Rosa Luxemburg 19030000 Dem Andenken des „Proletariat"

Rosa Luxemburg: Dem Andenken des „Proletariat"

[Przegląd Socjaldemokratyczny (o. O.), 1903, Nr. 1, S. 16-32, Nr. 2, S. 49-67 Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 306-362]

Schon seit vielen Jahren finden am Jahrestage des Heldentodes von Kunicki, Bardowski, Ossowski und Pietrusiński1 an den Gräbern der für die Sache des internationalen Sozialismus Gefallenen sozialpatriotische Umtriebe statt, die das Andenken der Gründer der ersten sozialistischen Partei in Polen verletzen. Wir denken hier an die alljährlichen Feiern, die insbesondere im Ausland von den Organisationen der Polnischen Sozialistischen Partei2 veranstaltet werden und den Zweck haben, die Vergangenheit der polnischen Arbeiterbewegung zugunsten des heutigen Nationalismus, der sich hinter dem Banner des Sozialismus verbirgt, zu usurpieren. Wir denken an die aufdringlichen Huldigungen der PPS, einer Richtung, deren programmatische Bekenntnisse und politische Ethik unvereinbar sind mit dem ganzen Leben und der Tätigkeit der Gefallenen.

Gestalten, die auf einem solchen geistigen Niveau wie jene vier stehen, die für die Idee erhobenen Hauptes in den Tod gingen und sterbend noch den zurückgebliebenen Genossen Worte der Ermutigung und Begeisterung zuriefen, sind zweifellos nicht das ausschließliche Eigentum irgendeiner Partei, Gruppe oder Sekte. Der Platz solcher Schatten ist im Pantheon der ganzen Menschheit, und es ist jedem gestattet, der die Idee der Freiheit aufrichtig liebt, welchen Inhaltes und welcher Form sie auch ist, ihnen seine Huldigung als verwandten Geistern darzubringen und ihr Andenken zu ehren. Sofern sich besonders die polnische akademische Jugend an den Gedenkfeiern zu Ehren des „Proletariat" zahlreich beteiligt, begrüßen wir das mit ehrlicher Freude als ein Zeichen des Idealismus und der vielversprechenden revolutionären Sympathien in den Kreisen unserer Intelligenz.

Wir wollen also das Andenken der Helden des „Proletariat" nicht zu unserem Monopol erklären oder wegen enger Parteiinteressen darum kämpfen wie um den Leichnam des Patroklos. Aber wenn die Ehrung des Andenkens der Gehenkten zu einem gedankenlosen und marktschreierischen Sport wird, wenn sie zu einer gewöhnlichen Reklame eben für das Geschäft einer bestimmten politischen Gruppe erniedrigt worden ist, ja wenn für diese niedrigen Absichten die eigenen Ideen und die eigenen Taten der Anhänger des „Proletariat", für die sie ins Martyrium gegangen sind, vor dem Antlitz der öffentlichen Meinung rücksichtslos zerstört und verfälscht werden, dann ist es die einfachste Pflicht derjenigen, die dem Geiste ihrer Prinzipien nach in erster Linie die Erben der revolutionären Traditionen des „Proletariat" sind, laut zu protestieren. Wir sind überhaupt nicht Anhänger dieses regelmäßigen, alljährlichen Feierns der revolutionären Gedenktage, das schon durch seine mechanische Regelmäßigkeit zu einer alltäglichen und, wie alles Gewohnheitsmäßige, in einem gewissen Maße zu einer banalen Sache wird. Wir sind jedoch der Meinung, dass im gegenwärtigen Augenblick die geeignetste Huldigung für die Gefallenen des 28. Januar sein wird, nachzuweisen, dass ihre Gräber nicht der passende Ort sind, um sozialpatriotische Purzelbäume zu schlagen oder Zinnsoldaten für den „nationalen Aufstand" abzurichten.

Darüber hinaus sind überhaupt die Traditionen der vorangegangenen Phasen der sozialistischen Bewegung in unserem Lande der gegenwärtigen Generation polnischer Revolutionäre leider so wenig bekannt, dass es nach unserer Meinung an der Zeit ist, die Erinnerungen an die vergangene Geschichte unseres Kampfes aufzufrischen, die eine reiche Schatzkammer sowohl für die moralische Stärkung als auch für den politischen Unterricht in der Gegenwart sind. Es ist vor allem höchste Zeit, das geistige Antlitz der ersten stark organisierten und einflussreichen sozialistischen Partei in Polen, des „Proletariat", im Lichte ihrer Worte und Taten, im Lichte der historischen Wahrheit zu zeigen.


I


II


III


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  1. 1 Am 28. Januar 1886 waren die Mitglieder des Zentralkomitees der Partei „Proletariat" Stanislaw Kunicki, Piotr Bardowski, Michał Ossowski und Jan Pietrusiński hingerichtet worden. Sie waren in einer Verhaftungswelle im Frühjahr und Sommer 1884 zusammen mit Hunderten von Revolutionären festgenommen worden.

  1. 2 Die Polnische Sozialistische Partei war im November 1892 auf einem Kongress polnischer Sozialisten unter Führung von Boleslav Limanowski in Paris gegründet worden. Sie betrieb eine reformistisch-nationalistische Politik. In ihr Programm hatte sie den Kampf für die Unabhängigkeit Polens aufgenommen, die aber nicht auf revolutionärem Wege im Bündnis mit dem russischen Proletariat errungen werden sollte, sondern durch eine allmähliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen. Innerhalb der PPS bestand eine linke Gruppe, die sich 1906 abspaltete.

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