Franz Mehring 19060711 Freies Kunstheim?

Franz Mehring: Freies Kunstheim?

11. Juli 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 513-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 306-310]

Von der Freien Volksbühne in Berlin geht der Redaktion der „Neuen Zeit" ein Aufruf „an die Arbeiterschaft Berlins" mit der Bitte zu, auch an dieser Stelle auf ihn aufmerksam zu machen. Wir kommen dem Wunsche gern nach, indem wir den wesentlichen Inhalt des Aufrufs wiedergeben und daran einige kritische Bemerkungen knüpfen.

Er beginnt mit der Feststellung der Tatsache, dass unter den Schöpfungen, die der eigenen Kraft des Berliner Proletariats ihren Ursprung und ihre Erhaltung verdanken, kaum eine einen so gedeihlichen Aufschwung genommen habe wie die Freie Volksbühne. Mit einem festen Stande von mehr als 11.000 Mitgliedern und einem Jahreshaushalt von 100.000 Mark bilde das Unternehmen die Zentrale aller künstlerischen Bestrebungen der Berliner Arbeiterschaft, ja einen nicht mehr fortzudenkenden bedeutsamen Kulturfaktor im allgemeinen öffentlichen Leben überhaupt.

Jedoch mit seinem wachsenden Aufschwung sei auch eine innere Gefahr gewachsen, die schon öfter seinen Fortbestand gefährdet habe. Die Freie Volksbühne habe das Publikum an Sonntagnachmittagsvorstellungen gewöhnt, und so habe ihr überraschender Erfolg die Nachahmung der bürgerlichen Theater geweckt, die nun selbst derartige „Vorstellungen zu kleinen Preisen" veranstalteten. Damit seien die finanziellen Ansprüche der Theater, in denen die Freie Volksbühne ihre Vorstellungen gebe, von Jahr zu Jahr gestiegen. Aber selbst die Befriedigung dieser Ansprüche gewährleiste dem Verein nicht die Sicherheit, überhaupt ein brauchbares Theater zu erhalten. Das Gespenst der Obdachlosigkeit könne immer nur mit großen Schwierigkeiten gebannt werden; die Vereinsleitung stehe jedes Jahr vor dem Nichts, und nur der Umstand, dass im letzten Jahre neue Theater gebaut worden seien, haben sie diesmal vor der vollendeten Tatsache einer Freien Volksbühne ohne Theater bewahrt – wieder nur für ein kurzes Jahr!

Zudem beschränke der Umstand, dass sich schwerlich mehr als zwei geeignete Theater fänden, die Entwicklungsfähigkeit des Vereins. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen könne er nicht mehr als die vorhandenen 11.000 Mitglieder aufnehmen; seit Jahren müssten die sich zahlreich meldenden Bewerber um die Mitgliedschaft abgewiesen werden. Auch bringe die Abhängigkeit von den bürgerlichen Bühnen vermehrte Schwierigkeiten des Spielplans und der Darstellung mit sich, die durch ein eigenes Ensemble überwunden werden könnten.

Aus allen diesen Erwägungen, aus dieser dringender und dringender werdenden. Not will die Freie Volksbühne sich entweder ein neues Theater erbauen oder aber ein bestehendes, für diese Zwecke brauchbares Theater erwerben. Unter dem Namen „Freies Kunstheim" soll eine Theaterbaugesellschaft errichtet werden, wenn die Berliner Arbeiter Geld und so viele neue Mitglieder stellen, dass nicht nur Sonntagnachmittags, sondern auch Sonntagabends und an einigen Wochentagen abends gespielt werden könne. Daneben soll das neue Theater öffentlichen Volkskonzerten, wissenschaftlichen Volksvorlesungen großen Stils, künstlerischen Festen und vornehmen Feiern aller Art, Versammlungen und auch – im Sommer – billigen Opernvorstellungen zur Verfügung gestellt werden.

So versendet die Freie Volksbühne denn mit diesem Aufruf an die Berliner Arbeiter Fragekarten folgenden Inhalts: 1. Beabsichtigen Sie die zu gründende Theaterbaugesellschaft „Freies Kunstheim" durch verzinsliche Hausanteilscheine in der Höhe von 20 Mark (auch in Raten von 5 Mark zahlbar) zu unterstützen? 2. Sind Sie Mitglied der Freien Volksbühne, oder wollen Sie es werden? 3. Können Sie um Uhr abends beginnende Vorstellungen an Wochentagen besuchen?

