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Das oben angeführte Dokument, der Aufruf an die russischen Genossen, zeigt uns, dass die polnischen Sozialisten gegen Ende des Jahres 1881 zu einem sozialdemokratischen Standpunkt in zwei entscheidenden Punkten gelangten: erstens in dem allgemeinen Grundsatz, dass das politische Programm des polnischen Proletariats mit dem des Proletariats der Staaten der Besatzungsmächte gleich und gemeinsam sein müsse, zweitens, dass in dem russischen Teilungsgebiet dieses Programm der Sturz der Selbstherrschaft und der Kampf um politische Freiheiten, das heißt um parlamentarisch-demokratische Regierungsformen sein müsste. Diese beiden vollkommen übereinstimmenden und sich logisch ergänzenden Schlussfolgerungen gerieten jedoch in Widerspruch zueinander, als die polnischen Sozialisten versuchten, sie in der Praxis anzuwenden. Das allgemeine sozialistische Prinzip führte sie zur Gemeinsamkeit von Programm und Aktion mit den russischen Sozialisten. Aber der damalige russische Sozialismus war keine Sozialdemokratie. Die Waryński-Gruppe stellte zwar den Kampf um die Verfassung als gemeinsames Programm auf, aber dieses Programm war in Wirklichkeit nicht das Programm der „Narodnaja Wolja". Die polnischen Sozialisten erklärten den Kampf gegen den Zarismus nur dann für wirksam, wenn er von den organisierten Arbeitermassen geführt werden wird, aber die russischen Sozialisten betrieben damals keine Massenagitation und stützten sich weder in ihrer Theorie noch in der Praxis auf die Arbeiterklasse. Die „Narodnaja Wolja" kämpfte in Wirklichkeit nicht „um die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats" zwecks „Ermöglichung von Massenorganisationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie", wie Waryński den Inhalt der politischen Programme im Geiste der Sozialdemokratie formuliert hatte. Vielmehr kämpfte die „Narodnaja Wolja" um „sachwat wlasti", um die Machtergreifung mit dem Ziel, sofort Reformen mit Übergangscharakter im Sinne des sozialistischen Umsturzes durchzuführen, ohne sich auf die Aktion klassenbewusster Massen, auf die Organisation und den Kampf des Industrieproletariats zu stützen, sondern auf die verschwörerischen Handlungen einer „entschlossenen Minderheit".

Deshalb mussten die in die Praxis übertragenen richtunggebenden Grundsätze Waryńskis und seiner Genossen untereinander in Widerspruch geraten.

Hätte damals in Russland die sozialistische Bewegung auf sozialdemokratischem Boden gestanden, wie das mit Ausnahme weniger Organisationen heute der Fall ist, so hätten die Grundsätze der Begründer des „Proletariat" sowohl zu einem völlig harmonischen Zusammenwirken zwischen dem russischen und polnischen Sozialismus als auch zu einem Aufschwung der Massenbewegung der Arbeiter in Polen mit bewusst und deutlich sozialdemokratischem Charakter schon seit Anfang der achtziger Jahre führen müssen.

Weil es aber in Russland zu jenem Zeitpunkt, als sich das „Proletariat" organisierte, keine sozialdemokratische Bewegung gab, statt dessen nur eine Partei von Verschwörern blanquistischer Richtung, befanden sich somit die polnischen Sozialisten in einem Dilemma. Um ihr sozialdemokratisches Programm zu behalten, blieb ihnen nur, entweder auf das gemeinsame Programm und die gemeinsame Aktion mit den russischen Sozialisten zu verzichten und auf eigene Faust in Polen den Kampf um den Sturz des Zarentums durch Massenagitation und Organisation unter den polnischen Arbeitern zu beginnen oder aber, um ihrem Grundprinzip, der gemeinsamen Aktion mit dem russischen Sozialismus zu entsprechen, auf das sozialdemokratische Programm und den Massenkampf zu verzichten und sich den Kampfmethoden der „Narodnaja Wolja" unterzuordnen.

