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Rosa Luxemburg 19170500 Zwei Osterbotschaften

Rosa Luxemburg: Zwei Osterbotschaften

[Nicht gezeichneter Artikel, Spartacus, Nr.-5 vom Mai 1917. In: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 347-351. Nach Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 265-269]

Das grandiose welthistorische Drama an der Newa entbehrt nicht eines grotesk-heiteren Nebenspiels – an der Spree. Unter dem Eindruck der russischen Revolution fängt Preußen-Deutschland an, sich zu „modernisieren". Und was wird da an „Neuorientierung" zutage gefördert? Ein Rest Jesuitengesetz und der famose Sprachenparagraph des Vereinsgesetzes werden abgeschafft! Also ein Vermächtnis aus Bismarcks seligen Zeiten der Ausnahmegesetze von 1872 und ein anderes aus den schönen Zeiten des Bülowschen Hottentottenblocks, das ist's, womit Deutschland heute mit Stolz aufräumt! Ja, und nicht zu vergessen, die kaiserliche Osterbotschaft hat ja auch noch versprochen, nach dem Kriege, so Gott gibt und das deutsche Volk sich weiter brav aufführt, sogar irgendein Pluralwahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhaus zu schenken und das preußische Herrenhaus zu – reformieren! Dass du die Nas' ins Gesicht behältst, sagte Onkel Bräsig. Das sind die Reformen, zu denen sich Deutschland bereits unter der Wirkung der russischen Ereignisse aufgerafft hat. Nun, sind wir nicht schön belohnt für die runden zwei Millionen Menschenleben, die der Völkermord verschlungen hat, für das Elend und den Hunger der Massen, für die furchtbare Steuerlast, die in Zukunft droht, für den Belagerungszustand und die geduldig ertragene dreijährige Säbeldiktatur? Macht das deutsche Volk nicht die besten Geschäfte, wenn es gehorsam nach der Pfeife der herrschenden Klassen tanzt und das Maul hält? Ein Schelm, wer das jetzt noch nicht kapiert.

Indes Scherz beiseite. Nichts hat plötzlich die erschreckende starre Reaktion, in der Deutschland versinkt, so grell beleuchtet wie gerade diese grotesken „Reform"versuche im Feuerschein des russischen Brandes. Wer denkt da nicht an jene alte Tante, die bei der Nachricht vom bevorstehenden Zusammenprall der Erde mit dem Kometen schleunigst ihre ältesten Mantillen aus der Truhe hervorholte, um die Motten aus ihnen auszuklopfen. Nach Russland, dem gestrigen „Kosakenland", pilgert heute alles wie die heiligen drei Könige aus dem Morgenlande nach Bethlehem an die Wiege des Erlösers, indes Deutschland – das Land der „konstitutionellen Freiheiten" – seine ostelbischen Komposthaufen aufdeckt, um sie ein wenig umzurühren, und in den infernalischen Düften, die dabei aufsteigen, so recht wie eine Vogelscheuche aus dem Mittelalter wirkt. Solche Verschiebungen des politischen Erdprofils bringen in 24 Stunden revolutionäre Vulkanausbrüche fertig!