Soweit der Aufruf, der nach einer Mitteilung, die der Kassierer der Freien Volksbühne eben dem „Vorwärts" macht, begeisterte Aufnahme unter den Berliner Arbeitern finden soll. Es tut uns aufrichtig leid, dass wir diese Begeisterung nicht teilen können. Nicht als ob wir dem Aufruf jede allzu blühende Wendung aufmutzen wollten; es stände traurig um die Berliner Arbeiter, wenn sie keine Schöpfung von „gedeihlicherem Aufschwung" aufzuweisen hätten als die Freie Volksbühne. Es ist begreiflich und verzeihlich, wenn die Trommel etwas stark gerührt wird, sobald es den Nervus rerum gilt, der zum Theaterspielen ebenso notwendig ist wie zum Kriegführen. Auch wollen wir nicht näher untersuchen, ob sich eine so kostspielige Sache, wie ein Berliner Theater ist, mit Hausanteilscheinen zu 20 Mark finanzieren lässt. Den Hauptfehler des Aufrufs sehen wir in dem Mangel des Klasseninstinkts, von dem wir am 13. Juli 1893, also fast bis auf den Tag genau vor dreizehn Jahren, an dieser Stelle in einem Artikel über Freie Volksbühnen schrieben: Wo sie einmal bestehen, da wird der gesunde Klasseninstinkt ihrer Mitglieder stets dafür sorgen, dass sie die ihnen gesteckten Schranken nicht überschreiten, dass sie nicht in zwecklose Theaterspielereien entarten, dass sie sich nicht Aufgaben stellen, die sie in der heutigen Gesellschaft unmöglich erfüllen können, dass sie nicht nutzlos Kräfte verzehren, die auf anderen Gebieten nützlich zu verwenden wären.1

Der ursprüngliche Zweck der Freien Volksbühne war der, künstlerisch wertvolle, aber ebendeshalb durch die Zensur oder kapitalistische Interessen den bürgerlichen Bühnen vorenthaltene Dramen der Arbeiterklasse zugänglich zu machen. „Darin liegt ihre Bedeutung", schrieb Kautsky bei ihrem Entstehen und fügte hinzu: „Wenn sie dieser ihrer Aufgabe untreu würde, wenn sie sich darauf beschränkte, Dramen, die auch auf anderen Bühnen gegeben werden, zur Aufführung zu bringen, wenn ihr einziger Unterschied von den anderen Bühnen in der Höhe des Eintrittspreises läge, wenn sie zu einer dramatischen Volksküche herabsänke, dann würde sie jede kulturhistorische Bedeutung verlieren." Jedoch selbst wenn diese Auffassung Kautskys zu schroff wäre, so hat die Freie Volksbühne ja durch ihre Wirksamkeit, wie ihr Aufruf selbst hervorhebt, die bürgerlichen Bühnen zu billigen Eintrittspreisen gezwungen, womit dieser ihr Zweck erreicht wäre und sie ruhig mit dem Bewusstsein wohl vollbrachter Pflicht abdanken könnte. Will sie fortbestehen, so muss sie also gerade erst recht auf ihren ursprünglichen Zweck zurückgreifen.

Allein diesen Zweck hat sie längst aus den Augen verloren, ohne ihre eigene Schuld, auf dem ebenso einfachen wie durchschlagenden Grunde, weil die dramatische Produktion völlig versagt. Es gibt längst keine Theaterstücke mehr, die literarisch wertvoll sind, aber aus kapitalistischen oder polizeilichen Rücksichten nicht auf die bürgerliche Bühne gelangen können. Die letzte Tat der Berliner Theaterzensur, deren wir uns entsinnen, war das Verbot des künstlerisch wertlosen Schmarrens, worin Oskar Blumenthal den Konflikt zwischen Bismarck und Wilhelm II. behandelte. Aber auch was die Freie Volksbühne in dieser Beziehung etwa noch leisten könnte, wird nicht erleichtert, sondern erschwert durch den Plan, den sie gegenwärtig hegt. Als ihr vor einigen Jahren – gleichviel ob mit Recht oder mit Unrecht – der Vorwurf gemacht wurde, hier oder da blühe wohl noch ein Veilchen im verborgenen, das sie pflücken könne, antwortete ihre Leitung: „Wenn es sich um neue, aber nur ein mäßiges Interesse bietende Werke handelt, dann ist eine Volksbühne von 7000 Mitgliedern doch wirklich nicht der Ort, um experimentierend die Bühnenwirkung derselben zu erproben." Wir erkennen dies Argument vollkommen an, insoweit als wir aus eigener praktischer Erfahrung wissen, dass die Leitung einer Volksbühne in dem Maße, wie die Mitgliederzahl wächst, auch an Scheu vor „Experimenten" zunimmt; misslingt das „Experiment" – und die Wirkung einer Theatervorstellung vermag bekanntlich kein Sterblicher vorherzusehen –, so ist es kein Genuss, die unzufriedene Kritik von 7000 Arbeitern auszubaden, die kein Blatt vor den Mund zu nehmen gewohnt sind. Was aber schon von 7000 Mitgliedern gilt, das gilt erst recht von 14.000 oder 21.000 oder wie viele für die nun geplante Gründung notwendig sein mögen.