Zwar sollte die Lösung des obigen Problems über das Schicksal des Sozialismus in Polen für fast ein ganzes Jahrzehnt entscheiden – und hat es in verhängnisvoller Weise entschieden –, doch zögern wir nicht zuzugeben, dass die Wahl des letzteren dieser beiden Wege unter den damaligen Bedingungen eine mehr als natürliche und verständliche Erscheinung war. Weil in dem politischen Kampf gegen das in Russland herrschende System von Natur aus Russland selbst das Hauptgebiet sein muss, das Königreich Polen dagegen erst in zweiter Linie in Betracht kommt, weil überdies die damalige „Narodnaja Wolja" durch ihre zahlenmäßige Stärke sowie politische Bedeutung den polnischen Sozialisten um vieles voraus war und weil sie bereits einen so ansehnlichen politischen und moralischen Sieg hinter sich hatte, wie das Attentat vom 13. März [bei dem der Zar getötet wurde], welches in den Augen der ganzen Welt ihr Programm und ihre Taktik zu sanktionieren schien, währenddessen sich das „Proletariat" kaum zu einer Partei formiert hatte – angesichts dieser Umstände ist es verständlich, dass die polnische sozialistische Organisation danach streben musste, sich der russischen Bewegung als ein Teil anzuschließen.

Wie sehr die „Narodnaja Wolja" damals die Gemüter beherrschte und welche großen Hoffnungen auf einen nahen politischen Umsturz sie hervorrief, können die Worte von Fr. Engels bestätigen, die im Jahre 1894 geschrieben wurden. Über jene Epoche in Russland sagte Engels:

Damals gab es in Russland zwei Regierungen: die des Zaren und die des geheimen Vollziehungsausschusses (ispolnitel'nyj komitet) der terroristischen Verschwörer. Die Macht dieser geheimen Nebenregierung stieg von Tag zu Tag. Der Sturz des Zarentums schien bevorzustehen; eine Revolution in Russland musste die gesamte europäische Reaktion ihrer stärksten Stütze, ihrer großen Reservearmee berauben und dadurch auch der politischen Bewegung des Westens einen neuen, gewaltigen Anstoß und obendrein unendlich günstigere Operationsbedingungen geben."L

Wenn so nüchterne Forscher der Geschichte der Gesellschaft wie Engels und Marx – denn die obigen Worte charakterisieren auch die damalige Ansicht und Stimmung von Marx –, die, reich an eigenen Erfahrungen aus der revolutionären Geschichte Europas, uns so tiefgreifende Hinweise für die Einschätzung des historischen Entwicklungsprozesses gegeben haben, die Ergebnisse der Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" so sehr überschätzen konnten, so ist es nicht verwunderlich, dass die damaligen polnischen Sozialisten, die direkt in der Kampfarena standen, vom ersten Augenblick ihrer praktischen Tätigkeit an dem stärksten Einfluss dieser Partei unterliegen mussten.

Nachdem also der polnische Sozialismus aus seiner Entwicklung im Geiste der westeuropäischen Sozialdemokratie als politische Konsequenz auch die Verbindung mit dem russischen Sozialismus zur gemeinsamen Aktion gezogen hatte, musste er im Resultat unter den gegebenen konkreten Bedingungen allmählich auf die Bahnen des Blanquismus geraten. Seine Geschichte ist folglich von dem Augenblick an, da die Partei „Proletariat" im Lande formell organisiert wurde, bis zu ihrem Niedergang gegen Ende der achtziger Jahre ein ständiges Entfernen von dem im Aufruf an die russischen Sozialisten im Dezember 1881 formulierten Standpunkt in blanquistische Richtung.

Es wäre selbstverständlich falsch, anzunehmen, dass die obige Wahl in der Situation, in die die polnischen Sozialisten hineingestellt waren, bewusst getroffen wurde. Als wir die obige Alternative formulierten, wollten wir vielmehr eine Analyse der Lage, wie sie wirklich war, geben, über die sich die Waryński-Gruppe höchstwahrscheinlich in dieser kategorischen Weise keinesfalls bewusst war. Einmal, weil das eigentliche Wesen der „Narodnaja Wolja" und ihr Widerspruch zum Standpunkt Waryńskis und der Genossen damals, im Jahre 1882, überhaupt noch nicht so klar und leicht feststellbar war, wie das später auf Grund von Dokumenten und Tatsachen möglich wurde. Dass sich gerade die Gruppe Waryńskis in bezug auf die Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" sozialdemokratischen Illusionen hingab, zeigten wir ja auf Grund ihres Aufrufs an die russischen Genossen.M Wie die genaue Untersuchung der damaligen sozialistischen Literatur („Równość", „Przedświt" und Broschüren) beweist, gab es auch unter den polnischen Sozialisten außer Waryński keinen, der ein so bewusster und erfahrener Sozialdemokrat gewesen wäre, wie man nach jenem Aufruf annehmen müsste.

