Franz Mehring 19080403 Alexander Herzen

Franz Mehring: Alexander Herzen

3. April 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 33-37. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 125-130]

Erinnerungen von Alexander Herzen. Aus dem Russischen übertragen und eingeleitet von Otto Buek. Erster Band 410 Seiten. Zweiter Band 337 Seiten. Berlin 1907, Verlag von Wiegandt & Grieben (G. K. Sarasin). Preis ungebunden 10 Mark, gebunden 12,50 Mark.

Aus den Schriften von Marx und Engels ist bekannt, mit welcher rücksichtslosen Schärfe beide die bürgerlichen Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts kritisiert haben, die Kossuth, Mazzini, Ledru-Rollin und nun gar die kleinen Lichter der deutschen Demokratie. So ist denn manches Mal schon die Frage aufgetaucht, wie sich die Schüler von Marx und Engels zu diesen Männern zu stellen haben. Sollen wir unbesehen unterschreiben, was Marx und Engels über die Kossuth und Genossen geurteilt haben? Oder sollen wir von den ausschweifenden Urteilen unserer großen Lehrer „zurückgehen" auf die bürgerlichen Revolutionäre, die doch am Ende ganz respektable Kerle gewesen sind, und dann als stramme Rückwärtser lieber gleich bis auf Kant oder welchen – im Sinne der kapitalistischen Sintflut – vorsintflutlichen Denker sonst noch?

Die Frage ist an sich berechtigt, aber sie ist in dieser Form falsch gestellt. In ihrer Kritik jener bürgerlichen Revolutionäre haben Marx und Engels völlig recht gehabt, wenn man, wie billig, von einzelnen scharfen Worten absieht, wie sie von dem leidenschaftlichen Kampfe des Tages unzertrennlich zu sein pflegen; vor einiger Zeit hat in diesen Spalten ein ungarischer Genosse bekannt, dass er die von Marx gegen Kossuth gerichteten Angriffe eingehend nachgeprüft habe, und zwar mit einer gewissen Voreingenommenheit zugunsten Kossuths, aber dass er schließlich zu dem Ergebnis gekommen sei, Marx habe in allen diesen Angriffen durchaus zutreffend geurteilt. Ein „Zurückgehen" von der Kritik, die Marx an den Trägern der bürgerlichen Revolution und damit an dieser selbst geübt hat, ist deshalb ein Unding.

Allein, wenn wir aus Marx und Engels ersehen, was die Kossuth und Ledru-Rollin und Mazzini nicht gewesen sind, so erfahren wir aus ihnen doch nicht, was sie gewesen sind; wir sehen sie nur da, wo sie den Forderungen ihrer Zeit nicht gerecht geworden sind, nicht aber da, wo sie ihnen einen kräftigen Anstoß gegeben haben. Und diese Seite gehört doch auch zu ihrem Bilde, ja sie gehört in erster Reihe dazu, und es hieße allerdings ein Zerrbild dieser Männer entwerfen, wenn man sie heute, wo die Gegensätze, in denen die Geister aufeinanderprallten, längst der Geschichte angehören, nur nach der Kritik von Marx und Engels schildern wollte. Damit würden wir an den Worten unserer Meister kleben bleiben und ihren Geist verleugnen, den Geist historischen Verständnisses und damit auch historischer Gerechtigkeit.

