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Die Wandlung der politischen Anschauungen der Partei musste sich natürlich in ihrer praktischen Tätigkeit widerspiegeln.

Das zeigte sich in zwei Kardinalpunkten: im Schwinden der Massenagitation und im Schwinden der politischen Agitation überhaupt.

Theoretisch stützte sich die Partei „Proletariat" entsprechend den Grundsätzen ihres Programms auf den Klassenkampf und unterstrich stark bis zum Ende die Bedeutung des Massenkampfes und der Agitation auf dem Boden der Tagesinteressen.I Nachdem sie sich aber einmal den direkten sozialistischen Umsturz zum Ziel gesetzt hatte, und zwar auf dem Wege der Verschwörung einer „mutigen Minderheit", verlor sie den eigentlichen Faden des Massenkampfes. Schon in der Konzeption der Taktik selbst, wie sie z. B. der von uns erwähnte Artikel „Wir und die Bourgeoisie" in Nr. 3 der Schrift „Proletariat" formuliert, ist den Volksmassen bis zum Augenblick des sozialen Umsturzes eine völlig passive Rolle zugedacht. „Die Masse erkennt ihre Unfähigkeit zur Durchführung eines Umsturzes an, sie sucht Menschen, denen sie vertrauen, denen sie die Führung übertragen könnte, und schweigt bis zu dieser Zeit." Die Verteilung der revolutionären Rollen entspricht in dieser Theorie also der antiken griechischen Tragödie: Die einzelnen handeln, und die Masse bildet den Chor, das heißt das passive Echo der Taten der einzelnen.

Die blanquistische Taktik verändert somit eigentlich den Grundsatz: Die Befreiung der Arbeiter muss das Werk der Arbeiter selbst sein, in den Grundsatz: Die Befreiung der Arbeiter muss das Werk einer Handvoll Verschwörer sein.

Außerdem schließt allein die Technik des Verschwörerkampfes die Massentätigkeit aus. Weder die Verschwörung, mit welchem Programm auch immer verbunden, noch der Terrorismus als hauptsächliches und ständiges Kampfsystem waren jemals Sache der Massen und können es ihrer Natur nach nicht sein, sondern lediglich die eines kleinen Kreises von einzelnen. In Anbetracht dessen musste die vom „Proletariat" verkündete Massenagitation ein Grundsatz ohne Anwendung bleiben.

Zwar pflegen als Beweis der Massenagitation des „Proletariat" gewöhnlich zwei bekannte Tatsachen aus seiner Tätigkeit angeführt zu werden: die Aktion wegen der Verordnung des Warschauer Oberpolizeimeisters im Februar 18831, die die ärztliche Untersuchung der Arbeiterinnen betraf, sowie die Demonstration der Arbeitslosen2 auf dem Schlossplatz in Warschau im März 1885.

Die angeführten Beispiele können jedoch am allerwenigsten zur Stützung der Behauptung dienen, dass das „Proletariat" in Polen wirklich eine Massenbewegung hervorgerufen hat oder dazu fähig gewesen ist.

Denn in beiden obigen Fällen hat die Partei zwar bewiesen, dass sie die Notwendigkeit begriffen hatte, die Massen anzusprechen und sie in bestimmten Ausnahmefällen, in Situationen, die unabhängig von ihrem Willen und ihrer Initiative entstanden waren, zu verteidigen. Im ersten Fall nutzte die Partei eine einzelne Verordnung der Behörden geschickt aus und richtete einen kühnen Appell an die Massen zur Abwehr ebendieser Verordnung, im zweiten Fall stand sie vor einer spontanen Demonstration unaufgeklärter und unorganisierter Arbeitermassen und richtete an sie einen Aufruf mit der Aufforderung, sich um ihre Fahne zu scharen. Jedoch beweisen gerade diese beiden Fälle zugleich, dass die Partei „Proletariat" von ihrem praktischen Standpunkt aus gar nicht in der Lage war, die sich bietenden Gelegenheiten zur Anbahnung einer Massenagitation auf die Dauer auszunutzen. Um das zu vollbringen, hätte die Partei verstehen müssen, den empörten Arbeitermassen irgendwelche direkten, greifbaren Aufgaben, eine unmittelbare, für sie verständliche Aktion zu zeigen. Eine solche Aufgabe wäre gewesen, den erniedrigten Arbeiterinnen und auch den Arbeitslosen zu zeigen, dass die despotische Regierung, dass die politische Rechtlosigkeit der Arbeiter das wichtigste Hindernis auf dem Wege zur Verbesserung ihrer materiellen und sozialen Lage ist, und ihnen gleichzeitig die unbedingte Notwendigkeit der Organisierung für den täglichen Kampf sowohl gegen die Ausbeutung durch einzelne Kapitalisten als auch gegen die zaristische Regierung für die politische Freiheit zu erklären. Mit einem Wort, eine ständige Massenagitation hätte die Partei nur in dem Falle anzubahnen vermocht, wenn sie von vornherein ein Programm für den täglichen – ökonomischen und politischen – Kampf besessen hätte, das eben auf die Aktion der Massen berechnet war.

