Rosa Luxemburg 19050211 Die Revolution in Russland

Rosa Luxemburg: Die Revolution in Russland

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), I: Nr. 35 vom 11. Februar 1905, II: Nr. 36 vom 12. Februar 1905, III: Nr. 39 vom 16. Februar 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, S. 509-518]

I

Die epochemachenden Ereignisse in Petersburg haben in den Reihen der aufgeklärten deutschen Arbeiterschaft nicht bloß die tiefste Erregung, die brennendste Empörung gegen das mordende Knutenregime und die brüderlichste, wärmste Sympathie für die heroisch kämpfenden russischen Proletarier hervorgerufen. Sie haben auch eine Reihe Fragen aufgeworfen über den Charakter, die Bedeutung, den Ursprung, die Aussichten der russischen revolutionären Bewegung, die nur zu berechtigt sind. Sich vor allem über den inneren Sinn, über den politischen, geschichtlichen Inhalt der Bewegung klarzuwerden – das ist unsere erste Aufgabe. Der alte Liebknecht sagt in seinen Erinnerungen über Karl Marx: für ihn war die Politik vor allem ein Studium.[1] Und Marx sollte darin für uns alle vorbildlich sein. Als Sozialdemokraten sind wir ja und müssen ewige Schüler sein, nämlich Schüler, die bei der großen Lehrmeisterin, der Geschichte, in die Schule gehen. Namentlich ist für uns als revolutionäre Partei jede Revolution, die wir erleben, eine Fundgrube historischer und politischer Erfahrungen, die unseren geistigen Horizont erweitern, uns für unsere Endziele, unsere eigenen Aufgaben reifer machen sollten. So muss auch die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zu den Ereignissen in Russland sich von der Stellung der bürgerlichen Parteien nicht bloß dadurch unterscheiden, dass wir jubeln, wo sie reaktionär geifern oder angstvoll-liberal zwischen Freude und Niedergeschlagenheit hin und her schwanken, sondern vor allem auch dadurch, dass wir den inneren Sinn der Ereignisse vollkommen erfassen und begreifen, wo sie verständnislos nur das Äußere, den materiellen Zusammenstoß der Kräfte, nur den politischen Druck und die Empörung wahrnehmen.

Die wichtigste Frage, die uns als Sozialdemokraten, als die Partei des bewussten Eingreifens in den gesellschaftlichen Lebensprozess naturgemäß am meisten interessieren muss, ist die:

War die Petersburger Revolution ein elementarer, blinder Ausbruch des Volkszornes, oder waren bewusste Leitung und planmäßige Aktion dabei im Spiel? Und wenn ja, welche Faktoren, Klassen, Parteien hier die ausschlaggebende Rolle spielten, welche war namentlich die Rolle der Sozialdemokratie bei dieser Bewegung?

Auf den ersten Blick wird man geneigt sein, die Petersburger Erhebung für eine ganz planlose, blinde Revolte zu halten, die einerseits unter der unmittelbaren Einwirkung der Kriegsereignisse ganz unerwartet für alle hervorgebrochen ist, andrerseits, insofern Führung und bewusster Einfluss dabei in Frage kommen, diese in den Händen von Elementen lagen, die jedenfalls mit der Sozialdemokratie nichts zu tun haben. Ist es doch Tatsache, dass an der Spitze der Petersburger Erhebung ein unter Genehmigung der Gendarmerie gegründeter legaler Arbeiterverein stand, der mit der Absicht gegründet und geduldet wurde, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Und obendrein war dieser Verein wie die ganze Erhebung am 22. Januar von einem Manne geführt, der, ein Gemisch von Prophet und „Demagoge", das deutsche Publikum lebhaft an Tolstoische mystische Gestalten erinnert.