Nun spricht der Aufruf von den Schwierigkeiten, die durch den Mangel an einem eigenen Ensemble verursacht würden. Auch diese Schwierigkeiten kennen und würdigen wir vollkommen, indessen, sie werden durch den Bau eines eigenen Theaterhauses abermals nicht gemildert, sondern gesteigert werden. Jetzt findet die Freie Volksbühne, soweit sie in eigener Regie spielt, immer noch tüchtige und unter Umständen auch glänzende Schauspieler, die, an bürgerlichen Bühnen fest engagiert, gern auch einmal einen Fünfzig- oder Hundertmarkschein mitnehmen für eine Mitwirkung an einer Sonntagnachmittagsvorstellung „für Arbeiter", allein wenn tüchtige oder gar glänzende Schauspieler dauernd für eine ständige „sozialdemokratische" Bühne engagiert werden sollen, so wird man sie mit der Laterne suchen müssen, ohne sie zu finden. Wir wollen dem Schauspielervölkchen nichts Übles nachsagen, aber es lebt wirklich nicht in solchen Verhältnissen, dass man von ihm politischen Heroismus erwarten darf, oder gar Opfer für eine Sache, die ihm fremd ist. Ferner: in dem Maße, wie der neu geplanten Gründung das Engagement guter schauspielerischer Kräfte schwieriger sein wird, in demselben Maße wird sie ihren Gagenetat über den Gagenetat der bürgerlichen Bühnen hinaufschrauben müssen. Denn auf die Hungerlöhne des technischen Personals und das Minus an Schauspielerinnenhonoraren darf und wird sich die Freie Volksbühne natürlich nicht einlassen.

Künstlerisch springt also bei dem ganzen Plane nicht das Geringste heraus. Im Gegenteil: die eigentlichen Zwecke der Freien Volksbühne werden vollends in den Hintergrund geschoben, und man begibt sich in eine Konkurrenz mit den kapitalistischen Theaterunternehmungen, bei der alle Vorteile auf deren Seite sind. Das Schlimmste dabei ist jedoch, dass für diesen negativen Erfolg proletarische Kräfte verzettelt werden sollen, die im Dienste der Arbeiterbewegung viel besser verwandt werden könnten. Wir nehmen an, dass die Freie Volksbühne es bei ihrer demokratischen Organisation bewenden lassen wird, was an und für sich ja nicht nur gebilligt, sondern gefordert werden müsste. Aber dann muss sie – falls sie zu einer ständigen Bühne wird – einen Apparat aufbieten, der im schreiendsten Missverhältnis zu dem Resultat steht, das selbst im günstigsten Falle erreicht werden könnte. Unseres Erachtens hat die Arbeiterklasse gegenwärtig allen Anlass, ihre Kräfte auf den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu konzentrieren und sich nicht auf Abwege zu verirren, die ihr oft genug von ihren erbittertsten Feinden als die einzigen Wege des Heils angeraten worden sind.

Es versteht sich, dass wir damit die Urheber des Aufrufs nicht tadeln wollen, der uns zu diesen Betrachtungen veranlasst. Nichts ist verständlicher, als dass sie ihre Hand nicht gern von dem Pfluge ziehen mögen, den sie mit viel Arbeit und Mühe und, soweit möglich, auch mit schönem Erfolg geführt haben. Aber wie gut sie es immer meinen mögen, so gehen sie doch bitteren Enttäuschungen entgegen, vor denen wir sie zu bewahren wünschen, indem wir uns bemühen, das „Freie Kunstheim" auf eine rein papierene Existenz zu beschränken.

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