Aber auch das deutsche Proletariat steht noch im Großen und Ganzen verdutzt da und denkt, die Revolution geschehe in Russland und sei nur ein erfreuliches und erbauliches Schauspiel in der Nachbarschaft. Es begreift nicht, dass es seine eigene Sache ist, die Sache des einen und unteilbaren internationalen Proletariats, das dort den ersten Anlauf zur welthistorischen Auseinandersetzung mit der Klassenherrschaft des Kapitals nimmt. Noch weniger begreifen dies diejenigen „Führer" des deutschen Proletariats, die zu ihrem Unglück in der Schule der alten deutschen Sozialdemokratie groß oder richtiger klein geworden sind. Die Arbeitsgemeinschaft reagierte auf die russische Revolution durch Aufstellung eines ganz neuen „Aktionsprogramms", und darunter versteht sie – eine lange Liste furchtbar radikaler Anträge, die sie dem Reichstag präsentieren will. Was ist da nicht alles zu finden! Beinahe das ganze Parteiprogramm ist abgeschrieben und soll nun auf den Tisch des Hauses gelegt werden. Man weiß wirklich nicht, was man zu diesem tragikomischen Johannistrieb sagen soll. Das ist also in dieser Stunde das Wichtigste: Anträge an den Reichstag zu richten?! An diesen Reichstag der imperialistischen Mameluckengarde! Und gerade heute, wo einer Welt daran liegt, den deutschen Massen endlich klarzumachen, dass sie nichts vom Parlamentarismus, dass sie alles nur von der eigenen Initiative, Tatkraft und Aktionsfähigkeit zu erwarten haben, heute, wo Russland auch dem Blindesten handgreiflich zeigt, was „Aktionsprogramm" und was „Aktion" heißt – kommt die Arbeitsgemeinschaft mit einer Fuhre voll radikalster Forderungen an den Reichstag, und das Reden an die Wand über diese Anträge soll eine „Aktion" sein!

Indes gemach! Vielleicht irren wir uns. Vielleicht war das „Aktionsprogramm" der Arbeitsgemeinschaft gar nicht ernst als parlamentarische Aktion gemeint, vielleicht war es nur gedacht als das übliche Hilfsmittel, um den Massen wieder das sozialdemokratische Programm in Erinnerung zu bringen und gerade von der Tribüne des Reichstags zu verkünden, dass nichts im Reichstag, dass alles „auf der Straße" erreicht werden könne? Nun, wir besitzen einen deutlichen Kommentar der tatsächlichen Auffassung der Arbeitsgemeinschaft über diese Frage, und zwar in dem Berliner „Mitteilungs-Blatt" der Arbeitsgemeinschaft, das am 8. April in seinem Osterartikel schrieb:

Es ist ein altes, wahres Wort, dass man keine Revolutionen künstlich machen kann. Das gilt für unsere Zeit mehr denn je. Man kann wohl Putsche inszenieren, aber den großartig organisierten des heutigen Militärstaates gegenüber sind sie zur Aussichtslosigkeit verurteilt, ebenso wie elementar ausbrechende Hungerrevolten bald erstickt werden können. Wie bei einem modernen Kriege werden auch bei einer Revolution eine Unsumme von Faktoren zusammenwirken, ehe ein ganzes Volk in gewaltsame Zuckungen gerät. Darum ist es auch falsch, die revolutionären Erscheinungen und revolutionären Mittel des einen Landes schematisch auf ein anderes Land übertragen zu wollen, dem die wirtschaftlichen Grundlagen, die politischen und sozialen Zustände, die geschichtliche Entwicklung und der Volkscharakter ganz anders geartet sind …

Wir haben mit anderen Verhältnissen zu rechnen als drüben in Russland, der Kampf um unsere innere Freiheit muss daher andere Formen annehmen. Dieser Kampf hat in diesen Tagen unter dem moralischen Eindruck der Vorgänge in Russland auf parlamentarischem Boden ." [Hervorhebungen – R. L.]

Also – ein unzweideutiges Bekenntnis zu der Weisheit: In Russland macht man Revolutionen, in Deutschland hingegen „kämpft" man im Reichstag. Wortwörtlich dasselbe legten Theodor Wolff und der strebsame Rechtsanwalt W. Heine in dem Mosseschen Freisinnsblatt dar! Da haben wir ja wieder eine so klassische Blüte des unverfälschten, unversehrten, unveräußerlichen, unverbesserlichen parlamentarischen Kretinismus, dass keine Prügel dafür zu kräftig wären. Hier wird ja gerade die Unmöglichkeit einer Massenrevolution in Deutschland gepredigt und das abgeschmackte Geschwätz von den „großartig organisierten Machtmitteln des modernen Staates" wiedergekäut. Obwohl gerade der russische Arbeiter- und Soldatenrat zeigt, wie trefflich diese Mittel zu Machtmitteln des Volkes, der Revolution werden, wenn – wenn eben das Proletariat revolutionär ist!

