II

II

In der geistigen Entwicklung der Schöpfer der Partei „Proletariat" kann man drei Phasen unterscheiden, deren mittlere, in bezug auf das Programm die wichtigste, gänzlich mit der Tätigkeit des klügsten Kopfes und des einflussreichsten Führers des damaligen Sozialismus in Polen, Ludwik Waryński, verbunden ist. Die erste Phase, die ungefähr bis zum Jahre 1880 dauerte, ist die Periode der theoretischen Gärung, deren Bereich hauptsächlich die sozialistische Emigration in der Schweiz umfasst und deren literarisches Ausdrucksmittel die in Genf erscheinende „Równość" (Gleichheit) ist. Hier sehen wir zwar schon eine teilweise Anerkennung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, insbesondere seiner ökonomischen Seite, sowie auch der Gesamtkritik der bürgerlichen Ordnung, aber hinsichtlich der praktischen Anwendung dieser Theorie, hinsichtlich des Programms einer unmittelbaren Tätigkeit ist der Standpunkt der „Równość" noch vollkommen nebelhaft. Ihr Programm ist das sogenannte Brüsseler Programm, das im Jahre 18781 aufgestellt wurde. Nachdem es die ökonomischen und gesellschaftlichen Grundsätze der sozialistischen Gesellschaftsordnung in den ersten vier Punkten aufgezählt hat, verkündet es im folgenden, dass die Verwirklichung dieser Prinzipien die Aufgabe der „allgemeinen und internationalen Revolution" sein soll, und fordert auf dieser Grundlage die nicht sehr verständlichen „föderativen Vereinigungen mit den Sozialisten aller Länder". In bezug auf die praktische Tätigkeit enthält das Programm nur die ziemlich rätselhafte Erklärung, dass „der Grundsatz unserer Tätigkeit die moralische Übereinstimmung der Aktionsmittel mit dem gesteckten Ziel" ist, und nennt ganz allgemein als „Mittel, die zur Entwicklung unserer Partei beitragen": die Organisation der Volkskräfte, die mündliche und schriftliche Propaganda der Grundsätze des Sozialismus sowie die Agitation, „das heißt Proteste, Demonstrationen und überhaupt den aktiven Kampf gegen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung im Geiste unserer Prinzipien".

Schließlich lesen wir dort noch die Bemerkung, dass angesichts der Unwirksamkeit legaler Mittel dieses Programm „nur auf dem Wege der sozialen Revolution"D erreicht werden kann. In dem Programm finden wir weder politische noch überhaupt direkte oder vorläufige Forderungen. Dementsprechend unterscheidet die Gruppe „Równość" in ihrem Programm nicht zwischen den drei Teilungsgebieten Polens, sondern wendet ihre Grundsätze und ihre Agitation gleichermaßen auf Galizien, auf das Gebiet Posen und das Königreich an. Wenn sich nämlich die Sozialisten kein Programm direkter Forderungen geben, das den jeweiligen Bedingungen des Landes angepasst ist, sondern nur ganz allgemein durch die „Organisation" der Arbeiter geradewegs auf die internationale soziale Revolution zustreben, so können die verschiedenen staatspolitischen Bedingungen der drei Teilungsgebiete natürlich keine Rolle spielen und irgendeinen Unterschied bewirken. Ja das Programm der „Równość" konnte sich ebenso gut oder schlecht nicht nur auf diese Teilungsgebiete Polens beziehen, sondern auch auf England, Frankreich oder Deutschland.

Der politische Standpunkt des Sozialismus kommt in seinem damaligen Stadium nur in einer Hinsicht sehr deutlich zum Ausdruck, und zwar in seiner ablehnenden Haltung zum Nationalismus, in seinem rein internationalen Standpunkt.

In dem Leitartikel der „Równość" unter dem Titel „Patriotismus und Sozialismus" lesen wir:

Von den patriotischen Parteien sind nur einzelne Gruppen übriggeblieben, die von dem Glauben beseelt sind, dass sie doch noch das Banner der ,Freiheit für das Vaterland' aufrichten werden, dass sie sich noch ein letztes Mal in den Kampf mit dem Feind stürzen und dann das ihnen teure Vaterland wiedererlangen! Wir wollen alle echten Gefühle dieser Menschen achten, die für ihr Vaterland zu jedem Opfer bereit waren und auch heute noch dazu bereit sind. Aber wir polnischen Sozialisten haben mit ihnen nichts gemein! Patriotismus und Sozialismus, das sind zwei Ideen, die sich auf keine Weise in Einklang bringen lassen."E

