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Im vorangegangenen Abschnitt leiteten wir den Übergang der von Waryński und anderen Genossen gegründeten Partei vom sozialdemokratischen zum blanquistischen Standpunkt deduktiv ab, als logisches Ergebnis ihres politischen Leitprinzips, der gemeinsamen Aktion mit dem russischen Sozialismus, und angewandt unter den damaligen Verhältnissen.

Diese Schlussfolgerung bestätigt schon in ganz offensichtlicher Weise die Analyse der Dokumente über die Tätigkeit des „Proletariat", die zeigen, wie nach jeder Annäherung an die „Narodnaja Wolja" die polnischen Sozialisten deren Ansichten und Taktik buchstäblich übernahmen. Das lässt sich in direkter chronologischer Folge beobachten. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht z. B. bereits das früheste Dokument, das vom Anfang des Jahres 1883 datiert, also kaum einige Monate älter ist als der Aufruf des Arbeiterkomitees, das heißt als das formelle Programm der Partei „Proletariat". Wir denken hier an die Entschließungen, die vom „Kongress der Vertreter einiger sozialrevolutionärer Gruppen, die den ersten Schritt zur gegenseitigen Annäherung und Schaffung einer straff organisierten sozialrevolutionären Partei machten", angenommen wurden. Das Dokument führt zwar nicht im einzelnen auf, von welchen „Sozialrevolutionären Gruppen" die Rede ist, es trägt auch nicht die offizielle Unterschrift der Partei „Proletariat", aber schon sein Abdruck im „offiziellen Teil" des „Przedświt" sowie auch die allgemeine politische Tendenz dieses Dokuments, die mit dem Streben Waryńskis und seiner Genossen übereinstimmt, lassen ohne Zweifel erkennen, dass es sich hier, wenn vielleicht nicht um einen Ausdruck der Anschauungen der ganzen Partei „Proletariat" oder ihres Vorstandes handelt, so jedenfalls um die Ansichten eines, und zwar bedeutenden Teiles ihrer Führer. Deshalb betrachten wir sie auch, ohne überhaupt auf eine Analyse der praktischen Tragweite dieser Resolutionen einzugehen, obwohl sie in den späteren Publikationen der Partei als Grundlage der bekannten konfidentiellen Vereinbarung des „Proletariat" mit der „Narodnaja Wolja" figurieren, nur als ein Symptom der geistigen Verfassung unter den polnischen Sozialisten kurz nach Gründung der Partei.

Diese Entschließungen, deren Leitgedanke genau wie in dem Aufruf „An die Genossen russischen Sozialisten" die Schaffung einer einzigen Partei für den russischen Staat mit einem gemeinsamen Programm ist, beginnen mit der folgenden charakteristischen Fragestellung:

A. Soll eine besondere polnisch-litauisch-belorussische revolutionäre Partei geschaffen werden?

Einstimmig: Nein. Dagegen sollen die polnischen, litauischen und belorussischen Gruppen zu einer einheitlichen Partei gehören, die in den Grenzen des russischen Reiches tätig ist.

Wie soll die Tätigkeit dieser Partei aussehen?

Diese Tätigkeit soll von zweifacher Art sein: einerseits Sozialrevolutionäre Propaganda und Agitation, andererseits aber Kampf gegen die russische Regierung direkt in ihrem Innern."

Wenn schon die letzte Formulierung den auf die Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" berechneten verschwörerischen Standpunkt in bezug auf den politischen Kampf verrät, so ist der folgende Absatz noch charakteristischer:

Die politische Aktion wird nur insofern als angebracht anerkannt, als die politische mit der ökonomischen Unterdrückung Arm in Arm geht. Wenn sich z. B. die Regierung auf die Seite der besitzenden Klassen stellte, dann wäre der Kampf gegen die letzteren gleichzeitig ein Kampf gegen die Regierung. Wenn sich dagegen die Regierung auf keine soziale Gesellschaftsklasse stützt, aber mit ihrer Unterdrückung die Tätigkeit der sozialrevolutionären Partei lähmt, dann sollte und kann sie leicht durch eine Verschwörung gestürzt werden, wobei die Vereinigung der Volksmassen im Namen des Antagonismus ihrer Interessen mit dem Interesse der Besitzenden eine unerlässliche Bedingung weiterer Fortschritte der Revolution darstellt."A

Jeder, der mit den Theorien des russischen Sozialismus vertraut ist, erkennt hier sofort den Widerhall der noch von den Bakunisten geerbten Anschauungen der „Narodnaja Wolja".