In Deutschland weiß die Arbeitsgemeinschaft den Proletariermassen eine andere Rolle zuzuweisen: Da „die Kraft unserer Parlamentarier" „allein doch zu schwach ist", meint derselbe Artikel einige Zeilen weiter, sollen sie „in engster Fühlung" mit den Massen verbleiben und für deren „Mitwirkung" bei der parlamentarischen Aktion der Auserwählten im Reichstag Sorge tragen. „Nur dann werden unsere Parlamentarier ihre freiheitlichen Forderungen durchsetzen können." Und diese tiefgründige Belehrung will das „Mitteilungs-Blatt" aus den Erfahrungen Russlands geschöpft haben – desselben Russlands, wo die Massen soeben gerade umgekehrt in unmittelbarer, selbständiger, revolutionärer Aktion – nicht nur gegen den Absolutismus, sondern nicht minder gegen einen monarchistischen, reaktionären Reichstag: die russische Duma – die Republik errichtet haben, wo sie sich diesen Reichstag vollständig unterwerfen, ja noch mehr, ihn gänzlich beiseite schieben mussten, um „die freiheitlichen Forderungen durchsetzen zu können"! Wahrhaftig – ganz anders als in anderen Köpfen malt sich in diesem Kopf die Welt! In Deutschland sollen also die Massen höchstens nur den Chor bilden, der die Großtaten der Reichstagsabgeordneten mit „mitwirkendem" Gesang begleitet. Die Parlamentarier bleiben nach wie vor die agierenden Personen, sie haben die „freiheitlichen Forderungen durchzusetzen", und der Mameluckenreichstag des Imperialismus ist berufen, zur Geburtsstätte der deutschen Freiheit zu werden! – Demnach erscheint ja das „Aktionsprogramm" der Arbeitsgemeinschaft als ein würdiges Seitenstück zu den preußisch-deutschen „Reformen" von oben – beides nette Eulenspiegeleien auf die gewaltige Weltwende der russischen Revolution. Was aber in dem schönen Bekenntnis des „Mitteilungs-Blattes" am interessantesten, ist die Grundauffassung von den Ereignissen in Russland.

Ganz im Geiste des biederen Freisinns erblicken hier die Führer der „Arbeitsgemeinschaft" in der russischen Revolution bloß eine bürgerlich-liberale Korrektur des veralteten Zarismus. Keine Ahnung davon, dass es sich zugleich um eine erste proletarische Übergangsrevolution von welthistorischer Tragweite handelt, die auf sämtliche kapitalistische Länder zurückwirken muss und gerade als proletarisch-sozialistischer Kampf um die Macht so gut in Deutschland wie anderswo nur auf revolutionärem Wege ausgetragen werden kann! Und diese schwindsüchtige Theorie von den „großartigen Machtmitteln des Staates" und dem Ersatz der Revolution durch den parlamentarischen „Kampf" wird den deutschen Arbeitern just in dem Moment gepredigt, wo die Friedensfrage wie die ganze Zukunft des internationalen Sozialismus davon abhängt, dass die deutsche Arbeiterklasse endlich die fatale Verblendung der offiziellen deutschen Sozialdemokratie, die ihr jahrzehntelang beigebracht wurde, los wird: das Dogma nämlich, dass in Deutschland alles, was anderswo auf revolutionärem Wege erreicht wird, „auf parlamentarischem Boden", durch das Zungendreschen der Reichstagsabgeordneten, zu erlangen sei! – Wahrhaftig, die Osterbotschaft der Berliner Arbeitsgemeinschaft passt zu der kaiserlichen Osterbotschaft über die preußische Wahlreform ganz vortrefflich: beides Erzeugnisse der muffigen, abgestandenen politischen Weisheit, die darauf förmlich stolz ist, trotz Weltkrieg und Weltumwälzung nichts gelernt und nichts vergessen zu haben.

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