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Franz Mehring 19120309 Präsidial- und andere Fragen

Franz Mehring: Präsidial- und andere Fragen

[“Die Neue Zeit”, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 833-837. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 580-584]

9. März 1912

Das Ziel aller patriotischen Sehnsucht ist erreicht und der erste sozialdemokratische Vizepräsident von seinem erhabenen Sessel gestürzt worden. Genosse Scheidemann besaß den guten Geschmack, sich mit einem lustigen Worte zu verabschieden, und in derselben frohen Stimmung darf auch die Partei sein. Sie verliert nichts an einer bedeutungslosen Würde, aber die Art, wie einen Monat lang darum gerungen worden ist, ihr selbst diesen Flitter zu entreißen, zeigt nur, wie sehr sie gefürchtet ist und wie sehr sie im Mittelpunkt der Dinge steht.

Im Grunde lief das Ringen auf einen Kampf zwischen dem schwarzblauen Block und der Sozialdemokratie hinaus. Dank dem nationalliberalen Umfall haben die Ritter und die Heiligen den Genossen Scheidemann aus dem Präsidium gedrängt, dagegen haben sie selbst die Schlacht verloren, die sie um ein schwarzblaues Präsidium kämpften. Dann aber haben die beiden harten Mühlsteine, indem sie sich aneinander rieben, das, was zwischen ihnen liegt, für diesmal nicht verquetscht, sondern in die Höhe gequetscht. Das neue Präsidium, das nunmehr endgültig für die Dauer der Session gewählt worden ist, besteht aus den beiden Fortschrittlern, die bisher schon darin saßen, und dazu dem Nationalliberalen Paasche, der an die Stelle Scheidemanns getreten ist. Die beiden liberalen Fraktionen, die hinter diesem Präsidium stehen, zählen noch nicht hundert Mitglieder, bilden also noch nicht den vierten Teil des Reichstags. Herr Kämpf verdankt seinen Sitz den sozialdemokratischen Stimmen, und die beiden Vizepräsidenten verdanken die ihrigen den Stimmen des schwarzblauen Blocks.

Damit sind die Sonderbarkeiten dieses sonderbaren Präsidiums aber noch nicht erschöpft. Herr Dove ist, da die Konservativen und die Ultramontanen ihn auf den Schild erhoben, aus Angst vor dem gefürchteten Scheidemann gegen seine eigene Fraktion gewählt worden, die für den sozialdemokratischen Vizepräsidenten stimmte. Er war loyal genug, um sich zur Ablehnung dieser Wahl zu entschließen, und hat sie nur angenommen, weil nicht allein seine eigene, sondern auch die sozialdemokratische Fraktion damit einverstanden war. Insofern hat er den verhältnismäßig kühlsten Platz unter den drei Männern im feurigen Ofen. Viel schlimmer ist Herr Kämpf daran. Er ist bekanntlich nur mit sieben Stimmen Mehrheit gegen den sozialdemokratischen Gegenkandidaten gewählt worden, und wenn man den Versicherungen der schwarzblauen Presse trauen darf, deren lautere Gerechtigkeitsliebe ja außer Zweifel steht, so sind so viele berechtigte Proteste gegen seine Wahl erhoben worden, dass deren baldige Ungültigkeitserklärung keinem Zweifel unterliegt. Der Sturz eines Präsidenten durch Kassierung seiner Wahl wäre denn freilich ein Novum im parlamentarischen Leben, und die reaktionären Biedermänner reiben sich auch schon vergnügt die Hände.

Unter diesen Umständen fehlt einem wirklich das zutreffende Wort für die Triumphgesänge, die das liberale Zeitungsgeschwister über das “liberale Reichstagspräsidium" anstimmt. Zum Beispiel das “Berliner Tageblatt" findet nunmehr festgestellt, dass der Schwerpunkt der deutschen Politik bei den Liberalen liege, und es beglückwünscht Herrn Dove, weil er zugleich Vertrauensmann der Rechten und der Linken sei. Glauben denn diese Leute wirklich, dass man solche sinnlose Rodomontaden nicht auslacht, hüben wie drüben, bei den Roten wie bei den Schwarzblauen, die, so weltenfern sie sich stehen, doch wenigstens darin einverstanden sind, dass sie Politik zu treiben wissen? Oder soll durch diese öden Laute das peinliche Schweigen vertuscht werden, das die freisinnige Presse in der nunmehr eröffneten Diskussion über das fortschrittlich-sozialdemokratische Stichwahlabkommen beobachtet?