Schon der Herausgeber des „Nabat", Tkatschow, einer der ältesten russischen Blanquisten, formulierte im Jahre 1874 in seinem „Offenen Brief an Herrn Friedrich Engels", der in Zürich in deutscher Sprache erschien, die Theorie, dass die Zarenregierung in Russland „sich auf keine soziale Gesellschaftsklasse stützt" und dass sie infolgedessen leicht gestürzt werden „kann und soll". Dieser Staat, verkündet Tkatschow, „scheint nur aus der Ferne als eine Macht... Er hat keine Wurzel im ökonomischen Leben des Volks; er verkörpert nicht in sich die Interessen irgendwelches Standes ... Bei Ihnen (in Deutschland, im Westen – R. L.) ist der Staat keine scheinbare Macht. Er stützt sich mit beiden Füßen auf das Kapital, er verkörpert in sich (!!) gewisse ökonomische Interessen... Bei uns (in Russland – R. L.) verhält sich diese Angelegenheit gerade umgekehrt – unsere Gesellschaftsform hat ihre Existenz dem Staate zu verdanken, dem sozusagen in der Luft hängenden Staate, der mit der bestehenden sozialen Ordnung nichts Gemeinschaftliches hat, der seine Wurzel im Vergangenen, aber nicht im Gegenwärtigen hat."B

In den Anschauungen der russischen Sozialisten der siebziger und achtziger Jahre war diese Theorie von dem „in der Luft hängenden" russischen Staat nur ein Teil der Gesamttheorie von der „selbständigen" Entwicklung Russlands. Auf ökonomischem Gebiet entsprach ihr die Anschauung, der Kapitalismus in Russland sei eine „Kunstpflanze", die von der Zarenregierung auf russischen Boden versetzt wurde, der landwirtschaftliche Gemeindebesitz dagegen sei die eigentliche Form der russischen Volkswirtschaft.

Selbstverständlich wurde das Verhältnis des Wirtschaftssystems in der Gesellschaft zur politischen Ordnung auf diese Weise auf den Kopf gestellt. Soweit von den kapitalistischen Formen die Rede war, erklärte diese Theorie nämlich die ökonomischen Verhältnisse für ein willkürliches Produkt der politischen Macht. Andererseits verblieb der Zarismus nach der Theorie der Volkstümler im vollkommenen Gegensatz zum landwirtschaftlichen Gemeindebesitz, dieser „natürlichen" Form der Volkswirtschaft. Logischerweise war also auf die Frage, worauf eigentlich die politische Macht in Russland ihre Existenz stützt, nur die Antwort möglich, dass der Staat in Russland „in der Luft hängt" oder, wie es das Programm des Exekutivkomitees der „Narodnaja Wolja" noch genauer formulierte: „Dieser staatlich-bürgerliche Auswuchs hält sich lediglich mit Hilfe nackter Gewalt."C

Da auf diese Weise die ganze bestehende politische Ordnung Russlands auf politische Gewalt zurückgeführt wurde, so war es folglich nur ein logisches Ergebnis, dass auch die Beseitigung dieser Ordnung als eine Frage der Gewaltanwendung betrachtet werden musste und dass man entschied, die allmächtige Regierung „könne und solle leicht durch eine Verschwörung gestürzt werden".

