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Rosa Luxemburg 19140728 Der Friede, der Dreibund und wir

Rosa Luxemburg: Der Friede, der Dreibund und wir

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 85 vom 28. Juli 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 476-479]

Die Vorgänge haben der internationalen Politik der Sozialdemokratie ein glänzendes Zeugnis ausgestellt. Heute sieht der Blinde, dass die unaufhörlichen Wettrüstungen und imperialistischen Zettelungen mit eherner Notwendigkeit zu dem Ergebnis geführt haben, vor dem die Partei des klassenbewussten Proletariats nachdrücklich und unermüdlich gewarnt hat: dicht an den Abgrund eines furchtbaren europäischen Krieges. Heute erkennen mit Entsetzen auch diejenigen Volksschichten, die sich durch die chauvinistische Hetze des Militarismus hatten einfangen lassen, dass das unaufhörliche Rüsten nicht eine Bürgschaft des Friedens, sondern eine Saat des Krieges mit all seinen Schrecken war. Gerade das Groteske des unmittelbaren Anlasses, aus dem morgen vielleicht in ganz Europa der Kriegsbrand auflodern wird, zeigt am deutlichsten, wie die imperialistischen Staaten in ihrem blinden Treiben Mächte auf den Plan gerufen haben, die ihnen in einem gegebenen Moment über den Kopf wachsen und sie in ihren Strudel reißen werden. Es zeigt sich ferner mit aller handgreiflichen Deutlichkeit, wie sehr die militaristischen Bündnisse, die nach der verlogenen offiziellen Darstellung, auf die naive Gemüter hereinfielen, Pfeiler des europäischen Gleichgewichts und des Friedens sein sollten, sich umgekehrt als mechanische Mittel trefflich bewähren, in einen lokalen Konflikt zweier Staaten alle anderen Großmächte hineinzuziehen und so einen Weltkrieg heraufzubeschwören. Der Dreibund hat sich diesmal genauso ohnmächtig gezeigt, einen österreichischen Kriegsvorstoß zu verhüten, wie er vor drei Jahren außerstande war, Italien vor dem blutigen Abenteuer in Tripolis zurückzuhalten. Die Verpflichtungen der Bundesgenossen gegeneinander reichten nicht soweit, für das österreichische Ultimatum, das den Krieg entfesselt hat, auch nur erst die Mitwirkung und Zustimmung der deutschen Regierung geschweige der Volksvertretung einzuholen. Sie wandeln sich aber, nach der eigenmächtigen Kriegsprovokation Österreichs, in eine „Pflicht" für Deutschland, sich gleichfalls in das Blutmeer kopfüber zu stürzen, sobald das verbrecherische Treiben Österreichs den russischen Bären auf den Kampfplatz wird herausgelockt haben. Und ebenso soll Frankreichs Volk an die Schlachtbank geschleppt werden, sobald und weil der russische Zarismus, gepeitscht durch die Erinnyen der Revolution im Innern und die Furien des Imperialismus in seiner auswärtigen Politik, zwischen den Speeren die Rettung oder den Untergang suchen wird.

Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht verneint werden. Man kann den kopflosen Leitern der deutschen Politik ruhig zugestehen, dass ihnen in diesem Augenblick jede andere Perspektive in lieblicherem Lichte erscheint als die, um des habsburgischen Bartes willen alle Schrecken und Wagnisse des Krieges mit Russland und Frankreich oder gar am letzten Ende mit England auf sich zu nehmen. Diese Kriegsunlust ist aber, weit entfernt, ein versöhnendes und Achtung gebietendes Moment in den Augen der Volksmassen zu sein, vielmehr ein Grund mehr, das Treiben dieser unverantwortlichen Lenker der deutschen Geschicke vor das strengste Gericht der Volksmassen zu ziehen. Denn was hat mehr zu der heutigen Kriegslage beigetragen als das wahnwitzige Rüsten, als die ungeheuerlichen Militärvorlagen, die in Deutschland in den letzten Jahren förmlich einander jagten? Was hat mehr die imperialistischen Appetite im Süden Europas entfesselt, den Zündstoff angehäuft, die Gegensätze verschärft als die frivole Einmischung Deutschlands in den Marokkokonflikt, die erst den italienischen Raubzug ermutigt, im weiteren Gefolge die Balkankriege entfesselt und so am letzten Ende den heutigen Krieg mit vorbereitet hat? Wenn diejenigen, die seit Jahren mit dem Blut und Gut von Millionen unter kriegerischem Säbelgerassel freventlich gespielt und das Feuer geschürt haben, jetzt vor den Folgen ihres eigenen Tuns ein Grauen überkommt, so haben die Millionen der Proletarier, die auf der Wacht des Völkerfriedens stehen, für diese „Friedenswünsche" der deutschen Regierung beileibe weder ein Gefühl der Solidarität noch Achtung, sondern nur grimmigen Hohn und eisige Kälte. Kommt es doch in der Politik nicht auf Gefühle und Wünsche, sondern auf Taten und ihre Konsequenzen an. Was aber die tatsächliche Aktion zur Bewahrung des Friedens in Europa betrifft, so gehen die Taktik der regierenden Kreise und die Taktik des klassenbewussten Proletariats in diametral entgegengesetzter Richtung auseinander.