Trotzdem wäre ein Urteil, das sich nur auf diese äußeren Indizien stützen wollte, ein total verkehrtes. An revolutionäre Momente muss man, um sie richtig zu begreifen, von vornherein mit einem richtigen Maßstab herantreten, einem Maßstab, der nicht den friedlichen Zeiten, der Alltags- und Kleinarbeit und namentlich nicht dem Alltag der parlamentarischen Länder entnommen werden darf. Eine wirkliche Revolution, eine große Massenerhebung ist nie, kann niemals ein künstliches Produkt bewusster, planmäßiger Leitung und Agitation werden. Man kann auf eine Revolution hinarbeiten, indem man ihre objektive Notwendigkeit den zu Trägern dieser Revolution bestimmten Klassen der Gesellschaft klarmacht. Man kann die allgemeine Richtung der Revolution vorausbestimmen, indem man möglichst die revolutionären Klassen über ihre Aufgaben, über die sozialen Bedingungen des geschichtlichen Moments aufklärt. Man kann den Ausbruch der Revolution beschleunigen, indem man durch eifrige und geschickte Agitation alle revolutionären Momente der Situation ausnutzt, um die Volksklassen zum politischen Auftreten aufzustacheln.

Aber nimmermehr kann man die Revolution, sobald sie ausgebrochen ist, namentlich in der ersten Phase, nach dem Kommando dirigieren, nimmermehr kann man den elementaren Ausbruch der großen Masse auf einen bestimmten Tag, eine bestimmte Stunde – wie eine Theaterpremiere – ansetzen, und ebenso wenig kann man die auf die Straße stürmenden Massen wie eine Kompanie eingedrillter Soldaten im Parademarsch führen. Die Vorstellung von einer so „geleiteten" Revolution ist schon aus dem Grunde völlig unhistorisch, weil sie den Ausbruch des revolutionären Sturmes erst in einem Moment annimmt, wo die ganze beteiligte Volksmasse bis auf den letzten Mann politisch aufgeklärt und zielbewusst, womöglich gar organisiert ist und der Leitung bestimmter Organe untersteht. Tatsächlich aber warten die Explosionen des Klassenkampfes niemals, bis die „Vorbereitungsarbeit" nach dem obigen Schema hübsch nach dem Schnürchen abgelaufen ist. Die aufgehäufte, aufgespeicherte Menge instinktiver, halb unklarer Klassenopposition ist nämlich im Volke für gewöhnlich viel größer, als die Agitatoren selbst es annehmen. Und die Revolution ist eben selbst die unersetzliche Schule, die erst den Rest der Unklarheit der Masse im Sturme des Kampfes beseitigt und das, was noch gestern vielleicht Instinkt und dunkler Drang der Masse war, im Feuer der Ereignisse zum politischen Bewusstsein hämmert.

Deshalb sehen wir es in allen Revolutionen, dass sie im ersten Augenblick allerlei Überraschungen mit sich bringen, dass allerlei ganz zufällige Einflüsse, zufällige Leiter der letzten Stunde mitspielen und sogar an die Oberfläche kommen, so dass sie dem unkritischen Auge als Führer, als Träger der Revolutionen erscheinen, während sie in Wirklichkeit nur die Getragenen sind. Zu den typischen Erscheinungen solcher Zufallsführer der Revolutionen, die zu schieben glauben, während sie nur geschoben werden, gehört auch zweifellos der Petersburger Priester Gapon, gehört vor allem der ganze mit dem Segen der absolutistischen Regierung gegründete Arbeiterverein. Und es wäre eine unverzeihliche Oberflächlichkeit und Kurzsichtigkeit, wollte man den Charakter der ganzen Petersburger Erhebung danach beurteilen, dass an ihrer Spitze zunächst ein Geistlicher mit einem Kreuz und einem Zarenbilde schritt. Solche angeflogenen Einflüsse, wenn sie sogar im ersten Augenblick in den überlieferten, zurückgebliebenen Anschauungen der großen Masse einen fruchtbaren Boden finden mögen, werden in dem stürmischen Lauf der revolutionären Ereignisse mit rasender Eile überwunden und abgestreift. Die Masse, die gestern noch zarengläubig, vielleicht halb religiös auf die Straße gegangen ist, ist heute schon von allen Illusionen so rasch und gründlich kuriert, wie sie durch Jahre und Jahrzehnte der sozialistischen Agitation nicht hätte kuriert werden können.

