Rosa Luxemburg 19100809 Der Kampf gegen Reliquien

Rosa Luxemburg: Der Kampf gegen Reliquien

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 9. August 1910. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 599-603]

Vorbemerkung: Der folgende Artikel ist von der „Neuen Zeit" abgelehnt worden. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die „Leipziger Volkszeitung" um Gastfreundschaft zu bitten für Ausführungen, die aktuellen Charakters sind und eine der wichtigsten Fragen behandeln, die in Magdeburg zur Debatte stehen. R. L.

Nachdem mich die Redaktion der „Neuen Zeit" beschuldigt hat, dass ich die Wichtigkeit meines Artikel „Die Theorie und die Praxis" überschätze, weil ich nicht in seinen Abdruck erst nach dem Parteitag willigte, um ihn, wie die Franzosen sagen, als Senf nach der Mahlzeit zu servieren, macht sie sich selbst einer noch ärgeren Überschätzung meiner Ausführungen schuldig, indem sie in der gleichen Nummer den Leitartikel wenigstens einer teilweisen Beantwortung dieser Ausführungen widmet. Sieht man sich jedoch diese Antwort an, so möchte man beinahe bedauern, dass die Redaktion nicht ihren hochherzigen Entschluss auch in diesem Teil eingehalten und die Entgegnung „um einige wenige Wochen" hinausgeschoben hat. Gut Ding will manchmal gute Weile haben. Die Beweisführung des Leitartikels scheint mir leider viel weniger gut als erstaunlich zu sein, da er aber in einer wichtigen Frage verwirrend zu wirken geeignet ist, die auch bei dem badischen Parteistreit in Magdeburg eine große Rolle spielen wird, so darf er nicht unwidersprochen bleiben.

Der Leitartikel: „Der Kampf gegen die Monarchie"1 sucht meine Behauptung zu entkräften, dass die „Neue Zeit" und der „Vorwärts" eine wichtige Unterlassung begangen hätten, als sie verabsäumten, bei der Behandlung der Erhöhung der preußischen Zivilliste die Losung der Republik hervorzukehren. Diese meine Forderung würde Marx „polternde Ausbrüche einer eingebildeten Demagogie" genannt haben, meint der Leitartikel. Weshalb? Man höre und staune: Deshalb, weil in den 40er Jahren in Deutschland ein wunderlicher Kauz von einem kleinbürgerlichen Demokraten lebte, Karl Heinzen mit Namen, der als echter und rechter kleinbürgerlicher Demokrat die Republik für das Alpha und Omega, für die Lösung aller sozialen Fragen hielt, und gegen die sozialistische Agitation knurrte, die angeblich von der Hauptsache, wollte sagen vom Kampfe mit der Monarchie ablenkte. Diesen Kauz belehrte denn auch Marx vor 60 Jahren: Die Arbeiter brauchen die Republik, sie teilen aber trotz alledem die bürgerlichen Illusionen des Herrn Heinzen nicht. „Sie können und müssen die bürgerliche Revolution als eine Bedingung der Arbeiterrevolution mitnehmen. Sie können sie aber keinen Augenblick als ihren Endzweck betrachten."

Weil also vor 60 Jahren ein Herr Karl Heinzen in der Republik den Nabel der Welt erblickte, sie als den „Endzweck" des Kampfes betrachtete, darf heute, 60 Jahre später, die Sozialdemokratie, die in der Republik weder den Nabel der Welt noch den Endzweck des politischen Kampfes, sondern eine unter ihren zehn politischen Programmforderungen erblickt, diese Programmforderung nicht ebenso gut in der Agitation vertreten, wie die neun übrigen Forderungen auch!

Herr Karl Heinzen ist gestorben und vermodert, die deutsche Bourgeoisie ist auf den Hund gekommen, von bürgerlichen Republikanern und kleinbürgerlichen Demokraten mitsamt ihren Illusionen ist nicht einmal eine Erinnerung geblieben, und hätten wir nicht den Leitartikel der „Neuen Zeit", der in dankenswerter Weise von Zeit zu Zeit aus dem reichen Schatz der Vergangenheit irgendeine Reliquie ans Licht zieht, so würde die Welt wahrscheinlich nicht einmal ahnen, dass es in Deutschland je eine solche Spezies wie bürgerliche Republikaner gab. Und da soll heute nach 40jähriger Tätigkeit der Sozialdemokratie die bloße Hervorhebung unserer republikanischen Forderung bei den Arbeitern unweigerlich die Illusion des Herrn Karl Heinzen erwecken, ihnen „die Ziele des proletarischen Klassenkampfes verschleiern" und „den trügerischen Schein hervorrufen", als sei für die Sozialdemokratie die Republik „der Endzweck", der Nabel der Welt! … Heute, 60 Jahre nach der Märzrevolution, sollen wir unsere Agitation nach der Gefahr orientieren, die Karl Heinzen selig für das Klassenbewusstsein der Arbeiter im tollen Jahre bildete, nicht nach den leibhaftigen bürgerlichen Parteien des gegenwärtigen Deutschland, die sich nicht in republikanische Illusionen „verbeißen" wie der Selige, sondern in Speichelleckerei vor dem Throne!