Schon Friedrich Engels widerlegte im Jahre 1874 die obige Beweisführung, wobei er zugleich mit bewundernswerter Tiefe der Anschauung die schwachen Seiten der Theorie des russischen Volkstümlertums aufzeigte. Er stellte fest, dass der Staat in Russland nicht nur nicht „in der Luft hängt", sondern sich sehr stark auf die Klasse des Adels und zugleich auf die entstehende Klasse der Bourgeoisie stützt, dass also eher jene russischen Sozialisten in der Luft hängen, die diese materiellen Grundlagen der Zarenregierung nicht wahrnehmen. Weiter zeigte Engels, dass die russische Obschtschina, auf die die „selbständigen" russischen Sozialisten die nahe sozialistische Zukunft Russlands aufbauten, nicht das entsprechende Fundament für die sozialistische Ordnung, sondern gerade für die orientalische Despotie des russischen Zarismus war. Er entdeckte auch die Zerfallstendenz innerhalb dieser Obschtschina und prophezeite ihren weiteren Zerfall unter dem Einfluss der bürgerlichen Entwicklung, sofern sie sich selbst überlassen bleibt.1

Mit einem Wort, ohne zwar auf die positiven Aufgaben der russischen Sozialisten hinzuweisen und die Bedeutung der künftigen Aktion des Industrieproletariats in Russland zu berücksichtigen, zerstörte Engels den phantasievoll „in der Luft" gebauten „selbständigen" Weg Russlands zum Sozialismus, wobei er zugleich erklärte, dass Leute, die wie Tkatschow und andere Volkstümler-Sozialisten der Meinung sind, dem Sozialismus näherzustehen als die westeuropäischen Länder, und zwar aus dem Grunde, weil Russland „zwar" kein Industrieproletariat besitzt, aber „dafür" auch keine Bourgeoisie, dass diese Leute „vom Sozialismus noch das Abc zu lernen" haben.D

In der Tat lehrt das Abc des Sozialismus, und zwar des Marxschen, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung kein bestimmtes, von vornherein erdachtes Ideal einer Gesellschaft ist, das sich auf verschiedenen Wegen und auf verschiedene mehr oder weniger geistreiche Weise erreichen lässt, sondern einfach die historische Tendenz des Klassenkampfes des Proletariats im Kapitalismus gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Außerhalb dieses Klassenkampfes zweier bestimmter Gesellschaftsschichten ist es unmöglich, den Sozialismus auf dem Wege der Gründung urchristlicher kommunistischer Gemeinden oder durch die Propaganda des genialsten Schöpfers sozialistischer Utopien, auf dem Wege von Bauernkriegen oder durch revolutionäre Verschwörungen zu verwirklichen. Wie wir gesehen haben, gingen die polnischen Sozialisten in ihrem Programm formell gerade von diesen Voraussetzungen aus und wollten ihre Tätigkeit auf den proletarischen Klassenkampf stützen. In Wirklichkeit jedoch versündigten sie sich in dem bereits angeführten Dokument am „Abc des Sozialismus" nicht weniger als die russischen Volkstümler.

Indem nämlich unsere Revolutionäre von den russischen Volkstümlern die Anschauung über den Staat in Russland als mit keiner Gesellschaftsklasse verbunden und „in der Luft hängend" übernahmen und indem sie glaubten, dass es leicht sei, diesen Staat auf dem Wege der Verschwörung zu „stürzen", trennten sie den politischen Kampf künstlich von ihrer übrigen sozialistischen Tätigkeit, trennten sie den Kampf gegen die Regierung, den sie als eine spezielle Aufgabe der Partei der Verschwörer zuwiesen, von der sozialistischen Agitation und dem Klassenkampf, den sie in Polen doch für die Aufgabe der Arbeiterklasse hielten. Dieser Anschauung entspricht auch die kategorische Zweiteilung der Aufgaben der Partei im ersten Punkt der zitierten Entschließungen in „Sozialrevolutionäre Propaganda und Agitation" einerseits und „den Kampf gegen die Regierung direkt in ihrem Innern" andererseits.

Wir sagten oben, dass das Hauptmerkmal des Blanquismus darin besteht, dass er die politische Gewalt als Mittel zum gesellschaftlichen Umsturz, losgelöst sowohl von der gesellschaftlichen Entwicklung als auch vom Klassenkampf, betrachtet.

Die polnischen Sozialisten, die diese Theorie in ihrer allgemeinen Form gar nicht anerkannten, sondern – wie wir gesehen haben – bewusst und voller Überzeugung erklärten, dass „die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse" sein kann, stellten sich jedoch schon dadurch, dass sie die Anschauungen der Volkstümler über den russischen Staat übernahmen, unbewusst, aber faktisch auf den oben formulierten Standpunkt des Blanquismus. Die Hoffnung, dass es möglich sei, den sozialistischen Umsturz auf geradem Wege unter Umgehung der bürgerlich-parlamentarischen Phase durchzuführen, musste sich hieraus schon als logische Schlussfolgerung ergeben.

