchen: „Nora", die „Stützen der Gesellschaft", der „Volksfeind", die unseren älteren Mitgliedern bekannt sind. Sie werden Ibsens Namen am längsten erhalten. Hier steht er ganz auf seinem mütterlichen Boden; er ist der geniale Sprecher eines alten, kernigen, kräftigen Kleinbürgertums, das seine Herde mannhaft, aber hoffnungslos gegen das mit kapitalistischer Wucht hereinbrechende Mittel- und Großbürgertum verteidigt. Es ist wenig oder nichts damit gesagt, wenn man diese Dramen wegen ihres Pessimismus preist oder verurteilt. So ein ideologisches Schlagwort gewinnt erst wirklichen Inhalt und Sinn, wenn man den sozialen Untergrund prüft, den es im gegebenen Falle hat. In allen untergehenden Klassen greift der Pessimismus mehr oder weniger um sich, aber im einzelnen Falle kommt es immer darauf an, welche Klasse und wie sie untergeht. Der Pessimismus des deutschen Spießbürgers Schopenhauer ist ganz etwas anderes als der Pessimismus des norwegischen Kleinbürgers Ibsen. Der norwegische Kleinbürger empört sich und kämpft, während der deutsche Spießbürger sich duckt und duldet. Dieses Kampfelement gibt den Werken von Ibsens zweiter Periode eine so mächtige dramatische Spannung.

Nicht in gleichem Maße eignet dies Kampfelement den dramatischen Werken Björnsons, deren bedeutendstes eben das „Fallissement" ist. Auch bei Björnson wiegt das kleinbürgerliche Element in seiner herb-kräftigen norwegischen Färbung vor, aber doch abgedämpfter und abgetönter als bei Ibsen. Ein Unterschied, der sich vielleicht schon aus der Verschiedenheit des sozialen Milieus erklärt, in dem die beiden Dichter ihre ersten Eindrücke empfangen haben. Björnson ist als das Kind eines Landpastors in der Einsamkeit der norwegischen Landschaft geboren, Ibsen in einem jener kleinen norwegischen Küstenstädtchen, die wie in einem Handspiegel schon alle sozialen Kontraste unserer Großstädte aufzeigen. So begann Björnson seine dichterische Laufbahn mit idyllischen zarten Bildern aus dem frischen Naturleben des norwegischen Landvolkes, Ibsen mit Dramen aus der nordischen Vergangenheit, mit Werken voll rauer und roher Kraft. Björnson hofft noch auf eine Versöhnung der sozialen Gegensätze, Ibsen hat diese Hoffnung längst aufgegeben. Da er als bürgerlicher Dichtet den einzigen rettenden Ausweg aus den sozialen Wirren der Gegenwart nicht zu erkennen vermag, so verliert er sich in jenen Mystizismus und Spiritismus, von dem wir schon sprachen, während Björnson der Ansicht lebt, dass der bankrotte Großkapitalist sich nur auf seine besseren menschlichen Eigenschaften zu besinnen braucht, um in einer prächtigen Idylle kleinbürgerlichen Wirkens fortan glücklich zu leben.

So im „Fallissement". Der Großhändler Tjälde steht am Vorabend des Bankerotts. Er hat in dreijährigem, furchtbarem Ringen gegen übermächtige Verhältnisse die Katastrophe hintangehalten; er ist geistig und körperlich vollkommen aufgerieben, innerlich gänzlich mit seiner Familie zerfallen. Seine edle Frau verzehrt sich in innerem Schmerze über das Unheil, das sie kommen sieht, ohne es doch aufhalten zu können. Seine Tochter Signe tändelt gedankenlos mit ihrem Bräutigam dahin, einem Kavallerie-Leutnant ohne Herz und Kopf. Seine andere Tochter, Walburg, spielt die hochmütige Prinzess von Geldsacks Gnaden. Sannäs, der Prokurist ihres Vaters, betet sie an, aber sie weist seine schüchterne Huldigung verächtlich zurück und verspottet ihn wegen der roten Hände, die er sich im Dienste ihres Vaters geholt hat. Im Augenblick eines letzten verzweifelten Coups nun, durch den er alles zurückzugewinnen hofft, wird Tjälde durch die grausam unerbittliche Logik des Advokaten Berent dazu getrieben, seinen Konkurs anzumelden. Furchtbar bricht das verdiente Gericht über ihn herein; er muss sich einen Schurken nennen lassen von den gutherzigen Narren, deren Vertrauen er getäuscht, deren Wort er leichtfertig verpfändet hat, um seine Lügen zu decken. Aber jetzt tritt der Prokurist Sannäs hervor und bietet sein eigenes geringes Vermögen an, um der Familie des Großhändlers eine neue, kleine Existenz zu gründen. Es gelingt durch die rastlose Arbeit aller. Signe, deren Bräutigam sie sofort nach dem Krach in schmählicher Weise verlassen hat, arbeitet in der Küche und Walburg im Kontor. Tjälde entfaltet seine glänzenden Gaben nunmehr für solide Zwecke, und Sannäs steht ihm als unermüdlicher Gehilfe zur Seite. Die gemeinsame Arbeit hat so glücklichen Erfolg, dass schon nach wenigen Jahren die Schulden des Konkurses gedeckt werden können. Danach will Sannäs in die Fremde ziehen, aber die reuige, durch die Arbeit geläuterte Walburg hält ihn und bietet ihm ihre Hand. Mit ihrer Verlobung schließt das Schauspiel.