Durch vierzig Jahre dieser gründlichen Aufklärungsarbeit", schrieb ich in meinem von der „Neuen Zeit" abgelehnten Artikel, „ist es denn auch gelungen, die Überzeugung zum ehernen Besitz der aufgeklärten Proletarier in Deutschland zu machen, dass die beste bürgerliche Republik nicht weniger ein Bollwerk der kapitalistischen Ausbeutung ist, wie eine heutige Monarchie, und dass nur die Abschaffung des Lohnsystems und der Klassenherrschaft in jeglicher Gestalt, nicht aber der äußere Schein der ,Volksherrschaft' in der bürgerlichen Republik die Lage des Proletariats wesentlich zu verändern vermag.

Allein gerade weil in Deutschland den Gefahren republikanisch-kleinbürgerlicher Illusionen durch die vierzigjährige Arbeit der Sozialdemokratie so gründlich vorgebeugt worden ist, können wir heute ruhig dem obersten Grundsatz unseres politischen Programms in unserer Agitation mehr von dem Platze einräumen, der ihm von Rechts wegen gebührt."

Kann man deutlicher hervorheben, dass es mir nicht darauf ankommt, die Republik als den „Endzweck" hinzustellen? Und kann man schlagender beweisen, dass der Leitartikel der „Neuen Zeit" mit seinen Warnungen, Erklärungen und Zitaten nicht mich, sondern einzig und allein die alten Knochen Karl Heinzens zerschmettert –, ein um so seltsamerer Genuss, als der arme Teufel bei seinen Lebzeiten schon Karl Marx' mächtige Tatze zu spüren bekam und daran wohl auch im Schattenreich für alle Zeiten genug hat.

Was soll man nun weiter dazu sagen, wenn der Leitartikel uns belehrt, dass nicht „die Klassengesellschaft um die Monarchie als ihren Schwerpunkt kreist", sondern „dass die Monarchie je nachdem das bequemste Werkzeug der Klassenherrschaft ist"? Der zweite Schriftführer unseres Wahlvereins in Buxtehude kann über dieses Thema einen glänzenden Vortrag ohne sonderliche Vorbereitung halten. Es ist also das Abc der sozialdemokratischen Auffassung. Folgt aber daraus, dass wir gegen die Monarchie nicht agitieren sollen, weil sie bloß „ein Werkzeug" und nicht der „Schwerpunkt" der Klassenherrschaft ist? Oder folgt daraus, dass man unmöglich für die Republik agitieren könne, ohne sofort die Vorstellung zu erwecken, als ob die Monarchie der Schwerpunkt der Klassenherrschaft wäre? Der Militarismus ist nicht der Schwerpunkt, sondern bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Die Schutzzölle sind nicht der Schwerpunkt, sondern bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft, die Kolonialpolitik ist nicht der Schwerpunkt, sondern bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Die indirekten Steuern sind nicht der Schwerpunkt, sondern bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Trotzdem agitieren wir tagein, tagaus gegen den Militarismus, die Schutzzölle, die Kolonialpolitik, die indirekten Steuern. Und wenn wir dies alles können, ohne in die Illusion bürgerlicher Friedensapostel, bürgerlicher „Freihandelshausierburschen", bürgerlicher „Negerfreunde" und bürgerlicher Steuerreformer zu verfallen, so können wir genau so gut republikanische Agitation treiben, ohne Karl Heinzens Gespenst heraufzubeschwören.

Dafür noch eine Stichprobe.

Der ,Vorwärts' und die ,Neue Zeit'", heißt es im Leitartikel der ,Neuen Zeit', „haben die Erhöhung der Zivilliste allerdings auch von der politischen Seite bekämpft: als eine neue Belastung der ohnehin bis auf die Haut und Knochen ausgepowerten Volksmassen, als einen Anspruch der Monarchie, der sie diesen Volksmassen um so unerträglicher macht. Aber darüber hinaus sind sie nicht gegangen, aus dem einfachen Grunde nicht, um die Ziele des proletarischen Klassenkampfes nicht zu verschleiern, um nicht den trügerischen Anschein hervorzurufen, als ob es sich bei der Frage: Monarchie oder Republik? darum handele, dass jene etwas kostspieliger und diese etwas wohlfeiler wirtschaftet." (Gesperrt von R. L.)