In Anbetracht dessen fand die geistige Verbindung des „Proletariat" mit der „Narodnaja Wolja" äußerlich nicht als das Resultat einer ernsthaften inneren Auseinandersetzung des sozialistischen Gedankengutes in Polen statt, sondern vielmehr als ein ganz natürliches Ergebnis der Sachlage.

Da aber auf die Geschichte und die geistige Physiognomie einer immerhin so kleinen Gruppe, wie es die eigentlich führende sozialistische Organisation in Polen bisher für gewöhnlich ist, nicht nur die großen Richtlinien der logischen Entwicklung, sondern auch zahlreiche zufällige, persönliche Faktoren Einfluss haben – und das in dem so kurzen Zeitraum von nur einigen Jahren –, musste also diese Bewegung auf Grund uneinheitlicher theoretischer Reife der Gründer des „Proletariat" um so leichter den russischen Einflüssen erliegen. Da sich die Dokumente und Unternehmungen des „Proletariat" schon zu Anfang nicht durch einen völlig einheitlichen Charakter auszeichnen konnten, so genügte die gänzliche Entfernung Waryńskis aus der Kampfarena durch seine Verhaftung im Herbst 1883, um die Bewegung schnell auf die schiefe Ebene einer hoffnungslosen politischen Konspiration geraten zu lassen.

Sofern wir den Unterschied zwischen dem sogenannten Blanquismus und der Weltanschauung der Sozialdemokratie deutlich herausstellen wollten, so ist vor allem festzustellen, dass der Blanquismus überhaupt keine eigene Theorie im Sinne der Sozialdemokratie, das heißt eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung zum Sozialismus, besaß. Das stellt übrigens kein spezifisches Merkmal des Sozialismus dieser Schattierung dar, denn die Theorie von Marx und Engels war überhaupt der erste und, fügen wir hinzu, bisher siegreiche Versuch, die sozialistischen Bestrebungen auf den Boden einer bestimmten wissenschaftlichen Konzeption über die Gesetze der historischen Entwicklung im Allgemeinen und der kapitalistischen Gesellschaft im Besonderen zu stellen. Die vorangegangenen utopischen Theorien des Sozialismus, soweit man hier von Theorien sprechen kann, beschränken sich in ihrem Hauptinhalt auf die Begründung der sozialistischen Bestrebungen durch die Analyse der Mängel der bestehenden Gesellschaft sowie durch die Vollkommenheit und moralische Unerlässlichkeit des sozialistischen Systems.

Der Blanquismus, der sich – wie alle diese sozialistischen Schulen – in seinen Anschauungen auf die negative Kritik der bürgerlichen Ordnung und des Privateigentums stützte, repräsentierte an und für sich eher nur eine bestimmte Taktik des praktischen Handelns; in dieser Hinsicht aber verriet er seine Abstammung von den extremen Revolutionären der Großen Französischen Revolution, war er gewissermaßen eine Übertragung der Jakobinertaktik auf die sozialistischen Bestrebungen, deren ersten Versuch wir in Babeufs Verschwörung1 sehen.

Der Leitgedanke dieser Taktik ist der unbegrenzte Glaube an die Macht der politischen Gewalt, die fähig ist, im gesellschaftlichen Organismus jederzeit alle ökonomischen und sozialen Wandlungen, die für gut und richtig befunden werden, hervorzurufen.