Es gibt nämlich in diesem Augenblick zweierlei Methoden, den europäischen Frieden zu beschützen. Diejenige der offiziellen Politik – wie sie auch durch den Mosse-Freisinn im „Berliner Tageblatt" vertreten wird – besteht darin, Russland von der Einmischung in den österreichisch-serbischen Konflikt abzuschrecken durch die feste Aussicht auf die Dreibundtreue Deutschlands und dessen Entschlossenheit, seinerseits dem russischen Bären sofort auf die Pfoten zu schlagen. Von diesem Standpunkt liegt sogar die Möglichkeit nahe, dass man die Aktion der deutschen Sozialdemokratie gegen den Krieg wird zu verdächtigen versuchen, als ermutige sie gerade die Kriegshetzer in Russland, indem sie die eventuell notwendige Kriegsaktion Deutschlands im Voraus zu lähmen drohe. Gegenüber diesem Räsonnement im Stile des „Berliner Tageblatts" hätte indes das Proletariat nur die kühle Antwort, dass es überhaupt für die Methode, den russischen Kriegsteufel durch den deutschen Kriegsbeelzebub zu vertreiben, keinen Pfifferling gibt. Das klassenbewusste Proletariat kennt eine andere, viel wirksamere und seinem internationalen Klassenstandpunkt viel entsprechendere Methode, dem russischen wie dem vaterländischen Kriegsteufel die Hölle heiß zu machen. Und das ist die Methode, den Kriegsgelüsten der Regierungen den entschlossenen Friedenswillen der Volksmassen entgegenzustellen. Es ist im Grunde genommen die Methode, die in seiner Weise und seinen Verhältnissen entsprechend seit Jahr und Tag das Petersburger Proletariat so glorreich anwendet. Wenn es jetzt noch eine Hoffnung gibt, dass der russische Bär vor den Gefahren des Kriegsabenteuers im letzten Augenblick trotz alledem vielleicht zurückschrecken wird, so ist es einzig und allein der schöne Brand der beginnenden Revolution im eigenen Hause, der diese magische Wirkung auf die herrschende Kamarilla an der Newa ausüben kann. Gelingt es diesmal, den Frieden Europas noch zu wahren, so hat sich Europa dafür nicht bei dem Dreibund, sondern bei dem heldenhaften russischen Proletariat und seiner unerschöpflichen revolutionären Energie zu bedanken. Und ebenso besteht die einzige wirkliche Garantie des Friedens für Deutschland wie für Frankreich darin, ohne Verzug mit aller Energie die latente Macht des Proletariats in Bewegung zu setzen, eine so nachdrückliche Massenaktion gegen den Krieg zu organisieren, dass die lauen „Friedenswünsche" der Regierungen in einen heißen Schreck vor den unabsehbaren Konsequenzen eines Krieges gewandelt werden. Den Regierungen und den herrschenden Klassen muss gezeigt werden, dass heutzutage ohne das Volk und gegen das Volk keine Kriege mehr geführt werden können. Ihnen muss gezeigt werden, dass es sich für diejenigen, die einen Weltkrieg gegen den ausgesprochenen Willen der Volksmassen unter welchem Vorwand auch anzuzetteln wagen, um Kopf und Kragen handelt. Das französische Proletariat hat soeben auf dem außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratie1 seine Bereitschaft zur Entfaltung nachdrücklichster Massenaktionen in diesem Sinne klar und deutlich ausgesprochen. Das deutsche Proletariat muss durch seine Bereitschaft zu Aktionen gegen den Krieg mit steigendem Nachdruck gleichfalls auf dem Posten stehen.

1 Der außerordentliche Parteitag der Parti Socialiste (Sozialistische Partei) fand vom 14. bis 16. Juli 1914 in Paris statt.

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