In demselben Maße aber, wie solche störenden Beimischungen, solche Überbleibsel einer rückständigen Weltanschauung abgestreift werden – und das ist, wie gesagt, in revolutionären Epochen ein Werk weniger Wochen, ja Tage –, in demselben Maße werden auch zufällige Führer und Einflüsse auf die Seite geschoben, und die Leitung geht naturgemäß immer mehr in die Hände desjenigen festen Kerns der revolutionären Massen über, der von Anfang an die Ziele und Aufgaben klar sieht, d. h. in die Hände der Sozialdemokratie. Sie ist alsdann nämlich die einzige, die ihre Überlegenheit bewahrt, die der Situation gewachsen ist, gerade weil sie die grausam zerstörten Illusionen nicht teilte und nicht nährte, ferner weil sie weiter sieht und der nach der ersten Niederlage gewöhnlich stutzenden und niedergeschlagenen Masse den weiteren Weg zeigt, sie mit Mut und Hoffnung, mit Zuversicht auf das schließliche Gelingen, auf das eiserne Muss der Revolution und ihres Sieges erfüllt.

II

Wenn man von den äußeren Erscheinungsformen, namentlich des ersten Moments der Revolution in Petersburg absieht, so stellt sie sich als eine moderne Klassenerhebung von ausgesprochen proletarischem Charakter dar.

Zunächst ist der Umstand, dass die Petersburger Arbeiter mit der Bitte um politische Freiheiten zum Zaren zogen, in der Hoffnung, von seiner Einsicht und Güte etwas zu erreichen, an sich bei näherem Zusehen gar nicht so wichtig, wie wohl allgemein unter dem ersten Eindruck angenommen wurde. Ausschlaggebend ist nicht die Frage, in welcher Form die Arbeiter ihre Forderungen stellten, sondern die Frage: Welche waren diese Forderungen? Und in dieser Hinsicht ist die Liste der politischen Reformen, die der Petersburger Massenzug der Arbeiter dem Zaren vorlegen wollte, ein unzweideutiger Ausdruck ihrer politischen Reife und des Klassenbewusstseins, denn diese Liste war nichts anderes als die Zusammenfassung der Grundartikel einer demokratischen Verfassung, es war das politische Programm der russischen Sozialdemokratie, ausgenommen dessen Forderung einer Republik.

Diese demokratischen Freiheitsforderungen wurden aber der Petersburger Arbeiterschaft weder durch den Priester Gapon noch durch dessen von Gendarmen geduldeten Arbeiterverein nahegelegt, der gerade zur Aufgabe hatte, alle „Politik" von den Arbeitern fernzuhalten. Diese Forderungen waren das Leitmotiv der politischen Agitation der Sozialdemokratie. Und sogar wenn authentische Berichte von Augenzeugen darüber nicht vorliegen würden, wie in den letzten stürmischen Tagen vor dem 22. Januar in den Versammlungen des Gaponschen Vereins die sozialdemokratischen Arbeiter als Redner auftraten, wie sie durch die Darlegung ihrer Auffassung und ihrer Bestrebungen die Arbeitermasse regelmäßig mitzureißen verstanden hatten und so zu tatsächlichen Führern der Bewegung wurden, auch dann würden die von dem Petersburger Proletariat aufgestellten Forderungen an sich genügen, um uns die Überzeugung beizubringen: Das ist ein Produkt der sozialdemokratischen Aufklärungsarbeit, das ist und kann nur ein Resultat einer jahrzehntelangen Agitation sein, wenn es auch äußerlich als das Werk weniger Tage erscheinen mag.

Aber nicht bloß der Wortlaut der Petersburger Forderungen übertraf schon durch die klare Entschlossenheit und den radikalen Zug die schwächlichen, meist in irgendeinem Punkte zweideutigen Petitionen der liberalen Kongresse, Bankette und Beratungen. Auch der ganze Charakter dieser Forderungen sowie ihrer Motivierung verriet einen ausdrücklich proletarischen Zug. Vergessen wir nicht, dass unter den sofort zu ergreifenden Maßnahmen, die die Petersburger Arbeiter forderten, obenan der Achtstundentag stand. Damit war die soziale Seite der Bewegung und die Klassengrundlage des freiheitlichen Programms ganz unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Ja in der Bittschrift an den Zaren selbst, die als Einleitung zu den Forderungen entworfen war, klingt als stärkste Note der Gegensatz zu den kapitalistischen Ausbeutern; die Notwendigkeit der politischen Reformen wird ausdrücklich und dem ganzen Sinne nach mit der Klassenlage der Arbeiterschaft begründet, mit der Notwendigkeit, politische und rechtliche Bewegungsfreiheit zu haben, um den Kampf mit der Ausbeutung des herrschenden Kapitals führen zu können.