Zwar sieht auch die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in der politischen Gewalt den Hebel gesellschaftlicher Umwälzungen. Doch weist die Konzeption von Marx und Engels der politischen Gewalt in diesen Perioden des Umsturzes nur die Rolle eines sozusagen ausführenden Faktors zu, der die Ergebnisse der inneren gesellschaftlichen Entwicklung realisiert, die ihren politischen Ausdruck im Klassenkampf findet. Nach der bekannten Formulierung von Karl Marx spielt die politische Gewalt in den revolutionären Zeiten die Rolle einer „Hebamme", die die Geburt der neuen Gesellschaft, die bereits als reife Frucht im Schoße der alten Gesellschaft enthalten ist, beschleunigt und erleichtert.2 Daraus ergibt sich bereits von selbst, dass tiefgehende gesellschaftliche Umwälzungen mit Hilfe politischer Macht nur auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft vor sich gehen können sowie dass die politische Gewalt als Instrument des Umsturzes nur in der Hand der gesellschaftlichen Klasse funktionieren kann, die in der betreffenden historischen Periode der Sachwalter der Revolution ist, wobei die Reife ebendieser Klasse, die politische Macht auf die Dauer zu ergreifen, die einzige Legitimation und der Beweis für die Richtigkeit und Möglichkeit des Umsturzes selbst ist.

Der Blanquismus, der diese Theorie nicht anerkennt oder vielmehr nicht kennt, betrachtet die politische Gewalt als ein Instrument der gesellschaftlichen Umstürze, losgelöst sowohl von der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt als auch vom Klassenkampf. Dieses Instrument kann jedem, der es besitzt, und jederzeit dienen, von diesem Standpunkt aus sind die Bedingungen eines Umsturzes einzig: der Wille einer entschlossenen Gruppe von Menschen und eine Verschwörung zum Zweck der Machtergreifung in einem günstigen Augenblick.

Blanqui", sagt Engels in seinem bekannten Artikel aus dem Jahre 1874 im „Volksstaat", „ist wesentlich politischer Revolutionär, Sozialist nur dem Gefühl nach, mit den Leiden des Volks sympathisierend, aber er hat weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte praktische Vorschläge sozialer Abhülfe. In seiner politischen Tätigkeit war er wesentlich ,Mann der Tat', des Glaubens, dass eine kleine wohlorganisierte Minderzahl, die im richtigen Moment einen revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen kann ...

Daraus, dass Blanqui jede Revolution als den Handstreich einer kleinen revolutionären Minderzahl auffasst, folgt von selbst die Notwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen: der Diktatur, wohlverstanden, nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl derer, die den Handstreich gemacht haben und die selbst schon im voraus wieder unter der Diktatur eines oder einiger wenigen organisiert sind."N

Wie wir sehen, ist die blanquistische Taktik direkt auf die Durchführung der sozialen Revolution unter Umgehung aller Übergangsphasen, aller Entwicklungsetappen gerichtet. Der Blanquismus war auf diese Weise ein Rezept, um die Revolution unter allen Bedingungen und jederzeit zu „machen", das heißt, indem er alle konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen ignorierte, war er eine universelle Taktik, die in jedem Land mit gleichem Erfolg angewendet werden konnte. Nirgends konnte jedoch, das ist klar, die Anwendung dieser Methode des Handelns einen so entscheidenden Einfluss auf das Schicksal des Sozialismus ausüben wie unter den besonderen Bedingungen des Zarentums.

Die Taktik des „Sprunges" in die soziale Revolution auf geradem Wege musste vor allem die politische Physiognomie einer Partei fatal beeinflussen, die im Rahmen eines Staates mit absolut-despotischen Regierungsformen handelte.

Deshalb lässt sich auch der Einfluss des russischen Blanquismus auf die polnischen Sozialisten Schritt für Schritt in der allmählichen Änderung ihrer politischen Anschauungen am auffallendsten konstatieren.