Was die heutige Versammlung von den vielen vorangegangenen unterscheidet", sagt Ludwik Waryński auf einer Versammlung in Genf im November 1880, „das ist die Art, in welcher wir polnischen Sozialisten und Ihr, unsere russischen Genossen, einander gegenüberstehen. Wir treten Euch, den bedrückten Untertanen des russischen Staates, gegenüber nicht auf als Kämpfer für einen zukünftigen polnischen Staat, sondern treten Euch, den Vertretern des russischen Proletariats, gegenüber als Vertreter und Verteidiger des polnischen Proletariats auf."F „Heute", so schließt Waryński, „sind uns die Ideale slawischer Föderationen, von denen Bakunin träumte, fremd, gleichgültig sind uns diese oder jene Grenzen des polnischen Staates, unserer Patrioten Aufgaben. Unser Vaterland ist die ganze Welt. Wir sind keine Verschwörer der dreißiger Jahre, die sich gegenseitig suchen, um ihre zahlenmäßige Stärke zu vergrößern. Wir sind nicht die Kämpfer des Jahres 1863, die von dem gleichen Hass gegen den Zarismus erfüllt sind und auf dem Feld des nationalen Kampfes sterben. Wir stellen weder einander feindlich gesinnte Staaten noch einander feindliche Nationalitäten dar. Wir sind Landsleute, Angehörige einer großen Nation, die unglücklicher als Polen ist, der Nation der Proletarier."G

Und noch kategorischer als ihr Vertreter Waryński in der obigen Ansprache verkündet die „Równość" zur selben Zeit in ihrem Leitartikel:

Wir haben ein für allemal mit den patriotischen Programmen Schluss gemacht; wir wollen weder ein adliges noch ein demokratisches Polen, und nicht nur, dass wir es nicht wollen, wir sind sogar fest davon überzeugt, dass der Kampf um die Wiederherstellung Polens durch das Volk heute eine Absurdität ist."H

Außer dem rein internationalen Standpunkt, der zwar unter den besonderen Bedingungen unseres Landes eine positivere politische Bedeutung als in anderen Ländern hatte, verriet der damalige polnische Sozialismus, der den politischen Kampf überhaupt nicht berücksichtigte, wenn auch unbewusst, eine gewisse Verwandtschaft mit dem Anarchismus. Es ist uns heute nicht möglich, genau zu klären, inwieweit sich das auf die mehr oder minder zahlreichen Mitglieder der Gruppe „Równość" anwenden lässt. Da sie indessen schnell zu reiferen politischen Anschauungen gelangte, muss man annehmen, dass die anarchistischen Schwankungen von Anfang an eher eine Erscheinung verschiedenartiger Ansichten innerhalb der Gruppe selbst waren.

Jedenfalls ist in dieser Hinsicht die in der „Równość" geäußerte Meinung charakteristisch, wonach die staatspolitischen Bedingungen in jedem Lande vom Gesichtspunkt der internationalen Bestrebungen des Sozialismus einzig und allein ein Hindernis sind. Die Schaffung besonderer sozialistischer Parteien entsprechend den besonderen Bedingungen sowie auch der politische Kampf werden nur als ein malum necessarium angesehen:

Das Ideal bleibt für uns immer die internationale Vereinigung, und wenn die bestehenden politischen Bedingungen einer breiten internationalen Organisation keine Hindernisse entgegensetzen, wenn sie nicht einen Teil der sozialistischen Kräfte für den Kampf gegen die Regierung absorbieren würden, so wären ausschließlich die ökonomischen Bedingungen die Grundlage einer allgemeinen sozialistischen Organisation."I

Was sich hieraus bestenfalls ergibt, ist die Tatsache, dass der organische Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Wirtschaft und den staatlichen Institutionen damals zumindest für einige Führer der „Równość" ein völliges Geheimnis war, ebenso wie der fundamentale Grundsatz, dass jeder Klassenkampf von Natur aus ein politischer Kampf ist. Damit steht im direkten Zusammenhang, dass die „Równość" in ihrer Sehnsucht nach internationaler Vereinigung als dem „Ideal" nicht begriffen hat, dass der Zusammenbruch dieser Vereinigung und an ihrer Stelle die Bildung einzelner Arbeiterparteien in jedem Staat auf einer gewissen Stufe in der Entwicklung des sozialistischen Kampfes eine notwendige, fortschrittliche Erscheinung war.