In der Tat zeigen uns die Veröffentlichungen der Partei schon sehr frühzeitig die Evolution, die in ihren Anschauungen vor sich gegangen war. In der in Polen erscheinenden Schrift „Proletariat", deren fünf Nummern in einer Geheimdruckerei vom September 1883 bis zum Mai 1884 herausgegeben wurden, fällt bereits die ironische Verhöhnung der „bürgerlichen Freiheiten" und des Liberalismus auf, die dem Verschwörersozialismus und dem Anarchismus eigen ist. Während die zweite Nummer des „Proletariat" das satirische Gedicht „Liberale Hymne auf das Jahr 1880 in Erwartung der Konstitution" enthält, finden wir im Leitartikel derselben Nummer in der Bilanz des Nutzens, den die von der Partei aufgenommene „neue Losung" des sozialistischen Kampfes mit sich bringt, folgenden originellen Gesichtspunkt:

Den dritten Vorteil liefert der schon begonnene Kampf: Er treibt die bürgerliche Gesellschaft in die Umarmung der Regierung, in deren allmächtigen Armen sie Rettung vor dem neuen Feind zu finden hofft, der nach ihren Privilegien trachtet; er verbindet und identifiziert diese beiden Elemente immer mehr und macht aus ihnen einen einzigen durch keine Maske von Phrasen getarnten Feind der arbeitenden Klasse."

Auf den ersten Blick erscheint es rätselhaft, wie man in den ersten Anfängen der sozialistischen Bewegung, beim Fehlen der elementarsten demokratischen Freiheiten die wachsende Reaktion der bürgerlichen Klassen als eine nützliche Erscheinung ansehen kann. Wenn sich die Bourgeoisie dem Zarismus in die Arme wirft, verlängert sie natürlich seine Existenz und festigt zugleich all das, was nach den eigenen Worten des Programms der Partei „Proletariat" „der Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiter große Hindernisse entgegenstellt, indem es ... die Massenpropaganda und -organisation unmöglich macht, die allein das Fundament einer künftigen Organisation der sozialistischen Gesellschaftsordnung errichten kann".

Aber der im Programm von 1882 zum Ausdruck gebrachte Standpunkt war, wie wir sehen, nicht mehr der Standpunkt der Partei im Jahre 1883; und der Gesichtswinkel, unter welchem sie die politischen Erscheinungen einschätzte, war schon ein ganz anderer:

Zwar, hören wir jetzt, erschwert das (die bürgerliche Reaktion) den Kampf in seinen Anfängen, indem es zahlreiche Kreise von Neutralen und sogar mit der Regierung Unzufriedenen entfernt, aber es gibt ihm um so dauerhaftere Grundlagen und erschwert durch eine bestimmte Richtung die im Augenblick des Ausbruchs mögliche und seit langem praktizierte Verführung der Massen durch die herrschenden Klassen und die Verfälschung der revolutionären Bewegung."

Den Maßstab für die Einschätzung der politischen Bedingungen der Tätigkeit bilden hier also bereits nicht mehr die Unerlässlichkeit der allmählichen Organisierung der Massen, wie in dem angeführten Abschnitt des Programms, das heißt die Erfordernisse des täglichen Kampfes, sondern die Rücksicht auf den Augenblick des „Ausbruchs", die unmittelbare Vorbereitung auf die soziale Revolution.

Diese Ansicht über die Situation des Sozialismus in Polen vervollständigt harmonisch die Ansicht des „Proletariat", die es zu gleicher Zeit über die Lage in Russland und die Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" hat. Infolge der terroristischen Attentate der letzteren „gewinnt das Volk eine hohe Meinung von der Kraft der Revolutionäre, und in seinem Denken entsteht die Frage, ob es nicht bequemer ist, sich auf ihre Seite zu stellen, und ob sie ihm nicht das Land, die Wälder und Weiden zurückgeben würden. Von ihnen hängt es ab, dem Volk ,ja' zu sagen, und das Schicksal der Revolution wird entschieden sein."E

In der Tat, leichter und angenehmer kann man sich eine Revolution überhaupt nicht vorstellen, könnte man mit den Worten von Engels sagen.

