Franz Mehring 18921200 Augiers „Arme Löwin"

Franz Mehring: Augiers „Arme Löwin"

Dezember 1892

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 2, S. 3-6. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 28-30]

In dem Spielplane der Freien Volksbühne ist bisher die französische Dramatik neben der russischen und namentlich skandinavischen verhältnismäßig spärlich – nur durch Zolas „Therese Raquin" – vertreten gewesen. Es geschieht indessen keineswegs in der Absicht, nur eine äußerliche, scheinbare oder wirkliche Lücke auszufüllen, wenn die Aufführung von Augiers „Armer Löwin" vom Ausschusse beschlossen worden ist. Vielmehr war mannigfach aus dem Kreise der Vereinsmitglieder der Wunsch laut geworden nach einer dramatischen Darstellung aus dem Leben, das die Bourgeoisie einer Weltstadt führt, nach einer psychologischen Zergliederung des moralischen Zersetzungsprozesses, dem sie unter den heißen Strahlen dieses Brennspiegels unterliegt. Und da der Freien Volksbühne keine eigentümliche Erscheinung des modernen sozialen Lebens fremd bleiben darf, so führte die Befriedigung jenes Wunsches fast unvermeidlich auf die französische Dramatik.

Denn wie es auch um die Tragödie der Franzosen stehen mag, in der Sittenkomödie übertrifft dies geistreiche Volk alle anderen Nationen. Das meinte Goethe, wenn er sagte: „Die Franzosen verleugnen ihren allgemeinen Charakter auch in ihrem Stile nicht. Sie sind gesellige Naturen und vergessen als solche nie das Publikum, zu dem sie reden; sie bemühen sich klar zu sein, um ihre Leser zu überzeugen, und anmutig, um ihnen zu gefallen." Von Molière bis Sardou spiegeln sich die Wandlungen der französischen Gesellschaft in hundert anmutigen und witzigen Komödien wider. Es ist ein Schatz, um den wir Deutsche unsere westlichen Nachbarn nicht genug beneiden können. Hinter dem Lästern über die „Frivolität" der französischen Dramatik verbirgt sich gemeiniglich nur der lächerliche Hochmut der Bettelarmut. Gewiss gibt es unmenschlich viel frivoles Zeug in der französischen Dramatik; je mehr die bürgerlichen Sitten verfallen, um so mehr verfällt auch die bürgerliche Sittenkomödie. Aber das ist drüben wie hüben und wie überall sonst in der Welt; der Unterschied ist nur, dass sich in Frankreich unter der Spreu immer noch weit mehr Körner finden als anderswo. Der Schatten erscheint dort nur stärker, weil das Licht heller ist. So viel zur Steuer der Wahrheit. Schopenhauer meint, „dass der Patriotismus, wenn er im Reiche der Wissenschaften sich geltend machen will, ein schmutziger Geselle ist, den man hinauswerfen soll". Nun, das Gleiche gilt auch von der Kunst.

Will man die moralische Zersetzung der Bourgeoisie durch das kapitalistische Getriebe einer modernen Weltstadt auf seiner ersten klassischen Stätte sehen, so muss man in das Paris des zweiten Kaiserreichs gehen. Zwar hatte die französische Bourgeoisie schon unter dem Bürger-Königtum (von 1830-1848) goldene Tage gesehen, aber das war die Zeit ihrer verhältnismäßig noch naiven Kindheit, in der doch eigentlich nur erst die oberen Zehntausend von der Korruption ergriffen wurden. In den beiden folgenden Jahrzehnten brach die kapitalistische Sintflut auch über die mittleren Schichten der Nation herein, ebenso hervorgerufen durch den allgemeinen Aufschwung, den Handel und Gewerbe mit dem Anfange der fünfziger Jahre nahmen, wie begünstigt durch den cäsarischen Sozialismus des zweiten Kaiserreichs. Einerseits sollte der „vierte Stand" durch die Staatsschuld an den Segnungen des Kapitalismus teilnehmen und zugleich mit seinem Beutel für die Ruhe im Lande haften; die Staatsrentenbriefe wurden in ganz geringe Summen zerlegt, so dass die Zahl der Rentenbesitzer von 292.000 auf 1.095.683 stieg. Andererseits sollten „patriotische Geldmächte", der Credit mobilier und der Credit Foncier1, alle kleinen Kapitalien des Landes an sich ziehen und dem „Industriemonarchen" eine Bank schaffen, durch die er die Börse beherrschen, die Produktion ordnen und überallhin Wohlstand verbreiten konnte. Tatsächlich würden auf diese Weise aber die bürgerlichen Klassen in einen wilden Taumel der Spekulation geraten; das Börsenspiel nahm einen ungeheuerlichen Aufschwung; die „patriotischen Geldmächte" trugen die Korruption in die Ministerien, in die Parlamente, in alle Schichten der besitzenden Bevölkerung. Dem wahnsinnigen Rausche folgte dann nach den unerbittlichen Gesetzen der ökonomischen Dialektik der elende Katzenjammer; die Handelskrise von 1857 übertraf alle früheren an äußerer Ausdehnung und innerer Gewalt.

