Franz Mehring 18950400 Augiers „Pelikan"

Franz Mehring: Augiers „Pelikan"

April 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 8, S. 3-7. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 31-34]

Von den Schauspielen Emile Augiers kennen unsere Mitglieder bereits die „Arme Löwin". Dies erschütternde Drama richtete sich gegen die schamlose Genusssucht, die unter dem zweiten Kaiserreiche bis in die Kreise des kleinen Bürgertums drang, das unter dem Julikönigtum noch seine hausbackene Ehrbarkeit bewahrt hatte. Augiers „Pelikan" spielt dagegen in den sogenannten höheren Gesellschaftsschichten. Dies Schauspiel zeigt uns Aristokratie und Bourgeoisie im Kampfe um die Macht, in einem Kampfe, der längst jeden ideellen Charakter abgestreift hat und mit elenden Mitteln um elende Ziele geführt wird. Der „Pelikan" ist um einige Jahre jünger als die „Arme Löwin"; diese erschien 1858, jener 1862. Die Satire des Dichters ist in dem jüngeren Stücke noch feiner, aber auch noch schärfer als in dem älteren.

Augier hat sein Schauspiel betitelt: Der Sohn Giboyers. Heinrich Laube hat es in seiner trefflichen Übersetzung umgetauft: Der Pelikan. Er lehnt sich dabei an ein Wort, das der Dichter den Marquis von Auberive zum alten Giboyer sprechen lässt: „Sie sind ein Vater wie der Pelikan. Der reißt sich die Brust auf für seine Brut." Giboyer ist armer Leute Kind, reich begabt, ehrgeizig, zum Manne gereift in der vergiftenden Atmosphäre des Julikönigtums, wo Bank und Börse unumschränkt herrschten, wo der Aufstieg zu den Höhen der Gesellschaft nicht anders als auf den schmutzigen Wegen der Korruption zu verfolgen war. Giboyers Talent schleppt die Last der Armut und des Elends mit sich; sie reißt ihn stets von neuem in den Sumpf, aus dem sein Geist sich immer wieder emporzuarbeiten bemüht. Es ist ein hoffnungsloses Ringen. Was in der allmählichen Verlumpung Giboyers noch gesund an ihm bleibt, das klammert sich immer krampfhafter zusammen in der Liebe zu seinem Sohne, zu seinem Maximilian, der nicht den geschändeten Namen des Vaters tragen darf, der unter neuem Namen auf die Höhen gelangen soll, die der Vater nicht hat erklimmen können.

Giboyer ist keineswegs einer jener sentimentalen Schufte, die in schlechten Romanen ihr Wesen zu treiben pflegen. Er ist eine Gestalt von sozialer Tragik, die Gestalt des armen Teufels von Talent, der sich wohl oder übel in der kapitalistischen Gesellschaft zurechtfinden muss oder genauer: in der kapitalistischen Gesellschaft, die noch kein kämpfendes und klassenbewusstes Proletariat kennt. Heute weiß so ein armer Teufel, wo er seinen Platz zu suchen hat, wo er in höchster Sittlichkeit sich einer Sache hingeben darf, die immer noch viel größer ist als das größte Talent. Solange aber das Proletariat sich seiner weltgeschichtlichen Aufgabe noch nicht bewusst ist, solange seine hellen Köpfe sich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft den Platz zu erobern suchen, der ihnen gebührt, solange sind die Giboyers typische Gestalten. Ihre Verlumpung ist die Schuld der Gesellschaft; ihr besseres Teil gehört ihnen selbst. Dies Teil ist bei alledem unverwüstlich und fasst sich zuletzt in der Hoffnung zusammen, dass sie wenigstens für ihre Kinder erobern werden, was sie für sich selbst nicht erobern konnten. Giboyer spricht die Philosophie seiner ganzen Klasse aus, wenn er sagt: „Ich dachte eben: So eine Portiersfamilie, die in gute Gesellschaft kommen will, muss ein paar Generationen opfern, 's geht wie beim Sturmlaufen. Die Vordersten fallen, bleiben im Graben liegen und bilden mit ihren Körpern Faschinen für die Nachfolgenden. Ich bin so eine Faschine im Graben für den Maximilian." Es war ein feiner Gedanke Augiers, den alten Giboyer zum Helden seines Schauspiels zu machen, eines Schauspiels, in dem Aristokratie und Bourgeoisie sich gegenseitig prügeln. Denn verrufenes Subjekt, wie Giboyer für die Aristokratie und Bourgeoisie sein mag, ist er bei alledem eine tragische Gestalt, was man weder von den Helden der Aristokratie noch von den Helden der Bourgeoisie sagen kann.