Um die Wahrheit zu sagen, ist bereits das im September 1882 verkündete offizielle Programm der Partei „Proletariat" bedeutend vom Standpunkt des Artikels von Waryński im „Przedświt", Nr. 3/4, sowie des Aufrufs an die russischen Genossen entfernt. Nachdem dieses Dokument in seinem allgemeinen Teil – wie wir bereits am Anfang bemerkten – die sozialistische Zukunft Polens auf den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, auf die Prinzipien des Klassenkampfes und des historischen Materialismus stützt, legt es im folgenden das eigentliche Programm dar, dessen Charakter gar nicht leicht zu bestimmen ist. Wir sehen hier drei gleichgeordnete Teile, und zwar die Forderungen der Partei „in ökonomischer Hinsicht", „auf politischem Gebiet" und „im Bereich des moralischen Lebens".O Wird dieser letzte Teil außer acht gelassen, da er in praktischer Hinsicht bedeutungsloser ist, so fällt hier auf, dass in den ersten beiden Teilen einerseits Forderungen als Koordinaten zusammengestellt worden sind, die den Inhalt des sozialistischen Umsturzes darstellen: „1) Der Boden und die Arbeitsinstrumente sollen aus der Hand einzelner in das Gemeineigentum der Arbeitenden, in das Eigentum des sozialistischen Staates übergehen, 2) die Lohnarbeit soll in Gemeinschaftsarbeit verwandelt werden" usw. – andererseits aber politische Forderungen, die auf den ersten Blick den Inhalt parlamentarisch-demokratischer Institutionen darstellen, die auf einen bürgerlichen Staat berechnet sind: „1) vollkommene Autonomie der politischen Gruppen, 2) Teilnahme aller an der Gesetzgebung, 3) Wählbarkeit aller Beamten, 4) völlige Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlungen, der Koalition etc. etc., 5) völlige Gleichberechtigung der Frauen, 6) völlige Gleichberechtigung der Konfessionen und Nationalitäten, 7) internationale Solidarität als Garantie des allgemeinen Friedens."

Es ist unmöglich, mit einigen Worten zu charakterisieren, welcher Kategorie dieses Programm eigentlich angehört. Nach näherer Überlegung ist eine Erklärung auf zweierlei Weise möglich. Die hier aufgezählten politischen Forderungen ähneln mit Ausnahme der ersten, die nicht ganz verständlich ist, den gewöhnlichen Minimalprogrammen der Sozialdemokratischen Parteien. Doch gerade die Zusammenstellung dieser Forderungen als Koordinaten der Forderungen des sozialistischen Umsturzes weckt die Vermutung, dass sie nicht unmittelbar auf die jetzige bürgerliche Ordnung berechnet waren. Gleichzeitig ist es zweifelhaft, ob sie sich auf die sozialistische Gesellschaft beziehen sollten, da sie in dieser Hinsicht zu viel Rücksicht auf die gegenwärtige, auf der Ungleichheit der Klassen, Geschlechter und Nationalitäten beruhende Ordnung verraten. Vielleicht haben wir hier also kein Minimalprogramm, sondern ein Programm, das vielmehr auf die Übergangsperiode nach der Machtergreifung durch das Proletariat berechnet ist und das darauf abzielt, den sozialistischen Umsturz zu eröffnen.

Das Muster eines ähnlichen Programms, das sowohl politisch-demokratische Forderungen als auch Reformen des Umsturzes im Geiste des Sozialismus in eine Reihe stellt und das für die Übergangsphase unmittelbar nach der Revolution gedacht ist, finden wir z. B. in den „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland", die von der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten im Jahre 1848 in Paris formuliert wurden und unter anderen die Unterschriften von Marx und Engels tragen.P

Man muss jedoch hervorheben, dass das obige Programm keinesfalls ein Ausdruck blanquistischer Taktik von Seiten der Schöpfer des Kommunistischen Manifestes gewesen ist, wie das z. B. Ed. Bernstein behauptet. Zu seinem Verständnis genügt es, den Umstand zu berücksichtigen, dass Marx und Engels dieses Programm unter dem frischen Eindruck der Februarrevolution in Frankreich und im Augenblick des Ausbruchs der Märzrevolution in Deutschland formulierten. Es ist bekannt, dass beide den revolutionären Schwung der Bourgeoisie überschätzten und damit rechneten, dass die europäische Bourgeoisie, einmal in den Wirbel der revolutionären Bewegung geraten, im Laufe einer kürzeren oder längeren Periode den Gesamtzyklus ihrer Herrschaft durchläuft, dass sie „nach ihrem Bild und Ebenbild" die politischen Verhältnisse der kapitalistischen Länder umwandelt, worauf die revolutionäre Welle das Kleinbürgertum in einer spontanen Bewegung an ihre Stelle setzt und schließlich das Proletariat, welches auf diese Weise, unmittelbar an die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution anknüpfend, berufen sein wird, den Umsturz im Geiste seiner Klassenemanzipation zu vollenden.