Wie unseren Lesern bekannt sein wird, hat die Genossin Luxemburg dies Abkommen in vier glänzend geschriebenen und vortrefflich durchdachten Artikeln der “Leipziger Volkszeitung" einer in der Form sehr maßvollen, aber in der Sache äußerst scharfen Kritik unterzogen. Darauf hat der Parteivorstand im “Vorwärts" ebenfalls in vier Artikeln geantwortet, nach viel zu langem Schweigen, und hat endlich — soweit es nicht schon die Genossin Luxemburg getan hatte — volles Licht über jenes Abkommen verbreitet, das der profanen Parteiwelt bisher nur in schwankenden Umrissen bekannt war. Auch die Antwort des Parteivorstandes ist sehr gut zu lesen, und namentlich ist sie taktisch sehr geschickt, indem sie nicht sowohl auf Freisprechung plädiert, sondern nur auf mildernde Umstände, die in der Tat dem Angeklagten nicht wohl versagt werden können.

Die Genossin Luxemburg hat in ihren sonst erschöpfenden Artikeln einen entscheidenden Gesichtspunkt nicht genug gewürdigt oder selbst ganz übersehen: den Gesichtspunkt nämlich, dass, wenn die Fortschrittler mit dem Vorschlag eines Stichwahlabkommens an den Parteivorstand herantraten, dieser unmöglich von vornherein nein sagen konnte. Wir sehen von den Einzelheiten des Abkommens ab, der Gewinnung von Mandaten, der Beseitigung oder Schwächung des schwarzblauen Blocks usw.: Nachdem wir aber jahrzehntelang die Fortschrittler wegen ihrer verräterischen Taktik in der Stichwahl verhöhnt und ihnen erklärt hatten, wenn sie ehrliche Politik treiben wollten, so würden wir sie gern unterstützen, so können wir ihnen, wenn sie aus freien Stücken sich zu einer ehrlichen Politik erbieten, nicht ohne weiteres die Tür weisen, gleichviel aus welchen Gründen sie kommen, und selbst dann nicht, wenn wir der angebotenen Freundschaft nicht über den Weg trauen.

Soviel über die Generalia des Abkommens. Anders steht es um seine Spezialia, über die wir Profanen jetzt erst durch die Aufsätze der Genossin Luxemburg und des Parteivorstandes hinreichend unterrichtet sind. Man kann gewiss auch hier dem Parteivorstand manches zugute halten. Wenn er den Fortschrittlern erstens gestattete, dass sie — statt sich auf die Jenaer Bedingungen zu verpflichten — sich statt dessen einfach auf ihr Parteiprogramm berufen durften, und zweitens auch noch, dass sie ihre Anhänger nicht zur Abstimmung für die sozialdemokratischen Kandidaten, sondern nur zur Abstimmung gegen die schwarzblauen Kandidaten auffordern durften, so mag er gedacht haben: Na, der biedere Freisinn ist nun einmal kein “Wüstenross aus Alexandria", sondern ein Renner, den Boileau geschult:

Er weiß, dass eitler Mut ihm weder ziemt noch frommt,

So schnäufelt er, und hebt die Hüflein, springt und kommt

Ans andre Ufer wohlbehalten.

Also dem spatlahmen Gaul ein wenig ans andere Ufer zu helfen mag noch angehen. Allein es ging über die erlaubte Grenze hinaus, als dem Ansinnen der Fortschrittler nachgegeben wurde, ihnen 16 Wahlkreise zu überlassen, in denen sie mit unseren Leuten stachen. Sie machten diese Bestimmung zur conditio sine qua non des Abkommens, indem sie argumentierten: In diesen Wahlkreisen würden wir sonst durch Hilfe der Reaktionäre siegen; wenn wir uns diese Hilfe durch unser Abkommen mit euch verschlagen, so seid ihr uns dafür eine Entschädigung schuldig. Mit anderen Worten: Die Bankrotteure spielten gar noch die Erpresser, dieselben Leute, die sich, wie die Genossin Luxemburg mit Recht hervorhebt, vor sittlicher Entrüstung über eine angebliche “Erpresserpolitik" die Haare ausrauften, als ihnen zugemutet wurde, für die 400 Millionen Mark indirekter Steuern, die sie der Regierung bewilligen wollten, auch einige konstitutionelle Zugeständnisse von der Regierung zu beanspruchen. Oder um ein Beispiel aus dem gewöhnlichen Leben anzuziehen: Wenn X einige Jahrzehnte lang mit Y Schwindelgeschäfte auf Kosten von Z gemacht hat und dabei auf den Hund gekommen ist, nun zwar reumütig zu Z kommt, jedoch ehe er die erste Probe seiner Besserung ablegt, das anmutige Verlangen stellt, Z möge ihm den Profit aus seinen Schwindelgeschäften mit Y garantieren, so würde Z dem X einfach zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Dass der Parteivorstand die 16 Kreise nicht einfach, sondern durch die “Dämpfung" der Agitation preisgegeben hat, macht die Sache eher noch schlimmer als besser. Wäre es in weiten Parteikreisen unseres Erachtens nicht verstanden worden, wenn der Parteivorstand das Stichwahlabkommen mit der Fortschrittspartei von der Schwelle abgewiesen hätte, so würde es gerade auch in diesen Parteikreisen freudig begrüßt worden sein, wenn der Parteivorstand auf die Erpresserbedingung hin die Fortschrittler hätte zu ihren Freunden vom Bülow-Block abfahren lassen.