Von Vorbereitungsarbeit, von Aufklärung und Organisierung der Arbeiterklasse ist schon nicht mehr die Rede, vielmehr glaubt man, dass die Volksmasse in sich selbst das Streben nach Veränderung der Gesellschaftsordnung trägt, und unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die teilweisen Veränderungen der bestehenden Gesellschaftsordnung, wie die Demokratisierung des Staates, natürlich nur als eine Kleinigkeit, die der Aufmerksamkeit und des Zeitverlustes nicht wert sind. In der dritten Nummer vom 20. Oktober 1883 lesen wir auch im Artikel „Wir und die Bourgeoisie" die eindeutige Erklärung:

Die Masse (des arbeitenden Volkes) erkennt ihre Unfähigkeit zur Durchführung eines Umsturzes an, sie sucht Menschen, denen sie vertrauen, denen sie die Führung übertragen könnte, und schweigt bis zu dieser Zeit. Wer, wenn nicht wir, kann und muss dieses Vertrauen besitzen! Um es aber zu gewinnen, muss mit Taten bewiesen werden, dass wir die Feinde ihrer Bedrücker sind, dass wir vor dem Kampf, den wir heute in ihrem Interesse führen, nicht zurückweichen, dass wir wollen, dass sich die Massen all das nehmen, was ihnen zukommt, und nur deshalb lehnen wir für heute das Turnier der bürgerlichen Parlamente ab, in denen eine unaufgeklärte Mehrheit das Schicksal des Umsturzes in die Hände ihrer Feinde übergibt, deshalb scheint uns eine energische, nur aus Sozialisten zusammengesetzte provisorische Regierung die beste Garantie für eine mögliche völlige Befreiung der arbeitenden Klasse zu sein."

Das ist ein klassisches Glaubensbekenntnis im Geiste des Blanquismus: die Gegenüberstellung einer „provisorischen Regierung aus Sozialisten" einem „Turnier bürgerlicher Parlamente", wobei das politische Programm in seiner vorläufigen Bedeutung vollkommen schwindet.

Wir sind Kommunisten", verkündet ganz genauso im Jahre 1874 das in London herausgegebene Manifest der französischen Blanquisten, „weil wir bei unserm Ziel ankommen wollen, ohne uns an Zwischenstationen aufzuhalten, an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen und die Sklaverei verlängern."F

Die deutschen Kommunisten", antwortet Fr. Engels in seiner Kritik des obigen Manifests (das die Unterschriften von dreiunddreißig Blanquisten trägt) „die deutschen Kommunisten sind Kommunisten, weil sie durch alle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden [Hervorhebung – R. L.], das Endziel klar hindurchsehen: die Abschaffung der Klassen, die Errichtung einer Gesellschaft, worin kein Privateigentum an der Erde und an den Produktionsmitteln mehr existiert. Die Dreiunddreißig sind Kommunisten, weil sie sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben, die Zwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei die Sache abgemacht, und wenn es, wie ja feststeht, dieser Tage ,losgeht' und sie nur ans Ruder kommen, so sei übermorgen ,der Kommunismus eingeführt'. Wenn das nicht sofort möglich, sind sie also auch keine Kommunisten. Kindliche Naivität, die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen!"G