Diese Betrachtungen drängen sich unwillkürlich auf, wenn man die „Erinnerungen" Alexander Herzens liest, ein fesselndes, spannendes Buch, das man nicht ohne ein Gefühl tiefer Sympathie mit dem Verfasser aus der Hand legt, und doch zugleich mit der klaren Erkenntnis, dass zwischen Herzen und Marx nichts möglich war als politische Feindschaft. Marx dachte über Herzen, was seine Frau einmal an Johann Philipp Becker schrieb: „Man kann all den Russen nicht recht trauen; halten sie's nicht mit Väterchen in Russland, so halten sie's oder werden gehalten von Herzensväterchen, was am Ende auf eins herauskommt. Gehopst wie gesprungen." Als Liebknecht und Bebel im Jahre 1868 das „Demokratische Wochenblatt" in Leipzig begründeten, begann es mit überaus heftigen Angriffen auf Herzen, die nicht von Marx selbst, aber doch aus seiner Umgebung herrührten. Von Herzens berühmter „Glocke" wurde darin gesagt, sie enthalte in ihren 245 Nummern nichts als landläufiges Kaffeehaus-, Weinstuben-, Bierbankgeschwätz von vorn bis hinten, das die Geschichte abschaffe, von Religion dusele, die Philosophie im allgemeinen verkauderwelsche, die Ethik im besonderen verballhorne und das „Machen" in aus Unwissenheit und Scharlatanismus verfälschten Landkommunismus als „ganz neue Idee" hinstelle. Und es wird dann erzählt, dass als der Chartistenführer Ernest Jones die Flüchtlinge aller Nationalitäten zu einem öffentlichen Meeting eingeladen habe, und darunter auch Herzen, Marx um Herzens willen sich dem Meeting ferngehalten habe, obgleich er auf den Mauerplakaten als einer der Redner angezeigt gewesen sei.

Es war die Zeit, wo Herzen in der „Glocke" den Zaren Alexander als „Grund- und Bodenzaren", als „Zar-Befreier", als „Zar-Sozialist" verherrlichte, während Marx sagte, die Leibeigenenemanzipation im Sinne der russischen Regierung würde die Angriffskraft Russlands ums Hundertfache steigern, denn sie bezwecke einfach die Vollendung der Autokratie durch Niederreißung der Schranken, die der große Autokrat bisher an den vielen kleinen, auf Leibeigenschaft gestützten Autokraten des russischen Adels gefunden habe sowie an den sich selbst verwaltenden bäuerlichen Gemeinwesen, deren materielle Grundlage, das Gemeineigentum, durch die sogenannte Emanzipation vernichtet werden solle. Überflüssig zu sagen, dass zwischen solchen Gegensätzen keine Versöhnung möglich, aber auch überflüssig zu sagen, wer von beiden im Rechte war.

Und dennoch liest man die „Erinnerungen" Herzens mit einem Gefühl der Genugtuung, dass sie ihm auch zu seinem historischen Rechte verhelfen werden. Er war das uneheliche Kind eines russischen Fürsten und einer bürgerlichen Deutschen, die ihre Verbindung nie legitimiert hatten. Jedoch sein Vater verhätschelte ihn und machte ihn zum reichen Erben; er wurde ein Unzufriedener, aber nie ein Revolutionär. Er gehörte zu der gebildeten russischen Jugend, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren an der westeuropäischen Kultur zu berauschen begann, an Hegel und Schiller, an St. Simon und Proudhon; „ich bin der Ansicht", schreibt er einmal, „dass wer Hegels Phänomenologie des Geistes nicht erlebt und Proudhons Ökonomische Widersprüche nicht durchdacht hat, wer nicht durch dieses härtende und reinigende Feuer hindurchgegangen ist, kein voller, ganzer, kein moderner Mensch ist". Aber das kommt bei Herzen nicht, wir sagen keineswegs über die Phrase, aber doch nicht über die Stimmung hinaus; man sucht in seinen „Erinnerungen" vergebens nach einem klaren Worte über Philosophie oder Politik; weder mit seinem Denken noch mit seinem Handeln ist es in irgend hervorragender Weise bestellt, wohl aber mit seinem Dichten. Herzen ist vor allem Poet, und so weiß er in dem ersten Bande seiner „Erinnerungen" lebendige Bilder aus dem nikolaitischen Russland zu entwerfen.