Eine entscheidende Wende in der programmatischen Haltung der polnischen Sozialisten erfolgte jedoch, wie wir bereits sagten, überaus schnell. Den Übergang zur zweiten Phase einer deutlichen Gestaltung des Programms unter dem Einfluss von Waryński sehen wir bereits im Sommer 1881, und das Programm der galizischen Arbeiter, nämlich der erste Jahrgang des „Przedświt" (Morgenröte), zeigt uns schon den Gedanken der Begründer des „Proletariat" in seiner vollen Reife. Insbesondere tritt die politische Seite des Programms in aller Klarheit hervor.

Einerseits kommt hier der internationale und antinationalistische Standpunkt mit gleicher Entschiedenheit zum Vorschein wie in der vorangegangenen Periode. Gewiss, in dem Maße, wie die Gruppe Waryńskis aus dem Bereich einer nebelhaften sozialistischen Propaganda auf den Boden praktischer Tätigkeit, und zwar zum politischen Kampf, übergeht, gewinnt ihr Antinationalismus im Gesamtkomplex der politischen Anschauungen der Gruppe erstrangige Bedeutung und nimmt zugleich deutliche, greifbare Formen an.

Wenn sich z. B. in der angeführten Rede Waryńskis die Solidarität mit den russischen Revolutionären sowie auch die negative Einstellung zum polnischen Nationalismus nur aus dem internationalen Charakter des Sozialismus als dem Endziel zu ergeben schienen, was noch dem Standpunkt der „Równość" entspricht, so werden im „Przedświt" dieselben Anschauungen schon ganz unzweideutig vom Gesichtspunkt eines Minimalprogramms, genauer gesagt, der politischen Aktion der Sozialisten begründet.

Überaus charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Kritik, die von Waryński gegen die damalige sozialpatriotische Vereinigung „Lud Polski" (Polnisches Volk) gerichtet wurde, welche im August 1881 mit einem programmatischen Aufruf hervortrat.

Während andere Sozialisten der Genfer Gruppe, Brzeziński, Jabłoński, Padlewski, gegen den erwähnten Aufruf u. a. deshalb auftreten, weil „wir die Ziele des Sozialismus nicht als fernere und endgültige (wie das der Aufruf des ,Lud Polski' tut), sondern als die einzigen aufstellen"J, während sich also andere Sozialisten dieser Gruppe über das Verhältnis zwischen den Endzielen und dem unmittelbaren politischen Programm noch gar nicht im klaren waren, schreibt Waryński zur selben Zeit mit einer wunderbaren Gedankenklarheit:

Im Programm des Aufrufs des ,Lud Polski' ist das, was ich oben anführte, nicht etwas Zufälliges, keine banale Ungenauigkeit, sondern bleibt in einem engen Zusammenhang mit den prinzipiellen Punkten dieses Programms, das entgegen allen Programmen der sozialistischen Parteien und Theorien des modernen Sozialismus die Frage der politisch-nationalen Befreiung auf die gleiche Stufe mit der allgemeinmenschlichen Aufgabe der sozialökonomischen Befreiung stellt.

Dieses Nebeneinanderbestehen von allgemeinen und Einzelfragen im Programm, die in vollem Umfang in den allgemeinen enthalten sind, ist nur in dem Falle möglich, wenn die Einzelfragen als das Nahziel, als das Minimum an Forderungen aufgestellt werden. Andernfalls ist eine solche Einzelfrage wie die Aufhebung der politisch-nationalen Unterdrückung in den polnischen Ländern neben der gesellschaftlichen und ökonomischen Befreiung unverständlich; oder anders gesagt, es ist die Verständnislosigkeit dafür, dass die Befreiung von der sozialökonomischen Sklaverei gleichzeitig eine Emanzipation der Individuen und aller Gruppen von jeder materiellen und moralischen Unterdrückung ist. Deshalb betrachte ich auch die ,Aufhebung der politisch-nationalen Unterdrückung' im Programm des ,Aufrufs' als ein unklar aufgestelltes Minimalprogramm und behandele es danach."