Die vierte Nummer des „Proletariat" verrät zwar wieder ein gewisses Zögern in Richtung auf die Rückkehr zu den sozialdemokratischen Anschauungen. Im Artikel „Wir und die Regierung" lesen wir: „Doch bis zum endgültigen Kampf wird unsere Bewegung noch viele Wechselfälle erleben. Eine der Hauptaufgaben der Vorbereitungsarbeit ist der Kampf gegen die Anschläge der Regierungen, die uns im Interesse der Bourgeoisie verfolgen, ist die Verteidigung der politischen Freiheit vor der schändlichen Verschwörung gegen die Bestrebungen des Volkes. Die politische Freiheit hat das Volk vor der sozialen Unterdrückung nicht bewahrt, wir schätzen sie aus einem anderen Grund: Unsere Tätigkeit braucht für ihre Wirksamkeit das Tageslicht, bei dem sie sich breit und frei entwickeln würde, und nur zwangsläufig geht sie zur geheimen Konspiration über. Bei politischer Freiheit ist die Einwirkung auf die Massen erleichtert, wird ihr Bewusstsein schneller geweckt, sammeln sie sich schneller um die Fahne der gesellschaftlichen Idee, wird ihre Organisierung in großem Maßstab möglich. Der Kampf gegen die politischen Hindernisse, die die Regierungen unserer Tätigkeit entgegenstellen, muss besonders dort hartnäckig sein, wo die politische Sklaverei in ihrer ursprünglichen, schamlosen Form herrscht, wo die unbeschränkte Willkür regiert, wo die einfachsten Menschenrechte nicht geachtet werden. Hier muss der Sturz der Regierung einer der Hauptpunkte des sozialistischen Aktionsprogramms sein."

Es könnte auf Grund der angeführten Worte scheinen, dass das „Proletariat" dennoch die Notwendigkeit begriffen hatte, politische Freiheiten noch vor dem „Ausbruch" zu erobern, um die Agitation und Organisation in einem breiten Maßstab zu ermöglichen. Doch auch hier fällt die stark einseitige und flache, formalistische Einschätzung der politischen Freiheiten ausschließlich als technische Hilfsbedingungen der Tätigkeit der Sozialisten auf. Die objektive historische Seite der parlamentarisch-bürgerlichen Regierungsform als unbedingt notwendige Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst findet hier keine Berücksichtigung. Wenn man dagegen die parlamentarische Demokratie lediglich als ein äußeres Mittel betrachtet, das die Vorbereitung des revolutionären „Ausbruchs" erleichtert, kommt man selbstverständlich auf logischem Wege nicht zu der Schlussfolgerung, dass der Kampf um die Eroberung demokratischer Formen die notwendige und erste Aufgabe der Arbeiterklasse, sondern dass ihre Erlangung eine angenehme, nicht abzulehnende Eventualität ist, ohne die man jedoch notfalls auch auskommen kann.

Das sind im Grunde genommen die Schlussfolgerungen, die das „Proletariat" im zweiten Teil des Artikels „Wir und die Regierung" zieht, und in der fünften und letzten Nummer seiner Warschauer Schrift lesen wir:

Wenn die von den Fortschritten unserer revolutionären Arbeit erschreckte Regierung sich unserer mehr oder weniger patriotischen Bourgeoisie nähern und wenn sie ihr einige politische nationale Zugeständnisse machen will, um sie zum gemeinsamen Kampf gegen uns zu ermuntern – dann bitte. Wir werden gegen diese Zugeständnisse bestimmt nicht protestieren und werden bemüht sein, alles, was der Bourgeoisie zugestanden wird, gegen sie auszunutzen, gegen die Regierung umzukehren."

Einen noch deutlicheren Nachdruck auf diese rein blanquistische Auffassung der politischen Freiheiten legt der Schlussabsatz des Artikels, der die Schlussfolgerungen aus den beiden grundsätzlichen Artikeln formuliert:

Wir ziehen die Schlussfolgerung. Der heutige Staat besitzt für uns eine wesentliche und lebenswichtige Bedeutung. Indem der Staat seine Existenz eng mit der Erhaltung der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung verbindet, verteidigt er die privilegierten Klassen, unterdrückt und verfolgt er die Parteien, die die soziale Befreiung erstreben. Die Regierungsorganisation zu zerschlagen, das bedeutet, das organisierte Hindernis zu stürzen, das unseren Zielen im Wege steht."

Also ist hier letzten Endes nicht von der despotischen Regierung die Rede, sondern vom „heutigen Staat", das heißt, die besondere russische Form der Regierung wird mit der Institution des Klassenstaates im allgemeinen identifiziert. Dementsprechend ist die Aufgabe der sozialistischen Partei auch nicht vor allem die fortschrittliche Reformierung der staatlichen Institutionen, sondern „die Zerschlagung der Regierungsorganisation" oder der unmittelbare Sturz der Klassenregierung als der Festung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung.