Hierin liegt ein außerordentlich wichtiges Moment zur Beurteilung der ganzen Bewegung in Russland. Man ist in Westeuropa im allgemeinen leider zu sehr geneigt, nach der historischen Schablone die jetzige Revolution des Zarenreiches als eine ihrem Sinne nach rein bürgerliche Revolution zu betrachten, wenn sie auch durch besonderes Zusammentreffen sozialer Momente durch die Arbeiterklasse ins Werk gesetzt und ausgefochten wird. Die Vorstellung, als handelte das Proletariat gegenwärtig in Russland sozusagen in bloßer historischer Vertretung der Bourgeoisie, ist eine völlig irrige. Solche einfachen mechanischen Stellenwechsel von Klassen und Parteien im geschichtlichen Prozess – wie in der Quadrille – existieren gar nicht, und durch den Umstand selbst, dass es heute in Russland die Arbeiterklasse, und zwar eine in hohem Maße klassenbewusste, von der Sozialdemokratie seit vielen Jahren systematisch aufgeklärte Arbeiterklasse ist, die um die bürgerliche Freiheit kämpft, bekommt auch der Charakter dieser Freiheit und dieses Kampfes um sie eine ganz eigentümliche Physiognomie. Es ist nicht mehr, wie es seinerzeit in Frankreich, in Deutschland und überall in den bürgerlichen Ländern war, ein Kampf um die rechtlichen und politischen Garantien für eine ungehinderte wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus und politische Herrschaft der Bourgeoisie im Lande, sondern ein Kampf um die politischen und rechtlichen Garantien eines ungehinderten Klassenkampfes des Proletariats gegen die wirtschaftliche und politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Freilich, formell wird auch im schließlichen Ergebnis der jetzigen revolutionären Epoche in Russland nicht etwa die Arbeiterklasse, sondern die Bourgeoisie die Zügel des Staates, die politische Herrschaft ergreifen. Aber diese Situation selbst wird in Russland in unvergleichlich höherem Maße als z. B. nach der Märzrevolution in Deutschland von vornherein in sich einen tiefgehenden Zwiespalt, einen Widerspruch bergen, der für die weitere politische Entwicklung Russlands bestimmend wird. Ferner aber kann auch der Verlauf der revolutionären Periode, an deren Anfang wir erst gegenwärtig stehen, einen für die Sozialdemokratie besonders wichtigen und verwickelten Verlauf nehmen.

Angesichts einer solchen Macht an Klassenbewusstsein und Organisation, wie die Revolution seit dem 22. Januar im ganzen Reiche entfaltet hat, angesichts dessen, dass seit dem ersten Blutbad in Petersburg die ganze Bewegung nunmehr zweifellos in den Händen der Sozialdemokratie liegt – sowohl in Petersburg wie in der Provinz, wie auch in Russisch-Polen und Litauen und im Kaukasus –, kann der weitere Verlauf der Revolution – die nicht nach Wochen, sondern nach Jahren gerechnet werden muss – unmöglich dieselben Bahnen wandeln wie z. B. im „tollen Jahre" in Deutschland. Die Arbeiterklasse, also auch die Sozialdemokratie, wird berufen sein, in viel entscheidenderer Weise in die Ereignisse einzugreifen, für das Proletariat viel mehr die unmittelbaren Klassenforderungen durchzusetzen zu suchen, als es je in einer bürgerlichen Revolution möglich und der Fall gewesen war. Um diesen weiteren Verlauf der Bewegung sowie deren Zusammenhang mit ihrem Ausgangspunkt, der Petersburger Revolte, zu begreifen, ist es gleichermaßen notwendig, bereits den ersten Ausbruch der Revolution nicht nach ihren zufälligen und vorübergehenden Erscheinungsformen, sondern in ihrem inneren Sinn und Inhalt zu erkennen: als die Klassenerhebung eines in hohem Maße aufgeklärten modernen Proletariats.