Indem die Partei „Proletariat" dagegen sofort die sozialistische Revolution anstrebte, und das auf eigene Faust, der Arbeiterklasse aber bis zum Moment des Umsturzes die Rolle eines passiven Zuschauers zuwies, hatte sie selbstverständlich nichts, worauf sie die Empörung der Massen, durch die sie überrascht worden war, lenken und worin sie sie realisieren konnte.

Zugleich zeigen die beiden genannten Beispiele durch den bis zu einem gewissen Grade darin enthaltenen Unterschied in treffender Weise, wie in dem Maße, wie sich die Partei von einem mehr sozialdemokratischen Standpunkt entfernte, ihre Verbindung mit den Massen immer mehr schwinden musste.

Im ersten Fall, in der Proklamation an die Arbeiterinnen aus dem Jahre 1883, finden wir zwar nicht die geringsten politischen Schlussfolgerungen aus einem so geeigneten Material, wie es die betreffende Verordnung der Organe der zaristischen Regierung war, aber wir finden wenigstens einen gewissen greifbaren Hinweis für eine praktische Tätigkeit, nämlich einen Appell zur Schaffung von Fabrikvereinigungen und Streikkassen.J

Im zweiten Aufruf zur Demonstration auf dem Schlossplatz im Jahre 1885 finden wir schon überhaupt keine nähere und praktischere Losung mehr; die Partei ruft die Arbeitslosen, die auf den Straßen von Warschau nach Brot und Arbeit rufen, dazu auf, die sozialistische Ordnung zu verwirklichen – selbstverständlich notwendigerweise in einer sehr ungehobelten und demagogischen Form.K

Auf diese Weise verdrängte die Partei selbst die Massen auf ökonomischem wie auf politischem Gebiet vom direkten Kampf, indem sie die Vollmacht, für sie und in ihrem Namen zu handeln, übernahm.

Zwangsläufig beschränkte sich also das „Proletariat", das die Massenagitation unaufhörlich verkündete, in Wirklichkeit immer mehr auf die Zivilpropaganda und im besten Fall darauf, aus der Menge einzelne herauszufischen, um sie der geheimen Parteiorganisation anzugliedern.

Als sich jedoch auf diese Weise der politische Kampf des „Proletariat" auf die Spekulation mit dem „Ausbruch" reduziert und sich ihre Agitation bis zur Zirkelarbeit eingeengt hatte, wurde nach einer gewissen Zeit ihr Schwinden zu einer unvermeidlichen Erscheinung.

Das Schicksal des „Proletariat" beeinflusste besonders noch ein anderer Umstand. Die Verschwörertätigkeit, die auf den Sturz der Regierung und die Machtergreifung gerichtet ist, zeigt den eigentümlichen Zug, dass sie überhaupt nur dort angewendet werden kann, wo sich die zentrale Staatsgewalt, die wichtigsten Regierungsorgane befinden. Die „Machtergreifung" (sachwat wlasti) kann man sich bestenfalls in Petersburg vorstellen, aber nicht in Warschau mit seiner untergeordneten provinziellen Bedeutung im Staatsapparat Russlands. Sofern bei einer solchen Aktion der Provinz während des „Ausbruchs" eine Hilfsrolle zugeteilt werden sollte, so reduzierte sich diese Rolle jedenfalls bis zum Augenblick des „Ausbruchs" auf tatenloses Abwarten und Zirkelpropaganda. Auch der systematische Terror, der die Hauptform der Tätigkeit der „Narodnaja Wolja" war und die Desorganisierung der Regierung zum Ziele hatte, konnte selbstverständlich nur gegen die wichtigsten Vertreter der Zentralgewalt angewandt werden, also nur in der Hauptstadt, nicht aber gegen die provinziellen zweit- und drittrangigen Satrapen, soweit es sich nicht um Strafakte für besondere Ausschreitungen handelte.