Nachdem Waryński auf diese Weise mit zwei Worten das Programm der Befreiung Polens als eine mit den endgültigen Zielen des Sozialismus gleichwertige Forderung zu Fall gebracht hat, analysiert er dasselbe Postulat als eine unmittelbare Aufgabe des Proletariats:

Ohne zu fragen, weshalb die Vereinigung ,Lud Polski' dieses Minimalprogramm unklar darstellt, ohne zu fragen, warum sie es nicht deutlich als das nächste Ziel ihrer Bestrebungen niederlegt, bin ich der Meinung, dass die Aufstellung eines solchen Programms, ob klar oder unklar, für alle drei Teilungsgebiete ebenso wie für jedes von ihnen gesondert für die Aufgaben schädlich ist, die die Sozialisten bei ihrer praktischen Tätigkeit berücksichtigen müssen.

Die von den Sozialisten aufgestellten Minimalprogramme, die vom Standpunkt des täglichen Kampfes gegen das Kapital ausgehen, haben nicht die ,nationale Wiedergeburt' zum Ziele, sondern die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats, um die Bildung von Massenorganisationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie als politische und gesellschaftliche Klasse zu ermöglichen.

Eben diesen Charakter hat das ,Programm der Galizischen Arbeiterpartei', das nicht nur für das polnische Volk verfasst ist, sondern für verschiedene proletarische Gruppen derjenigen Nationalitäten, die sich in Galizien solidarisch zu einer Partei verbinden. Diese Tatsache soll jenen als Antwort dienen, die von den besonderen Bedingungen der Entwicklung unserer Gesellschaft reden möchten; wir raten auch unseren sozialistischen Neuerern, gründlicher darüber nachzudenken ...

Es ist leicht vorauszusehen, dass die sozialistische Bewegung auch in Posen den gleichen Weg gehen wird wie in Galizien, auch dort werden sich die polnischen Arbeiter mit den deutschen zu einer geschlossenen Organisation verbinden, die nicht nur durch die äußeren Verhältnisse bedingt sein wird, sondern sich auch hinsichtlich ihres Inhalts und Wesens auf die Prinzipien der internationalen Solidarität stützt... Wir zweifeln auch nicht daran, dass auch in Kongresspolen die Menschen, die die Aufgaben des Sozialismus gut verstehen und der Sache des Sozialismus ehrlich ergeben sind, zur Entwicklung der sozialistischen Bewegung in der gleichen Richtung beitragen werden."

Wir haben uns bei diesem ausführlichen Zitat deshalb länger aufgehalten, weil es für den mit der Denkart der heutigen Richtungen des Sozialismus vertrauten Leser ein typisches Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie ist.

Das, was den sozialdemokratischen Standpunkt im Unterschied zu anderen Strömungen des Sozialismus hervorragend charakterisiert, ist vor allem die Ansicht über die Art und Weise, in welcher der Übergang von der heutigen Gesellschaft zum sozialistischen Umsturz stattfinden soll; mit anderen Worten, die Ansicht über die unmittelbaren Aufgaben des Sozialismus und ihr Verhältnis zu den Endzielen.

Vom Gesichtspunkt der Sozialdemokratie aus, die ihre Anschauungen auf die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus stützt, kann der Übergang zur sozialistischen Gesellschaftsordnung nur das Werk einer bestimmten – kürzeren oder längeren – Entwicklungsphase sein. Diese Entwicklung schließt zwar keineswegs aus, dass die Umwandlung der Gesellschaft im Geiste des Sozialismus letzten Endes lediglich auf dem Wege eines gewaltsamen politischen Umsturzes, das heißt dessen, was gewöhnlich Revolution genannt wird, vollzogen werden kann. Aber diese Revolution ist andererseits unmöglich, ohne dass vorher die bürgerliche Gesellschaft bestimmte Entwicklungsetappen durchläuft.

Das bezieht sich sowohl auf den objektiven Faktor des sozialistischen Umsturzes, auf die kapitalistische Gesellschaft selbst, als auch auf den subjektiven Faktor, das heißt auf die Arbeiterklasse.

Ausgehend von dem Grundsatz des wissenschaftlichen Sozialismus, dass „die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann", erkennt die Sozialdemokratie an, dass den Umsturz, das heißt die Revolution zur Verwirklichung der sozialistischen Umgestaltung, nur die Arbeiterklasse als solche vollziehen kann, und zwar als die eigentliche breite Masse der Arbeiter, vor allem die Masse des Industrieproletariats. Die erste Handlung der sozialistischen Umwandlung muss also die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse sein und die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die zur Verwirklichung der Übergangsmaßnahmen unbedingt notwendig ist.