Zu dieser Zeit schrieb Augier seine „Arme Löwin". Es versteht sich, dass, wenn das zweite Kaiserreich nach dem alten Cäsarenworte dem Volke „Brot und Spiele" geben wollte, dem „Brote" seiner Börse die „Spiele" seiner Bühne entsprachen. Militärische Spektakelstücke, der geile Singsang der frivolen Operette, alberne Feenmärchen, in denen Mohrrüben und Radieschen in Trikot ihre Pirouetten schlugen, im besten Falle sentimentale Buhldirnen und sonstiges Laster, das renommierend durch vier Akte lief, um sich im fünften Akte zu erbrechen, tummelten sich auf den Brettern, die diese kapitalistische Welt bedeuteten. Aber es gab doch auch noch einige ernste Dichter der bürgerlichen Klassen, die den Beruf des Schauspiels hochhielten, der „Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt" zu zeigen. So namentlich Augier und Ponsard. Die Zerrüttung der bürgerlichen Ehre, Moral, Politik durch das Geld ist die Angel ihrer Dramatik.

Augiers „Arme Löwin", die im Jahre 1858 erschien, schildert die sittliche Entartung der kapitalistischen Welt an dem wenn nicht Verhängnis-, so doch grauenvollsten Punkte. Die „Arme Löwin" ist das Weib der Bourgeoisie, das durch die Gier nach Geld völlig entmenscht wird. „Herzogin oder Bürgersfrau, von 10 bis 10.000 Franken Rente, fängt die arme Löwin immer da an, wo das Einkommen des Mannes aufhört, mit dem Aufwande der Frau im Einklänge zu stehen … In den Augen dieser Personen wird der einfache Ehebruch ohne Präparation und Mechanik, wie die Professoren der höheren Magie sagen, schließlich noch zur Tugend werden. Bei ihnen ist Schamhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Liebe ein veraltetes Vorurteil, unter den Tritten eines habgierigen Luxus geschmolzener Schnee, Tauwetter in der Kloake." Die arme Löwin aber verteidigt sich: „Was habe ich denn gelernt? Was hat mich meine Mutter gelehrt? Um glücklich zu sein, muss man reich sein. Und was habe ich in der Gesellschaft gelernt? Reichtum macht glücklich. Ich bin ein Ungeheuer. Meinetwegen! Aber mache nicht mich dafür verantwortlich." Mit ergreifender Wahrheit, namentlich auch in dem herben Ausgange, den der düstere Stoff verlangt, schildert Augier diese Frau und die Welt, worin sie werden musste, was sie geworden ist.

Das deutsche Theater besitzt unseres Wissens nur ein Schauspiel, das einen ähnlichen Versuch unternimmt wie Augiers „Arme Löwin": nämlich „Sodoms Ende" von Sudermannn.2 Doch ist das französische Stück dem deutschen, das damit natürlich nicht in seinen sonstigen Vorzügen herabgesetzt werden soll, in der geschlossenen und klaren Fassung des sozialen Problems überlegen, und hierauf glaubte die Mehrheit des Ausschusses das entscheidende Gewicht legen zu sollen. Es kommt wenig darauf an, ob die französischen Sitten in dieser oder jener Äußerlichkeit fremdartiger berühren. Denn im Wesen der Sache ist die Gesellschaft, die der Kapitalismus heranzüchtet, gleich vom Scheitel bis zur Sohle. Sie ist eine und dieselbe, in Berlin wie in Paris, in Madrid wie in Petersburg.

1 Credit mobilier – französische Aktienbank für Gründungsspekulationen, 1852 gegründet, 1867 zusammengebrochen.

Credit Foncier (de France) – französische Hypothekenbank, 1852 gegründet.

2 Siehe Mehrings Besprechung vom März 1894

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