Die Sache sieht allerdings ganz anders aus, wenn wir den Standpunkt des Massenkampfes gegen den Zarismus um demokratische Freiheiten, wie ihn die Sozialdemokratie auffasst, einnehmen. Zweifellos kommt auch hier dem eigentlichen Russland vor allem die entscheidende und einflussreiche Rolle zu. Da aber von diesem Standpunkt aus betrachtet nur eine direkte Aktion der Arbeiterklasse selbst den Zarismus stürzen kann, ist also gerade der Kampf des Proletariats auf dem Gesamtgebiet des russischen Staates die unerlässliche Bedingung für einen dauerhaften Sieg. Da andererseits die Arbeiterklasse selbst und nicht eine Handvoll ihrer sozialistischen Verschwöreranführer die Früchte des Sieges über den Zarismus, das heißt die demokratische Freiheit verwirklichen soll, ist auch die Herausbildung des höchsten Grades des klassenpolitischen Bewusstseins in allen Gruppen des Proletariats innerhalb des russischen Staates unbedingt notwendig.

Doch vom Verschwörerstandpunkt waren die polnischen Sozialisten von vornherein zur Untätigkeit verurteilt, zur Rolle passiver Zeugen, die vor den Wagen der russischen „Narodnaja Wolja" gespannt wurden. Dem muss aber noch hinzugefügt werden, dass sich auch die „Narodnaja Wolja" damals, als sich das „Proletariat" mit ihr ernstlich und formell zum gemeinsamen Kampf verband, schon auf der schiefen Ebene befand. Seit dem Attentat auf Alexander II. ist ihre Geschichte ein fortschreitender Verfall, und seit der Mitte der achtziger Jahre lässt sich in der russischen Bewegung der zersetzende Einfluss der unvermeidlichen Zwangslage wahrnehmen, in der die Verschwörerpartei, die keine Kräfte hat, terroristische Attentate durchzuführen, davon zu leben beginnt, dass sie von ihnen spricht oder Versuche unternimmt, sie unter den ungünstigsten Bedingungen auszuführen. Als aber in Russland, wo allein die Aktion stattfinden konnte, ein Vegetieren begann, musste in Polen unfehlbar die Bewegung sehr schnell auf die abfallende Linie geraten. In Wirklichkeit hat das „Proletariat" den Terror, von dem in seiner Agitation der letzten Jahre soviel die Rede war, überhaupt nicht ausgeübt. Die einzigen terroristischen Aktionen waren zwei Attentate: auf den Verräter Sremski und die Tötung der Verräter Helszer und Skrzypczyński. Aber die Beseitigung von Spionen und Verrätern ist, wenn notwendig und möglich, unter den politischen Bedingungen des Zarismus einfach ein Akt der Selbstverteidigung und hat mit dem eigentlichen Programm und der terroristischen Taktik nichts gemein.L

In Wirklichkeit blieb der Terrorismus in der Geschichte des „Proletariat" eine Absicht, und damit war seine politische Aktion beendet.

I In der erwähnten Vereinbarung des Zentralkomitees mit dem Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja" finden wir noch einen prägnanten Absatz: „Auf diese Weise beruht die Tätigkeit der Partei hauptsächlich darauf, unter den Arbeitern das Bewusstsein ihrer klassenmäßigen Besonderheit zu verbreiten, einerseits auf dem Wege der Propaganda des Sozialismus und andererseits auf dem Wege der Agitation unter den Massen auf der Grundlage der nächstliegenden Tagesinteressen und auf dem Wege des organisierten Kampfes um diese Tagesinteressen gegen die privilegierten Klassen und die Regierung, dessen Resultat die Desorganisierung des bestehenden Staatsmechanismus sein muss." (l.c.)

  1. 1 Im Februar 1883 hatte der Warschauer Oberpolizeimeister Buturlin eine Verordnung erlassen, nach der sich alle in der Industrie, im Handel und Gewerbe beschäftigten Frauen ärztlich untersuchen lassen mussten. Durch die einsetzende Agitation, geleitet von der Partei „Proletariat", war die zaristische Regierung gezwungen, die Verfügung aufzuheben.

2 Am 2. März 1885 hatte in Warschau eine größere Demonstration von Arbeitslosen vor dem Schloss, dem Sitz des Generalgouverneurs, stattgefunden. Zaristische Truppen zerschlugen die Demonstration und verhafteten einige Demonstranten.

J „Jede Fabrik, jede Werkstatt, jedes Magazin soll sich zu einem Zirkel zusammenschließen. Richtet Kassen ein, um den wegen Widerstandes verfolgten Genossinnen zu helfen, um in Zukunft scharenweise die Werkstätten verlassen und eure »Herren' zu Zugeständnissen zwingen zu können." Przedświt, Nr. 15 vom 10. April 1883.

K Nach der Erläuterung der ökonomischen Seite der bürgerlichen Wirtschaft und ihrer Anarchie schließt die Proklamation: „Aber genug damit! Auch wir wollen die Rechte eines Menschen haben. Lasst uns den Starken die Privilegien nehmen, lasst uns die gerechte Arbeit (!) und ihr Produkt teilen.