III

Schon die erste Periode der Revolution im Zarenreich, die wir soeben erlebt haben, hat der Arbeiterklasse innerhalb der Gesellschaft eine Stellung der führenden Klasse erobert und gesichert, und zwar in einem Maße, wie es in keiner der bisherigen Revolutionen der Fall war. Freilich waren auch die modernen Revolutionen in Frankreich, in Deutschland, in den westeuropäischen Ländern das Werk des arbeitenden Volkes. Sein Blut floss auf den Straßen von Paris, Berlin und Wien, seine Söhne fielen auf den Barrikaden, seine Opfer haben den Sieg der modernen Gesellschaft über den mittelalterlichen Feudalismus erkauft. Aber die arbeitenden Massen waren hier bloß Hilfstruppen und das Werkzeug der bürgerlichen Revolution. Den Geist, die Richtung, die Führung der Revolution bestimmte jedes Mal das Bürgertum, und seine Klasseninteressen waren auch geschichtlich die treibende Kraft der revolutionären Erhebungen.

Gegenwärtig in Russland sehen die Dinge völlig anders aus. Freilich gibt es und gab es seit jeher auch im Zarenreich bürgerliche oppositionelle Strömungen und Gruppen. Im eigentlichen Russland war es der Liberalismus, in der westlichen Zone des Reiches die nationale Opposition, die vor allem in Polen einst zu zwei mächtigen Aufständen – im Jahre 1831 und 1863 – geführt hat. Allein gerade die Geschichte der letzten Periode des Kampfes mit dem Zarismus hat die vollkommene Ohnmacht dieser beiden Bewegungen erwiesen.

Der russische Liberalismus, „bürgerlich" mehr im Sinne des Nichtproletarischen, war seit jeher – und ist bis auf den heutigen Tag geblieben – nicht der Ausdruck der kapitalistisch-bürgerlichen Entwicklung, sondern vielmehr der Opposition einerseits des agrarischen Adels, der als Getreide exportierende Klasse am Freihandel interessiert und gegen die extreme Schutzzollpolitik des Absolutismus aufgebracht ist, die ihn mit teuren landwirtschaftlichen Maschinen und erschwertem Absatz im Auslande bedacht hat, der zugleich durch die stupide Wirtschaft der Bürokratie auf Schritt und Tritt gehemmt und gereizt wird. Andrerseits tritt hier die Opposition der städtischen bürgerlichen Intelligenz hinzu, die durch die asiatische Niederknüttelung der freien wissenschaftlichen Forschung, der Presse, des ganzen geistigen Lebens empört ist und auch durch die furchtbare materielle Verelendung der breiten Volksschichten gegen das herrschende Regime äußerst erbittert ist. Schließlich treten auch noch verschiedene Teil- und Sonderinteressen der bürgerlichen Schichten und Gruppen hinzu: die städtischen und ländlichen Selbstverwaltungskörper, die in ihrer Bewegungsfreiheit durch das plumpe Dreinschlagen der herrschenden Kamarilla vollkommen lahmgelegt werden. Aus allen diesen Elementen kam in der jüngsten Periode eine liberale Gärung zustande, in die sich seit dem Kriege zweifellos auch ein ganz ernst gekränkter „Patriotismus" mischte und die nach außen sogar eine Zeitlang ziemlich imposant wirken konnte.

Allein, wie wenig diese liberale Gärung an sich von einem ernsten, kräftigen Klasseninteresse irgendeiner bürgerlichen Klasse getragen, wie wenig sie an sich dem Absolutismus gefährlich war, zeigt die Behandlung, die ihr von diesem letzteren zuteil wurde. Nach einer kurzen „liberalen" Spielerei der Periode Swjatopolk-Mirski[2] tat der Despotismus den ganzen liberalen „Frühling" mit einer kurzen Randglosse ab, die Nikolaus II. auf eine konstitutionelle Bittschrift der Semstwos mit Bleistift kritzelte, indem er sie als „taktlos und frech" bezeichnete. Damit basta! Die liberalen Bankette, Reden und Beschlüsse wurden einfach untersagt, und der adelig-intellektuelle Liberalismus war ganz aus der Fassung gebracht, stand ganz perplex und ratlos da. Es bleibt Tatsache und muss mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, dass einen Augenblick, bevor die proletarische Erhebung in Petersburg ausbrach, die liberale Gärung in einen Stillstand geraten war und sich sichtlich durch das kräftige Auftrumpfen des Absolutismus ganz gelähmt fühlte. Wäre die Arbeiterklasse nicht unerwartet auf dem Plane erschienen, der Liberalismus hätte zum soundso vielten Male wieder die Segel gestrichen, und die ganze oppositionelle Periode hätte mit einem spielenden Triumph des Absolutismus geendet. Mit einem Male änderte sich dann die ganze Szenerie. Der Zarismus, der eben erst mit Selbstüberhebung die ganze Kampagne des Liberalismus en Canaille traktieren und wie einen Dummejungenstreich als „frech" abkanzeln konnte, wurde beim ersten Auftreten der proletarischen Masse erdfahl vor Schreck und wusste, als die Arbeiter sich erst kaum zum „Bitten" anschickten, dass es sich nunmehr für ihn um Sein oder Nichtsein handelte. Und er spielte sofort beim ersten Zug auch schon den letzten Trumpf aus: den Massenmord, die offene Schlacht gegen das Proletariat. Damit hat sich die freiheitliche Bewegung mit einem Schlag in eine direkte Auseinandersetzung zwischen dem Absolutismus und der Arbeiterklasse verwandelt, wobei der bürgerlich-adelig-intellektuelle Liberalismus auf den zweiten Platz zurückgedrängt wurde.