Auch die Heimlichkeit, in die das Abkommen gehüllt wurde, war vom Übel. Sie widerspricht ebenso wie die “Dämpfung" der Agitation allen Überlieferungen wie dem innersten Leben und Wesen der Partei. Es ist deshalb ein Verdienst der Genossin Luxemburg, die Dinge an die Öffentlichkeit gezogen, und es ist ebenso ein Verdienst von ihr, die Frage in aller Schärfe gestellt zu haben, auch wenn sie dabei der ungemein schwierigen und ungewohnten Lage, worin sich der Parteivorstand befand, nicht ganz gerecht geworden ist. Es handelt sich nicht um nachträgliche Vorwürfe gegen den Parteivorstand, zumal da er selbst in seiner Antwort auf die Aufsätze der Genossin Luxemburg ohne alle bürokratische Hochnäsigkeit zugegeben hat, dass die Sache allerdings zwei Seiten habe. Mit ihm mag der Parteitag in Chemnitz abrechnen, der ihm wohl schwerlich einen Galgen errichten wird.

Notwendig jedoch ist es, aus den begangenen Fehlern zu lernen und namentlich den Fortschrittlern gegenüber wiederum eine feste und klare Stellung einzunehmen. Die Geschichte des Stichwahlabkommens, wie sie vorliegt, zeigt zur Evidenz, dass die Fortschrittler noch immer die alten sind. Nach dem Ausfall der Hauptwahlen erkannten diese “ollen ehrlichen Seemänner", dass ein Abkommen mit der Sozialdemokratie, das ihnen eine Reihe von Hintertüren ließ, um jeden Augenblick zu den Schwarzblauen zu entwischen, das für sie vorteilhafteste Geschäft sei. Es sei gern anerkannt, dass sie dabei die Geriebenheit altgedienter Rosstäuscher entwickelt haben.

Aber ebenso sehr muss anerkannt werden, dass sie bei den Stichwahlen in wenig gemilderter Form die alte Verrätertaktik fortgesetzt haben, so dass für uns bei dem Abkommen, wie die Genossin Luxemburg schlüssig nachgewiesen hat, kaum etwas herausgekommen ist, was wir nicht auch ohne das Abkommen gehabt haben würden. Und wie ist es jetzt, wo das Abkommen öffentlich diskutiert wird? Während unser Parteivorstand in durchaus würdiger, wenn auch nicht unanfechtbarer Form sein Verhalten darlegt, halten sich die Mitkontrahenten des Abkommens an die Wanzentaktik des Totschweigens und haselieren, als ob sie an der Spitze der Zivilisation marschierten; höchstens dass dies oder jenes fortschrittliche Organ dreist genug ist, unter allerhand Schimpfereien unseren Parteivorstand der Unwahrheit zu zeihen.

Demgegenüber muss jede Art Rücksicht auf diese angenehmen “Bundesgenossen" aufhören. Wir verlangen gewiss nicht, dass die Fortschrittler, wie die schwarzblauen Blätter spotten, unsere “Heloten" oder “Hörigen" werden sollen.

Aber unser Marschtempo müssen sie annehmen, und dies Marschtempo muss nach Lage der Dinge womöglich noch schneller und stürmischer sein als vor den Wahlen. Kommen die Fortschrittler dann nicht mit, so kann es uns höchst gleichgültig sein, ob sie auf der Landstraße liegen bleiben oder sich in die böhmischen Wälder der politischen und sozialen Reaktion schlagen.

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