Doch um allen diesen Aufgaben gerecht zu werden, muss sich die Arbeiterklasse vor allem selbst ihrer Aufgaben bewusst und klassenmäßig organisiert sein, andererseits muss die bürgerliche Gesellschaft bereits auf einer entsprechenden Stufe sowohl ihrer ökonomischen als auch politischen Entwicklung stehen, die die Einführung sozialistischer Institutionen ermöglicht.

Diese beiden Bedingungen stehen allerdings in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis und beeinflussen sich gegenseitig. Ohne bestimmte politische Voraussetzungen, die den offenen Klassenkampf ermöglichen, das heißt ohne demokratische Institutionen im Staat, kann sich die Arbeiterklasse nicht auf breiter Basis organisieren und ihr Bewusstsein erhöhen. Und umgekehrt, das Erreichen demokratischer staatlicher Einrichtungen, nämlich ihre Ausdehnung auf die Arbeitermassen, ist von einem bestimmten historischen Moment, von einem bestimmten Grad der Verschärfung der Klassenantagonismen an ohne den aktiven Kampf des bewussten und organisierten Proletariats nicht möglich.

Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs der Aufgaben liegt im dialektischen Prozess des Klassenkampfes des Proletariats, das in seinem Kampf für demokratische Verhältnisse im Staat sich zugleich im Verlauf des Kampfes selbst organisiert und sein Klassenbewusstsein herausbildet; und während das Proletariat auf diese Weise im politischen Kampf Bewusstsein erlangt und sich organisiert, demokratisiert es zugleich den bürgerlichen Staat und macht ihn in dem Maße, wie es selbst heranreift, für den sozialistischen Umsturz reif.

Aus dieser Auffassung ergeben sich die Grundprinzipien, auf die sich die praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie stützt: Der sozialistische Kampf muss der Massenkampf des Proletariats sein, ein täglicher Kampf, der gerichtet ist auf die Demokratisierung der staatlichen Institutionen, auf die Hebung des geistigen und materiellen Niveaus der Arbeiterklasse und gleichzeitig auf die Organisierung der Arbeitermassen zu einer besonderen politischen Partei, die ihre Bestrebungen zum sozialistischen Umsturz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft bewusst entgegenstellt.

Die Aneignung und Anwendung dieser Grundsätze in der polnischen sozialistischen Bewegung war eine doppelt wichtige und schwierige Aufgabe. Denn im Unterschied zu den Ländern Westeuropas ist die Lage der Sozialisten in Polen kompliziert, so einerseits durch dreierlei politische Bedingungen, unter denen das polnische Proletariat lebt, insbesondere aber durch die sonderbaren politischen Bedingungen im wichtigsten Teil Polens – des russischen Teils – wie andererseits durch die nationale Frage.

Diese wichtige und schwierige Aufgabe löste in der Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung zum ersten Mal, wie bereits das angeführte Zitat zeigt, Ludwik Waryński, der die sozialdemokratischen Grundsätze in der Auffassung über die unmittelbaren Aufgaben des Sozialismus mit einer solchen Klarheit und Bestimmtheit ausspricht, wie wir ihnen weder vorher noch zu seiner Zeit bei den polnischen Sozialisten begegnen.

Was die nationale Frage angeht, so lehnt Waryński die Wiederherstellung Polens mit der gleichen Entschiedenheit ab, wie es bereits die Gruppe „Równość" tat. Doch stellt er die Lösung dieser Frage auf eine vollkommen andere Ebene. Während die Gruppe „Równość" ihren ablehnenden Standpunkt gegenüber den nationalistischen Bestrebungen auf deren Gegensatz zu den internationalen Zielen des Sozialismus wie auch besonders auf ihre Gleichgültigkeit gegenüber politischen Aufgaben überhaupt stützteK, erklärt Waryński in dem obigen Zitat die Ablehnung des nationalen Programms nicht mehr aus den Endzielen des Sozialismus, sondern aus seinen unmittelbaren Aufgaben, indem er der Politik der Nationalisten die Politik der Arbeiter entgegenstellt.

Da das Ziel der täglichen Aktion des Proletariats, so folgert Waryński, die Organisierung und Aufklärung der Arbeiterklasse ist, kann also ihr politisches Programm nicht die gänzliche Zerschlagung oder der Aufbau von Staaten sein, sondern die Eroberung und Erweiterung politischer Rechte, die zur Organisierung der Massen innerhalb dieser bürgerlichen Staaten unerlässlich sind, in denen sie handeln.