Durch die geschichtliche Erfahrung belehrt, können wir heute den ganzen Optimismus dieser Anschauung beurteilen. Wir wissen, dass die europäische Bourgeoisie gleich nach dem ersten revolutionären Sturm den Rückzug antrat und, nachdem sie ihre eigene Revolution abgewürgt hatte, die Gesellschaft zum „normalen" Leben unter ihrer Herrschaft zurückkehrte, wir wissen auch, dass die damaligen ökonomischen Bedingungen in Europa noch sehr weit von dem Reifegrad entfernt waren, der einen sozialistischen Umsturz ermöglicht hätte. Der Kapitalismus bereitete sich damals nicht auf den Tod vor, sondern im Gegenteil auf den Beginn seiner eigentlichen Herrschaft. Dadurch verlängerte sich auch die Phase, die die Kommunisten des Jahres 1848 nur einige Jahre von der Diktatur des Proletariats zu trennen schien, zu einer Epoche von mehr als einem halben Jahrhundert, die sogar noch heute nicht ihrem Ende entgegengeht.

Der Grund jedoch, der Marx und Engels schon damals zur Aufstellung eines Aktionsprogramms veranlasste, das direkt auf die Arbeiterrevolution abzielte, war nicht der Wunsch oder die Hoffnung, die Phasen der bürgerlichen Herrschaft zu „überspringen", sondern allein die falsche Einschätzung des wirklichen Tempos der gesellschaftlichen Entwicklung unter dem Einfluss der Revolution. Unter den Bedingungen der Tätigkeit des „Proletariat" ist es schwer, analoge Umstände für die Erklärung des Programms Zu finden. Wenn wir also seinen Forderungen den Charakter eines der Übergangsepoche angepassten Programms zuzuschreiben hätten, so bliebe nur die Vermutung, dass sich das „Proletariat" den blanquistischen Standpunkt wirklich schon in einem gewissen Maße zu eigen gemacht hatte.

Es muss aber festgestellt werden, dass, abgesehen von diesem formalen Durcheinander endgültiger und unmittelbarer Forderungen, das Programm des „Proletariat" im ganzen durch und durch vom Geiste der sozialdemokratischen Weltanschauung durchdrungen ist. Das beweist der starke Nachdruck, der auf der Idee liegt, dass der sozialistische Umsturz nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann, dass nur der Massenkampf, die Organisation des Proletariats und seine Aufklärung fähig sind, die Bedingungen der künftigen Gesellschaftsordnung vorzubereiten. Die Idee der Massenagitation und -organisation stellt den Leitgedanken der gesamten Begründung des Programms dar und weist darauf hin, dass die Partei eine lange Periode der Vorbereitungsarbeit auf dem Boden der Tagesinteressen des Proletariats in Betracht gezogen hatte.

Darauf weisen auch bestimmte Abschnitte des Programms hin, in denen das „Proletariat" die politischen Freiheiten als Bedingungen beurteilt, die die Organisation und den Massenkampf erst ermöglichen, was stellenweise an die exakten Formulierungen Waryńskis im „Przedświt" erinnert. „Wir verurteilen entschieden", sagt das Programm, „das Fehlen der Freiheit des Gewissens, der Sprache, der Versammlungen, der Vereinigungen, des Wortes und der Presse – denn das alles stellt der Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiter große Hindernisse entgegen, indem es einerseits religiös-nationalistischen Hass und Fanatismus weckt und andererseits die Massenpropaganda und -organisation unmöglich macht, die allein das Fundament einer künftigen Organisation der sozialistischen Gesellschaftsordnung errichten kann." Und etwas weiter: „Wieder werden wir entweder defensiv oder offensiv gegen die Unterdrückung kämpfen, indem wir im ersten Falle keine Veränderungen zum Schlechteren zulassen, im zweiten dagegen, indem wir eine Verbesserung der gegenwärtigen Existenzbedingungen des Proletariats im russischen Staate fordern."