Noch mehr ist dies der Fall in den nichtrussischen Provinzen des Zarenreiches, namentlich in Polen. Hier ist der Nationalismus als eine starke oppositionelle Bewegung des Adels schon seit dem letzten Aufstand im Jahre 1863 selig entschlafen. Die seit den 60er Jahren in Kongresspolen mächtig emporgekommene kapitalistische Produktionsweise hat nicht nur den Adel in seinen separatistischen Bestrebungen gebrochen, sondern eine moderne Bourgeoisie an die Spitze der Gesellschaft gestellt, die im Interesse der kapitalistischen Profitmacherei zur treuesten und eifrigsten Stütze des russischen Zarismus wurde. Immerhin spukten noch die nationalen Überlieferungen, wenn auch völlig jeder aktiven lebendigen Macht entkleidet und in ganz verschwommener Gestalt, in den Sphären des Kleinbürgertums und der städtischen Intelligenz. Die jüngste revolutionäre Periode im Zarenreich wurde zur Feuerprobe auch für diese Überreste einer nationalen Opposition. Es stellte sich heraus, dass nicht einmal ein Schimmer von einer politischen lebendigen Regung in diesen Überlieferungen geblieben war. Es liegt auf der Hand, dass, wenn irgendein Augenblick für das Hervortreten einer nationalen Bewegung geeignet, ja wie geschaffen war, es eben die Periode der inneren liberalen Gärung im eigentlichen Russland sein musste. Jetzt galt es mitzureden, mit zu protestieren, die allgemeine Erregung für die nationalen Bestrebungen auszunutzen. Nichts von alledem ist eingetreten. In der Periode der offenen liberalen Proteste, Bankette und Beschlüsse war gerade Polen die einzige Provinz des Zarenreichs, in der die Bourgeoisie, der Adel und die Intelligenz sich gleichmäßig passiv verhielten, wo keine laute Stimme, sei es nur. liberaler Bestrebungen, aus irgendeiner bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Schicht hervor tönte.

Und erst mit der allgemeinen Erhebung der polnischen Arbeiterklasse, einer rein proletarischen Erhebung der Solidarität mit dem Petersburger Proletariat, ist auch Kongresspolen in den allgemeinen revolutionären Strom des Zarenreichs hineingeraten. Und diese Erhebung war genauso frei von nationalem Separatismus wie die Erhebung des jüdischen, des lettischen, des armenischen Proletariats in den letzten Wochen. Es war eine einheitliche moderne Klassenbewegung von rein politischem Charakter, die alle Arbeitergruppen des Zarenreichs zu einem Kampfheer gegen den Despotismus zusammenfasste und der Arbeiterklasse als dem einzigen revolutionären und politisch aktiven Faktor die Führung in der Gesellschaft gesichert hat.



[1]             Siehe Wilhelm Liebknecht: Karl Marx zum Gedächtnis. Ein Lebensarbeit und Erinnerungen. In: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin 1964, S. 77.

[2]             Von August 1904 bis Januar 1905 war P. D. Swjatopolk-Mirski Innenminister Russlands und betrieb stur Abschwächung der heranwachsenden revolutionären Krise eine Politik des Lavierens. Er machte dei liberalen Opposition einige Zugeständnisse: unbedeutende Milderung der Zensur, teilweise Amnestie und Genehmigung zu» Durchführung von Semstwokongressen.


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