Damit bestimmt Waryński für das polnische Proletariat zwei Grundsätze des politischen Programms im Geiste der Sozialdemokratie: erstens – als Ausgangspunkt der politischen Aktion – den bestehenden historischen Boden und die bestehenden staatlichen Bedingungen als gegeben anzunehmen, zweitens – als Ziel dieser Aktion – die bestehenden politischen Bedingungen zu demokratisieren.

Wenn auf diese Weise die negative Schlussfolgerung aus diesen Grundsätzen die Ablehnung des Programms zur Wiederherstellung Polens war, blieb nur noch übrig, die positiven Schlussfolgerungen in Form eines sozialdemokratischen Programms, oder vielmehr von drei Programmen, für das polnische Proletariat daraus zu ziehen. Falls nämlich die staatspolitischen Bedingungen als maßgebend für die Bestimmung der politischen Aufgaben des Proletariats angenommen werden, ergibt sich daraus, dass eine Aktion und ein politisches Programm für die polnische Arbeiterklasse in den drei Teilungsgebieten unmöglich sind, die Aktion und das politische Programm dagegen in jedem der Teilungsgebiete unterschiedlich sein müssen, aber gemeinsam mit dem Proletariat der betreffenden Teilungsmacht, ohne Unterschied der Nationalität. In bezug auf Galizien und die Provinz Posen spricht Waryński diesen Grundsatz schon in dem obigen Artikel klar und deutlich aus. Für das russische Teilungsgebiet fand dieser Grundsatz seinen Ausdruck in einem etwas späteren Dokument, das überhaupt die reifste Frucht der Anschauungen Waryńskis und seiner Gruppe in jenem mittleren Zeitabschnitt kurz vor der formellen Organisierung der Partei „Proletariat" ist. Dieses Dokument war der Aufruf, der am 3. November 1881 von einer Gruppe ehemaliger Mitglieder der „Równość" und der Redaktion der sozialistischen Zeitschrift „Przedświt" an die russischen Sozialisten gerichtet und in Nr. 6/7 des „Przedświt" vom 1. Dezember 1881 abgedruckt wurde. Ziel dieses Aufrufes war, die russischen Genossen zur Ausarbeitung eines gemeinsamen politischen Programms mit den polnischen Sozialisten zu veranlassen, also die aus den obigen Voraussetzungen gezogene kühnste praktische Konsequenz. Doch nicht nur die Schlussfolgerung, sondern auch die Art ihrer Begründung zeichnen sich in dem besprochenen Dokument durch eine solche, speziell Waryński eigene Prägnanz und Exaktheit des Gedankens aus, dass wir nicht zögern, hier den ganzen Schlussabsatz des Aufrufs anzuführen:

Nachdem der Aufruf die Bedeutung des politischen Kampfes in Russland sowie des historischen Untergangs der polnischen Frage eingeschätzt hat, schließt er folgendermaßen:

Wir formulieren alles, was wir bisher sagten.

a) Der Sozialismus ist bei uns wie überall eine ökonomische Frage, die mit der nationalen Frage nichts gemein hat und im praktischen Leben als Klassenkampf in Erscheinung tritt.

b) Die Garantie für den Fortschritt in diesem Kampf und für den künftigen Sieg des Proletariats in der sozialen Revolution ist die maximale Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins unter den Arbeitermassen und ihre Organisierung als Klasse auf der Grundlage ihrer Klasseninteressen.

c) Zur Verwirklichung dieser Aufgaben ist politische Freiheit notwendig, deren Fehlen in Russland der massenhaften Organisierung der arbeitenden Klassen unerhörte Schwierigkeiten in den Weg stellt.

Weiter in Übereinstimmung mit den Resolutionen der ehemaligen Gruppe ,Równość', die auf der Grundlage der Diskussion mit den russischen Genossen im vergangenen Jahr angenommen wurden, nämlich dass

a) den Charakter der Sozialrevolutionären Organisationen ausschließlich allgemeinökonomische Interessen und politische Bedingungen beeinflussen;

b) die Organisierung der sozialistischen Parteien einerseits auf Grund ökonomischer Bedingungen, andererseits dagegen auf Grund der tatsächlich bestehenden staatspolitischen Verhältnisse erfolgen kann, wobei die ethnographischen Grenzen der Nationalitäten nicht als Grundlage der Organisation dienen können, wodurch

c) die Polnische Sozialistische Partei nicht als ein einheitliches Ganzes bestehen, sondern es nur polnische sozialistische Gruppen in Österreich, Deutschland und Russland geben kann, die zusammen mit den sozialistischen Organisationen anderer Nationalitäten in dem gegebenen Staat einen organisatorischen Verband bilden, was sie nicht daran hindert, sowohl untereinander als auch mit anderen sozialistischen Organisationen Verbindungen einzugehen.