Sofern wir trotzdem im Programm keine deutliche und kategorische Formulierung des Kampfes gegen den Zarismus, um demokratische Freiheiten als unmittelbare Aufgabe finden, statt dessen in ihm eine gewisse Unentschlossenheit und ein Schwanken im politischen Denken überwiegt, so zeigten jedenfalls weder das Programm noch seine Begründung positive Ansichten des Blanquismus. Die einzige Tatsache, die sich auf Grund dieses Dokuments feststellen lässt, ist, dass der Standpunkt der polnischen Sozialisten zweifellos bereits in großem Maße die kristallene Klarheit verloren hat, durch die er sich in den von uns analysierten Dokumenten der Genfer Gruppe auszeichnete. Es wird auch richtig sein, den Umstand zu berücksichtigen, dass das Programm vom Jahre 1882 ja bereits ein Werk der einheimischen Warschauer Gruppe war und dass Waryński, nachdem er seine Tätigkeit in das russische Teilungsgebiet verlegt hatte, auf die ortsansässigen Genossen wahrscheinlich weit mehr Rücksicht nehmen musste, die stärker unter dem direkten russischen Einfluss standen als die polnische Emigration in der Schweiz. Wenn sich jedoch der Charakter des offiziellen Programms der Partei „Proletariat" durch Unklarheit auszeichnet, so lassen dafür die weiteren Erscheinungen ihrer Tätigkeit keinen Zweifel mehr an dem zunehmenden Einfluss des Blanquismus auf die Partei. Betrachten wir die Entwicklung des „Proletariat" als Ganzes, so zögern wir nicht, sein Programm vom Jahre 1882 für eine Übergangserscheinung zu halten, die gerade durch ihre Undeutlichkeit den Standpunkt an der Wende zwischen der sozialdemokratischen und blanquistischen Phase in der Entwicklung des polnischen Sozialismus genau widerspiegelt.

L Friedrich Engels: Internationales aus dem Volksstaat, Berlin 1894, S. 69. [Friedrich Engels: Nachwort (1894) zu „Soziales aus Russland". In: Karl Man/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, S. 432.]

M Dasselbe bestätigen auch die Sätze, die wir in der „Równość" lesen. Wegen des Märzattentats auf Alexander II. schreibt die „Równość" bei der Analyse des Programms der „Narodnaja Wolja" dieser die gemäßigte Forderung nach einer „konstitutionellen Monarchie" zu. Die Initiatoren des Attentats vom 13. März, schreibt sie, kämpften um nichts anderes als um Zugeständnisse. „Wir wollen Veränderungen in der politischen Form des heutigen Systems – das will die ,Narodnaja Wolja'." Równość, Nr. 5 u. 6 von März u. April 1881.

  1. 1 Im Jahre 1796 hatte Francois Noel Babeuf die Verschwörung der Gleichen gegen die Konterrevolution der französischen Großbourgeoisie geleitet, die u. a. auf den Sturz der Großbourgeoisie, die Wiedereinführung der Jakobinerverfassung von 1793, die Errichtung der Volksdiktatur und die Durchsetzung der Gleichheit aller Werktätigen gerichtet war. Durch Verrat wurde die Verschwörung aufgedeckt und Babeuf 1796 hingerichtet.

N Friedrich Engels: Internationales aus dem Volksstaat, S. 41. [Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. II. Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 18, S. 529.]

O Siehe Z Pola Walki. S. 30/31; Przedświt, Nr. 4 vom Oktober 1882.

P Diese Forderungen lauten in den Hauptpunkten:

1. Ganz Deutschland soll zu einer unteilbaren Republik erklärt werden.

4. Allgemeine Volksbewaffnung.

11. Alle Transportmittel wie Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Postämter etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur Verfügung gestellt.

16. Einrichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und sorgt für die Arbeitsunfähigen.

17. Allgemeine, unentgeltliche Erziehung.

Siehe Karl Marx: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln; Einleitung von Friedrich Engels, 1885, S. 11/12. [Karl Marx/Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 5, S. 3-5.]

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