Seine Achillesferse ist leicht erkennbar. Sie liegt im vierten Akte, der kleinbürgerlichen Idylle nach dem großbürgerlichen Bankbruche. Der Dichter schildert die Idylle reizend genug, und er glaubt auch wirklich daran, dass der großkapitalistische Schwindel sich auf dem Wege der Selbsterkenntnis bessern lässt. Aber in der Wirklichkeit lassen sich die ökonomischen Wirkungen ökonomischer Ursachen nicht durch moralische Mittelchen heilen. Da endet eine bankrotte Kapitalistenfamilie anders als bei Björnson. Und wir können dem nur zustimmen, was ein Kritiker vor Jahren in der „Neuen Zeit" schrieb: „Hätte der unerbittlich wahre Ibsen den letzten Akt des Fallissements geschrieben, so wäre er anders geworden. Signe und Walburg würden ihrem Vater Vorwürfe machen, Signe mit dem Egoismus des Kindes, Walburg mit der verletzten Eitelkeit einer hochmütigen Dame. Die Mutter würde heimlich sparen und scharren, um für ihre Töchter ein paar Fähnchen zu kaufen, in denen sie noch immer als stolze Damen herumstolzieren könnten, und sie selbst würde in der Küche sitzen und das Essen kochen, über das alle schiefe Gesichter ziehen. Der Vater würde unzufrieden und mürrisch seine Arbeit tun oder bei den früheren Bekannten herum schmarotzen." In der Tat – so oder so ähnlich würde die Familie Tjälde nach dem Bankerott in Wirklichkeit aussehen, und so oder so ähnlich würde Ibsen ihren Ausgang geschildert haben. Wir möchten nur nicht sagen: wegen seiner „unerbittlichen Wahrheit", denn wahr ist Björnson in seiner Art auch, sondern weil er einen tieferen Blick in die sozialen Zusammenhänge besitzt.

Wäre Björnson nicht auch wahr, glaubte er nicht an das, was er schildert, schriebe er im kapitalistischen Interesse, so würde sein Schauspiel nicht auf die Freie Volksbühne gehören. Für dramatische Experimente zur Verheuchelung sozialer Gegensätze ist sie nicht da. Aber davon kann bei Björnson nicht im Entferntesten die Rede sein. Er ist der norwegische Kleinbürger, der redlich daran glaubt, dass alles soziale Elend aus der Welt zu schaffen sei, wenn die soziale Entwicklung auf der kleinbürgerlichen Stufe festgehalten wird. Innerhalb dieser Schranke aber, ein wie vortrefflicher, ein wie frischer, lebendiger Dramatiker ist er, ja, wie ist er als Dichter demselben Ibsen überlegen, dem er als Denker nachstehen mag! Die drei ersten Akte des „Fallissements" gehören zu dem Großartigsten, was die moderne Dramatik kennt; wie wimmeln sie von lebendigen Gestalten, wie steigern sie sich in mächtiger unaufhaltsamer Spannung! Und auch der vierte Akt, nimmt man einmal seine psychologisch unmöglichen Voraussetzungen hin, ist ein kleines Kunststück für sich, eine gar anmutige und liebliche Idylle, und als ein wie gründlicher, handfester und gar nicht zimperlicher Bursche kommt noch dieser Sannäs heraus, der anfangs als demütiger, die Tochter des Prinzipals liebender und in der Stunde der Not opferwütiger Kommis etwas zu sehr an alte Komödienfiguren erinnert hatte.

Kurzum, Björnson hat mit vollen Händen aus dem vollen Leben geschöpft, und mit dem vielen Schönen, das seine Dichtung bietet, mag man denn auch den einen großen Fehler hinnehmen, der nicht sowohl ihre Schuld, als die Schuld der Zeit ist, worin sie entstand.

1 Brief Engels' an Paul Ernst vom 5. Juni 1890.

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