Schließlich geleitet davon, dass

a) der Erfolg des terroristischen Kampfes um politische Freiheiten in Russland durch das gemeinsame Handeln der solidarisch organisierten Arbeitermassen verschiedener Nationalitäten innerhalb der Grenzen des russischen Staates bedingt ist,

b) angesichts des Kampfes um politische Freiheiten innerhalb der Grenzen des russischen Staates die Hervorhebung der polnischen nationalpolitischen Frage diesem Kampf nur schaden und infolgedessen auch für die Interessen der arbeitenden Klassen schädlich sein kann;

mit Rücksicht auf alles oben Gesagte kommen wir zu folgenden Schlussfolgerungen :

I. Es ist notwendig, eine allgemeine sozialistische Partei zu organisieren, die sich aus den sozialistischen Organisationen der verschiedenen Nationalitäten innerhalb der Grenzen des russischen Reiches zusammensetzen würde.

II. Es ist notwendig, dass sich die Organisationen, die bisher auf ökonomischem und politischem Gebiet getrennt kämpften, zusammenschließen, um die Aktion mit vereinten Kräften zu führen.

III. Es ist notwendig, ein gemeinsames politisches Programm für alle Sozialisten auszuarbeiten, die in den Grenzen des russischen Staates tätig sind, ein Programm, das den von uns gestellten Forderungen voll und ganz entsprechen würde."

Ein Blick auf den angeführten Aufruf genügt, um sich zu überzeugen, dass wir hier ein Dokument von erstrangiger Bedeutung für die Geschichte der sozialistischen Tradition in Polen vor uns haben. Man kann nämlich nicht umhin zuzugeben, dass der Aufruf vom Dezember 1881 ganz einfach die Formulierung der Grundsätze und des politischen Programms darstellt, die auf das präziseste sozialdemokratisch, auf das vollkommenste mit dem Standpunkt der heutigen Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens2 identisch ist.

Nicht nur die allgemeinen Grundsätze: die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation bei den polnischen Sozialisten in den drei Teilungsgebieten, dagegen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation mit den Sozialisten der Staaten der Besatzungsmächte; nicht nur die sich hieraus ergebenden negativen Schlussfolgerungen: die konsequente Ablehnung des Programms der Unabhängigkeit Polens, sind hier wieder mit vollkommenster Nachdrücklichkeit ausgesprochen. Mehr noch, das positive Programm der Sozialdemokratie für das russische Teilungsgebiet: die Eroberung politischer Freiheiten, also konstitutioneller Formen innerhalb Russlands, formuliert der Aufruf des „Przedświt" und der ehemaligen Gruppe „Równość" in der Geschichte des polnischen Sozialismus zum ersten Mal.

Nicht genug damit. Der aufmerksame Leser wird bemerken, dass der Aufruf Waryńskis und seiner Genossen gewissermaßen als selbstverständlich annimmt, dass die russischen Sozialisten für sich dasselbe Programm aufstellen. Ja indem der Aufruf sogar ausdrücklich die Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" erwähnt, spricht er ohne Zögern von dem „terroristischen Kampf um politische Freiheiten in Russland" und sieht in diesem Terrorismus der russischen Partei eine einfache Taktik im Kampf um den Sturz des Zarismus und die Eroberung demokratischer Freiheiten im europäischen Sinne.

Überdies versucht der Aufruf, diese Taktik nach Möglichkeit auf den sozialdemokratischen Boden zu stellen, indem er erklärt, dass der Terrorismus der „Narodnaja Wolja" nur in dem Falle politische Bedeutung erlangen wird, wenn er sich auf die bewusste Aktion der organisierten Arbeitermasse im ganzen Staat stützt.