Schließlich zeigt sich die in vollem Umfang besprochene Evolution der politischen Anschauungen im wichtigsten Dokument aus der Geschichte der Partei, in der formellen Vereinbarung mit der „Narodnaja Wolja", die zu Anfang des Jahres 1884, also schon nach der Verhaftung und Entfernung Ludwik Waryńskis vom Kampffeld, geschlossen wurde. Diese Vereinbarung brachte, wie gewöhnlich, die Vereinigung der polnischen und russischen sozialistischen Bewegung bedeutend später, als sie in Wirklichkeit stattgefunden hatte, formell zum Ausdruck und stellt ein ausgezeichnetes „Pendant" zu dem uns schon bekannten Aufruf an die russischen Genossen dar, das zeigt, welch eine lange Strecke der polnische Sozialismus in seiner politischen Wandlung in der kurzen Periode von Ende 1881 bis Anfang 1884 zurückgelegt hat.

In dem Bericht des Zentralkomitees des „Proletariat" an das Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja" finden wir die Erklärung, dass „die im Kampf geübten und auf seinem Boden organisierten Kampfkräfte (der Partei ,Proletariat') im entsprechenden Moment verwendet werden als Hilfsabteilung zum Sturz der bestehenden Regierung und zur Ergreifung der Macht durch das Zentralkomitee, das, gestützt auf die Massen – da es allein der wirkliche Vertreter ihrer Interessen sein wird –, eine Reihe ökonomischer und politischer Reformen durchführen wird, mit deren Hilfe es endgültig die bestehenden Eigentumsbegriffe diskreditieren und den Teil des sozialistischen Programms realisieren wird, dessen Verwirklichung im Augenblick des Umsturzes möglich sein wird"H.

Hier wird der Sturz der „bestehenden Regierung" (prawitelstwa), also des Zarismus, schon ganz deutlich als direkte Einleitung der sozialen Revolution angenommen; der Kampf gegen den Despotismus verliert vollkommen den Charakter des täglichen Kampfes auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; die Distanz zwischen den Minimalforderungen und den Endzielen, zwischen dem politischen Programm und dem Programm des sozialistischen Umsturzes schwindet, und die tägliche Aktion verwandelt sich in eine unmittelbare Spekulation auf den „Ausbruch", der den sozialen Umsturz sofort einleiten soll.

Dementsprechend behandelt das Zentralkomitee im Weiteren alle Details des „Ausbruchs", verspricht, den „staatlichen Umsturz" (gosudarstwennowo pereworota) nicht eher zu beginnen als auf ein vom Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja" gegebenes Signal, behält sich nach dem Umsturz „in seinen schöpferischen Arbeiten" (sosidatelnych rabotach) Selbständigkeit vor usw.

Mit einem Wort, wir haben hier, trotz der im Dokument außerdem hervorgehobenen Gesichtspunkte des Klassenkampfes, der Massenagitation usw., ein typisches Programm des Blanquismus; das Dokument aber, das die praktische Verwirklichung der Idee krönt, die in dem Aufruf an die russischen Genossen zum Ausdruck gebracht wurde, ist auf diese Weise zugleich der Schlusspunkt einer Kette allmählicher Umgestaltungen des polnischen Sozialismus.

A Przedświt, Nr. 17 vom 14. Mai 1883.

Die Redaktion des „Przedświt" fügt zu den obigen Entschließungen den Vorbehalt hinzu, dass sie mit den darin geäußerten Ansichten nicht ganz übereinstimmt. Für uns sind jedoch im gegebenen Falle selbstverständlich vor allem die Anschauungen der damaligen Funktionäre im Lande wichtig. Im Übrigen führt die Redaktion des „Przedświt" ihre abweichenden Ansichten im Einzelnen überhaupt nicht auf und gibt somit keine Grundlage für irgendwelche Schlussfolgerungen.

C Siehe Kalendar Narodnoi Woli, S. 5.

D Friedrich Engels: Internationales aus dem Volksstaat. S. 50. [Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. V. Soziales aus Russland. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 18, S. 557.]

E Proletariat, Nr. 2 vom 1. Oktober 1883.

G l. c. [Ebenda.]

H Siehe Westnik Narodnoi Woli, 1885, Nr. 4, S. 242.

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