Genossen! Das ist unser Ziel. Es ist schon Zeit, zu begreifen, dass wir es dann erreichen können, wenn wir uns die Hände reichen und gemeinsam und einträchtig gegen unsere Feinde auftreten, denen wir immer kühner und drohender die Stirn bieten können; und obwohl wir den Sieg noch mit vielen Opfern erkaufen werden, so gehört die Zukunft dennoch uns! Im Namen der Menschenrechte rufen wir alle unsere Arbeiterbrüder unter eine Fahne, unter eine Losung ,Freiheit, Fabriken und Boden', rufen wir alle Menschen guten Willens zum Kampf gegen das Joch auf, das die Menschheit bedrückt. Und noch einmal: ,Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"' Walka Klas, Nr. 10/11/12 von Februar/März 1885.

Jeder Sozialist muss die sich darbietenden Massenbewegungen benutzen, um immer die weiteren Perspektiven der endgültigen Befreiung des Proletariats zu zeigen. Aber diese Hinweise nehmen für die Massen nur dann einen realen Wert an, wenn zugleich sichtbar der Weg erklärt wird, der zu diesen weiter entfernten Zielen führt. Dermaßen ungreifbare Losungen dagegen, wie die, die das „Proletariat" verkündete, mussten, wie leicht zu verstehen ist, ein unverständlicher Klang, eine leere Phrase bleiben und vermochten nicht, das Bewusstsein der Massen auch nur um einen einzigen politischen Begriff zu bereichern oder für sie irgendeinen Hinweis für das weitere Vorgehen zu bedeuten. Auf diese Weise mussten sogar derart hervorragende agitatorische Momente wie die beiden obengenannten ohne dauerhafte Folgen für die Bewegung vorübergehen. Umso klarer ist es, dass unter gewöhnlichen Umständen und durch regelmäßige Agitation die Partei „Proletariat" noch weniger imstande war, einen bestimmten Grad politischen Bewusstseins und aktiven Willens unter den breiteren Massen zu erreichen und sie bis zu einem gewissen Grade zu organisieren.

Auch die ökonomische Agitation und Organisation unter den Massen, auf die das „Proletariat" in seinen Schriften so viel Gewicht legte, wurden aus demselben Grunde unmöglich. Vom Standpunkt des Ausbruchs, den die Volksmasse „schweigend" erwartet, verliert ihr ökonomischer Kampf völlig seinen Sinn. In diesem Sinne stellt die Partei auch den Grundsatz in der zweiten Nummer ihrer Warschauer Schrift „Proletariat" im Artikel „Arbeitslosigkeit und Terror" auf: „Da die Arbeitslosigkeit dem Arbeiter so wenig Nutzen bringt, dürfen wir sie nur sehr vorsichtig hervorrufen, nachdem wir alle möglichen Erfolgschancen untersucht und berechnet haben. Wenn aber gegen unseren Willen irgendwo eine Verschwörung ausbricht, müssen wir ihr die Richtung und den Charakter eines energischen Kampfes geben, aber nicht eines Massenkampfes, sondern eines individuellen. Wenn uns der ruhige Kampf den Sieg nicht sichert, müssen wir zum bewaffneten Kampf, zum Terror Zuflucht nehmen." Und etwas weiter: „Die friedliche Arbeitslosigkeit erreicht das Ziel nicht, sie muss von der Bestrafung derjenigen begleitet sein, die die Ursache ähnlicher Vorkommnisse sind und Elend und Bedrückung verbreiten. Die Massen brauchen wir zu einem solchen Kampf nicht aufzurufen, dieser Kampf muss sich aus der individuellen Tätigkeit ergeben, muss den Charakter einer versteckten geheimnisvollen Strafe und Rache annehmen."

L Waryński stellt das in seiner Rede vor Gericht ausdrücklich fest und widerlegt damit die Behauptung des Staatsanwaltes, der dem „Proletariat" die Anwendung von „innerem und äußerem" Terror zugeschrieben hatte: „Unter dem Terrorismus werden solche Gewalttaten verstanden, die gegen Personen gerichtet sind, die ein bestimmtes politisches System repräsentieren. Es ist klar, dass darauf, was dem Herrn Staatsanwalt gefällt, den inneren und äußeren Terror zu nennen, das heißt auf die Tötung von Verrätern und Spionen, die Bezeichnung Terrorismus gar nicht angewandt werden kann. Mit der Existenz einer geheimen Organisation ist die Notwendigkeit verbunden, bestimmte Maßnahmen zum Schutz ihrer Sicherheit zu ergreifen. Das ist bis zu dem Grade natürlich, dass in den Statuten des berühmten Illuminatenordens, dem gekrönte Häupter und sogar Päpste angehörten, ein Paragraph enthalten war, der für Verrat die Todesstrafe vorsah." Z Pola Walki, S. 149.

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