Zweifellos erkennt heute weder die polnische noch die russische Sozialdemokratie den Terrorismus als ein geeignetes und zum Ziel führendes Kampfmittel an, sondern begreift, gerade durch die Erfahrung des „Proletariat" und der „Narodnaja Wolja" belehrt, dass der Terrorismus sich mit dem Massenkampf der Arbeiterklasse nicht verbinden lässt und ihn sogar direkt erschwert und gefährdet. Aber diese Erfahrung konnten Waryński und seine Genossen im Jahre 1881 natürlich noch nicht besitzen. Gewiss, als sie mit ihrem Aufruf gerade in dem Moment auftraten, da die russische Partei der Terroristen noch auf dem Höhepunkt ihrer Kraft zu stehen und den Zarismus in seinen Grundfesten zu erschüttern schien, mussten sie natürlicherweise an die Wirksamkeit und unbedingte Notwendigkeit des Terrorismus in Russland glauben. Im Übrigen finden wir genau dieselben Ansichten in den grundlegenden Arbeiten der russischen Sozialdemokratie, die die ganze programmatische und taktische Grundlage der „Narodnaja Wolja" kritisch zerstörten, und zwar noch vier Jahre später, als Waryński sie geäußert hat.

Auffallend ist hier also nicht die Anerkennung des Terrorismus, sondern umgekehrt der Umstand, dass der Aufruf der polnischen Sozialisten bemüht ist, ihm sowohl sozialdemokratische Ziele als auch die Grundlage eines breiten Klassenkampfes zu verleihen.

Inwiefern eine solche Auffassung des damaligen russischen Sozialismus der Wirklichkeit entsprach, werden wir gleich sehen. Hier ist immerhin eine andere Seite der Sache wichtig. Es ist die Tatsache, dass die Gruppe Waryński auf dem Wege der Entwicklung des Programms zu einem rein sozialdemokratischen Standpunkt gelangte, dass sie von diesem Standpunkt aus als grundlegendes politisches Prinzip die Gemeinsamkeit der Aktion und das Gemeinsame des Programms mit den russischen Sozialisten geschlussfolgert hat.

Dieser Moment stellt den Kulminationspunkt in der Entwicklung der Gründer des „Proletariat" und zugleich den Wendepunkt in ihrer Geschichte dar. Nachdem Waryński und die Genossen die reifsten politischen Konsequenzen gezogen haben, gehen sie an ihre Anwendung in der Praxis, an die formelle Organisierung der Partei „Proletariat" im Lande heran, was ihre dritte und gleichzeitig letzte, die Endphase ihrer Entwicklung eröffnet.

1 Im September 1878 war in Warschau unter Mitarbeit von Ludwik Waryński das Programm polnischer Sozialisten, zur Irreführung der zaristischen Polizei das Brüsseler Programm genannt, entstanden. Nach Diskussion in den sozialistischen Zirkeln und nach der Annahme der endgültigen Fassung auf deren Generalversammlung ist es im Oktober 1879 veröffentlicht worden.

D Równość, Nr. 1 vom Oktober 1879.

E l. c., Nr. 2 vom November 1879.

F Sprawozdanie z międzynarodowego zebrania, zwołanego w 50-letnią rocznicę Listopadowego powstania, Genf 1881, S. 77.

G l. c, S. 83.

H Równość, Nr. 1 vom November 1880. 1

I l. c., Nr. 3 vom Januar u. Nr. 4 vom Februar 1881.

J Przedświt, Nr. 3/4 vom Oktober 1881.

K Charakteristisch ist in dieser Hinsicht z. B. der folgende Abschnitt in dem Artikel von K. Dłuski: „Patriotismus und Sozialismus": „Die Idee des Sozialismus ist breiter und größer als die Idee des Patriotismus. Sie ergibt sich aus den politischen Verhältnissen, auf denen der Patriotismus beruht, und indem sie sich auf die ökonomische Grundlage stützt, fordert sie die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das ökonomische System dagegen betrachtet sie als den Hintergrund, auf dem sich alle anderen Beziehungen und Interessen gruppiert haben, die mit dem Leben sowohl der ganzen Gesellschaft als auch einzelner Individuen verbunden sind." Równość, Nr. 2 vom November 1879.

2 Im August 1900 hatte in der Nähe von Warschau ein Parteitag der Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und der Vertreter des linken Flügels der polnischen Sozialdemokratie Litauens stattgefunden, auf dem eine gemeinsame Organisation geschaffen wurde. Die SDKPiL war eine revolutionäre marxistische Arbeiterpartei, die in der polnischen Arbeiterbewegung die rechten nationalistischen Tendenzen der PPS bekämpfte. Ihre führenden Vertreter waren Feliks Dzierżyński, Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski.

Kommentare