Ja, hat denn irgend jemand verlangt, dass unsere leitenden Organe bei der Behandlung der Zivilliste nachgewiesen hätten, die Monarchie sei kostspieliger als die Republik? Wäre das republikanische Agitation im sozialdemokratischen Sinne? Aber nein, aber nein doch, lieber und verehrter Leitartikel! Es ist nun wieder Karl Heinzen, der bei dieser Vorstellung seine armen geschundenen Knochen im Grabe umdreht. Was ich zu kritisieren suchte, war ja gerade die ausschließliche Hervorhebung der Kostenseite der Frage, während den Vertretern der Zivilliste und ihren bürgerlichen Anhängern meines Erachtens hätte erklärt werden sollen: Nicht darum stimmen wir gegen die Zivilliste, weil sie uns zu viel Geld aus der Tasche zieht, sondern weil wir Gegner der Monarchie sind; und würde sie uns halb so viel kosten, nicht geschenkt wollen wir sie haben; an dem Tage, wo wir sie los wären, sind wir bereit, mit Freuden 15 Millionen zu irgendeinem wohltätigen Zweck, meinetwegen für ein Idiotenheim, zu votieren. Die teuerste Republik ist uns lieber als die billigste Monarchie, weil dies für uns überhaupt keine Geldfrage, weil uns die Monarchie das rückständigste, die Republik aber das fortschrittlichste Werkzeug der Klassenherrschaft ist. Je fortschrittlicher aber die Formen der Klassenherrschaft, um so näher ihr Ende mit Schrecken.

Wer ein verfallendes Gemäuer niederreißt, sorgt hinlänglich dafür, dass der Adler, der auf dessen First horstet, sich, wo er sonst mag eine neue Stätte suchen muss. Aber das ganze Geschütz auf das Nest des Adlers konzentrieren, heißt mit Kanonen auf, nun ja, auf Adler schießen."

Ein schönes Bild, ein erhabenes Bild. Aber leider nicht ganz zutreffend. Heinrich Heine – der Leitartikel bringt mich mit seinem reizenden Zitat über die „Süße" ganz von selbst auf die Erinnerung an Heine – hat das Bild vom „Adler" viel richtiger gezeichnet. In seinem ersten Traum auf deutschem Boden nach der Rückkehr aus dem Exil sieht er den Adler (die Quaste am Betthimmel) auf seiner Brust sitzen und mit krummem Schnabel nach seinem Herzen zielen. Um im Bilde des Leitartikels zu bleiben: der Adler horstet leider nicht auf dem First in Wolkenregionen, sondern er „horstet" auf dem Leib des Proletariats und hackt ihm mit seinem krummen Schnabel in die Brust. Und wer ein verfallenes Gemäuer niederreißt und dabei immerzu durch die Angriffe des krummen Schnabels gestört wird, der wird gut tun, hin und wieder dem „hässlichen Vogel" zwischen der Arbeit so kräftig eine über Kopf und Flügel zu geben, dass die Federn stieben. Einer so „luftigen" Vorstellung von der Monarchie, wie sie der Leitartikel zeigt, hat denn doch selbst Karl Heinzen, der vulgäre Demokrat, nicht gehuldigt, wofür wir ja das bereits von mir zitierte Zeugnis Karl Marx' besitzen:

Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das hundertjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, dass gerade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist, selbst sie steht noch berghoch über solcher Art Demokratentum Innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und des logisch Unerlaubten.''

Der Leitartikel hat noch eine ernste Seite. Neulich hieß es in der „Neuen Zeit", die republikanische Agitation stoße auf polizeiliche Hindernisse und sei deshalb unstatthaft. Jetzt erfahren wir, dass die republikanische Agitation gar mit dem Klassenstandpunkt der Sozialdemokratie unvereinbar sei. Es ist dies eine Auffassung, die schon bedenklich an die Quesselsche heranrückt, eine Auffassung, mit der auch Genosse Wetzker seiner Zeit in dem von ihm redigierten Bochumer Parteiorgan unserem Dortmunder Blatt in den Rücken fiel, als dieses zur Begrüßung des Kaisers in Dortmund eine scharfe republikanische Agitation entfaltet hatte. Der Leitartikel der „Neuen Zeit" beweist also mit betrübender Klarheit, eine wie große Verwirrung in unserer Partei in Bezug auf die republikanische Losung herrscht, wie sehr diese Seite der Agitation vernachlässigt worden und wie dringend notwendig eine klipp und klare Stellungnahme zu der Frage ist. Der Magdeburger Parteitag kann hier nützliche Arbeit verrichten, schon aus Rücksicht auf die badischen Hofgänger muss er sie verrichten.

1 Erschienen in der „Neuen Zeit" vom 29. Juli 1910.

Kommentare