Selbst ein wenig vom zarischen Despotismus gestriegelt, entschloss er sich im Jahre 1847 zur Auswanderung und kam gerade zurecht als Augen- und Ohrenzeuge der Revolutionen von 1848. Sie machten nicht sowohl einen anderen Menschen aus ihm, als dass sie sein wahres Wesen enthüllten. Man hat gesagt, dass er im Angesicht der Revolution seinen revolutionären Glauben völlig eingebüßt hätte; tatsächlich wurde aber nur offenbar, dass er jedes revolutionären Denkens und Verstehens unfähig war. Seine Träume zerrannen an der harten Wirklichkeit, und auf ihrem rauen Boden irrte er ratlos umher. Eine „schreckliche Traurigkeit", eine „unsägliche Müdigkeit" wird der Grundakkord seines Lebens; jede Spur von Kraft scheint in ihm erloschen. Dazu kam häusliches Leid. Herwegh entführte ihm das geliebte Weib seiner Jugend; es kennzeichnet den Mann wie den Dichter, dass Herzen die reuig Heimkehrende mit neuen Bräutigamswonnen empfing, aber diese Wonnen in beredten, tief ergreifenden Worten zu schildern weiß, unter deren Eindruck dem Leser die peinliche Situation schwer zum Bewusstsein kommt und dann als frivole Störung empfunden wird.

Politische Ausbeute ist aus dem zweiten Bande der „Erinnerungen" sowenig zu gewinnen wie aus dem ersten. In den revolutionären Kämpfen des europäischen Westens ist Herzen völlig ohne Stecken und Stab; höchstens dass ihm die Ledru-Rollin, die Kossuth, die Mazzini viel zu weit gehen; nur mit Garibaldi ist er zufrieden, weil dieser frühzeitig bereit war, mit der piemontesischen Dynastie zu paktieren. Aber die Genrebilder, die Herzen hinwirft, die Porträts, die er zeichnet, atmen künstlerische Frische, mag die dunkle Schwermut, die über ihnen liegt, auch allzu selten durch ein helleres Licht unterbrochen werden. Am besten fahren noch die Italiener, dann die Franzosen, darauf die Engländer; am schlechtesten kommen die Deutschen davon. Herzen leidet an demselben fatalen Deutschenhass wie Leo Tolstoi, dessen deutsche Übersetzer freilich nach Möglichkeit diese unschöne Seite bemänteln. Von der Rohheit der Engländer meint Herzen, dass sie wenigstens auf der Höhe des Talentes oder einer aristokratischen Erziehung verschwinde; „dagegen werden die größten Dichter Deutschlands (mit Ausnahme von Schiller) klotzig, grob und vulgär". Er bekommt es fertig, zu schreiben: „Die Deutschen im allgemeinen sind Leute ohne Takt. Weder Goethe noch Hegel wussten sich mit Würde zu bewegen." Die Typen der deutschen Revolution erblickt Herzen in Heinzen und Struve, und selbst sie schildert er nicht ohne Übertreibungen. Einen urgermanischen Recken hat er dann freilich entdeckt, über den er eine bei ihm ganz ungewöhnliche Fülle von Glanz ergießt: es ist – Karl Vogt, der Reichsregent von 1849 und der bonapartistische Hetzer von 1859.

Die „Erinnerungen" Herzens brechen mit dem Jahre 1855 ab, also gerade in dem Augenblick, wo seine eigentliche historische Leistung begann, die Herausgabe der „Glocke", die ihn für eine Reihe von Jahren zum einflussreichsten russischen Schriftsteller machte.1 Seine „Erinnerungen" enthalten aber schon alle die Elemente, die seine nunmehrige Tätigkeit erklärlich machen. Unfähig, die revolutionäre Entwicklung des zivilisierten Europas zu verstehen, verwünschte er den „verfaulten" Westen und setzte seine ganze Hoffnung auf das neue Russland, das ihm nach dem Zusammenbruch des nikolaitischen Despotismus durch den Krimkrieg zu entstehen schien. „Nicht eine Sorte von Geist gibt es: es gibt ihrer zwei. Der Geist der niedergehenden abendlichen Welt fällt nicht zusammen mit dem Geiste der aufsteigenden, der morgigen Welt." Herzen feierte die Emanzipation der Bauern, durch die der „Zar-Befreier" doch nur vollbrachte, was der gehasste Despot Nikolaus seine lange Regierung hindurch vorbereitet hatte; er sah in der russischen Landgemeinde eine Quelle unerschöpflicher Kraft, die doch gerade durch die zarische Emanzipation der Bauern verschüttet wurde.

Die „Glocke" läutete das Begräbnis einer dreißigjährigen Korruptionswirtschaft, aber deshalb noch keinen neuen Freiheitsmorgen ein. In manchem erinnert Herzen an die altpreußischen Demokraten, etwa an Franz Ziegler, dem der Poet auch mit dem Politiker durchging, dem die preußische Bauernemanzipation nach 1806 immer das höchste Ideal war, obgleich sie tatsächlich die verrottete Despoten- und Junkerwirtschaft nur auf festeren Boden stellte, dem die heran schreitende Revolution nur die Sorge um die Disziplin des Heeres oder die Fahnen des Landes erweckte. Nur für die kurze Übergangszeit weniger Jahre konnte die „Glocke" den ungeheuren Einfluss behaupten, den sie in Russland gewonnen hatte; sie schwand spurlos dahin – und es war noch der ehrenvollste Tod, den sie finden konnte –, als Herzen im polnischen Aufstande von 1863 die Partei der Aufständischen ergriff.

Sowenig wie von der „Glocke", wird in Herzens „Erinnerungen" von Malvida v. Meysenbug gesprochen, die in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als seine Hausgenossin die Erziehung seiner Kinder leitete. In den „Memoiren einer Idealistin" hat sie dies Zusammenleben geschildert, auch sie mehr eine künstlerische als eine politische Natur, trotz aller demokratischen Gesinnung, die ihr Familie und Vaterland gekostet hatten, so dass sie in dem Politiker Herzen einen starren Prinzipienmann erblickte, aber sonst mit dem feinen und sicheren Instinkt des kräftigen Weibes, mit dem verschwiegenen Reiz stiller Herzenskämpfe, die in der müden Resignation des Mannes ein trübes Ende fanden. Damals hat Malvida v. Meysenbug auch schon einen Teil von Herzens „Erinnerungen" in deutscher Sprache herausgegeben, ein Buch, das Nietzsche seinen Freunden als „höchst lehrreich und schrecklich" empfahl, was am Ende auch zur literarischen Signatur dieser Denkwürdigkeiten gehört.

Im Jahre 1870 ist Herzen gestorben. Sein letztes Wort war: „Die Französische Revolution hat genug Bildsäulen, Gemälde und Denkmäler der Kultur enthauptet. Es steht uns nicht an, den Bilderstürmer zu spielen. Das habe ich so lebendig gefühlt, als ich einst mit stummer Wehmut und fast mit einer Art Schamgefühl vor einem Kustos stand, der mit dem Finger auf eine leere Wand, eine zerschlagene Bildsäule, einen zertrümmerten Sarg wies und immer dieselben Worte wiederholte: das alles geschah während der Revolution." So hat das dichterische Bild diesen politischen Kämpfer bis zum letzten Atemzuge geäfft.

Aber es ist doch auch wieder der Dichter in Herzen, der sein Leben verklärt, und alle Rätsel dieses Lebens lösen sich in den Worten eines sehen Dichters, einer ihm verwandten Natur:


Woher der düstre Unmut unsrer Zeit,

Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit?

Das Sterben in der Dämmerung ist schuld

An dieser freudenarmen Ungeduld;

Herb ist's, das lang ersehnte Licht nicht schauen,

Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen,

Und müssen wir vor Tag zu Asche sinken

Mit heißen Wünschen, unvergoltnen Qualen,

So wird doch in der Freiheit goldnen Strahlen

Erinnerung an uns als Träne blinken.

1 Siehe dazu die Aufsätze Lenins „Dem Gedächtnis Herzens" (In: W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 146-153) und „Aus der Vergangenheit der Arbeiterpresse in Russland" (In: W. I. Lenin: Werke, Bd. 20, S. 242-250).

Lenin schreibt dort: „Die Vorläuferin der Arbeiterpresse (der proletarisch-demokratischen oder sozialdemokratischen Presse) war damals die allgemein-demokratische, unzensierte Presse mit dem ,Kolokol' Herzens an der Spitze. Wie die Dekabristen Herzen wachgerufen hatten, so halfen Herzen und sein ,Kolokol', die Rasnotschinzen wachzurufen, die gebildeten Vertreter der liberalen und demokratischen Bourgeoisie, die nicht dem Adel, sondern der Beamtenschaft, dem Kleinbürgertum, der Kaufmannschaft, der Bauernschaft angehörten" (S. 242).

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