Der Marquis von Auberive und der reiche Emporkömmling Marechal stehen in dem Schauspiele Augiers an der Spitze der kämpfenden Klassen. Der Marquis hat noch viel von der kühlen Vornehmheit, die dem feudalen Adel eigen war: er ist zu klug, um sich von dem hochtrabenden Geschwätz über „heilige Interessen" blenden zu lassen, unter dem seine Klasse den nackten Kampf für die Grundrente zu verbergen liebt; er ist geistig weitaus dem Bourgeois Marechal überlegen. Treffend verspottet er die Gesinnungslosigkeit der Bourgeoisie, indem er von Marechal sagt: „Er ist ein trefflicher Rekrut. Er ist ein alter Liberaler, ein Voltaireaner, der mit Sack und Pack zum Feinde übergegangen ist, zu uns – ist das nichts? Das ist sehr viel. Das Bürgertum ist in ihm zu uns übergegangen, das will sagen, dies liebenswürdige honette Bürgertum, das auf einmal die Revolution verabscheut, weil dabei nichts mehr zu gewinnen ist. Dies liebenswürdige Bürgertum sagt jetzt plötzlich zum Strome: Steh still, du hast mir genug gebracht, steh still, jetzt will ich mir eine kleine feudale Herrlichkeit einrichten. Ist das nicht charmant? Schicken wir doch diese Leute ins Vordertreffen gegen die Revolution. Lassen wir sie doch die Kastanien aus dem Feuer holen! Benutzen wir diese Helden, bis wir gesiegt haben. Dann wollen wir sie schon wieder in ihre Mühle zurückschicken." In diesen wenigen Sätzen ist ein gut Stück Geschichte namentlich auch der deutschen Bourgeoisie enthalten, die sich stets von ihrem intimsten Gegner, dem Junkertum, nach allen Regeln der Kunst hat hineinlegen lassen.

Der Graf Outreville verkörpert eine jüngere Generation des Adels, eine kapitalistisch schon viel mehr verseuchte und deshalb auch viel mehr verkommene. Er ist ein schäbiger Frömmler, der durch eine reiche Heirat, sei es auch in der verachteten Bourgeoisie, seine Schulden bezahlen will und als richtiger Dümmling das Opfer einer koketten Frömmlerin wird. Diese Baronin Pfeffers kommt trefflich heraus: eine kalte Intrigantin, die in der demütigenden Stellung eines Gesellschaftsfräuleins in adligen Häusern gelebt und sich mit ihrem Mutterwitze einen Schwachkopf von Baron gekapert hat, nach dessen Tode sie als eifrige Vorkämpferin der „heiligen Interessen" agitiert, um sich das Wappen der Outreville, drei Goldstreifen im himmelblauen Felde, abermals zu kapern. Sie ist eine Art weiblicher Giboyer, aber viel anständiger, d. h. viel verlumpter. Sie unterscheidet sich von ihm wie der Bediente vom Proletarier.

Marechal ist dann der aufgeblasene Bourgeois, hinter dem nichts steht als sein Geldsack. Er hasste gestern den Aristokraten, um heute mit ihm zu liebäugeln und ihn morgen wieder zu hassen. Er verkörpert plastisch die Entwürdigung, die der Kapitalismus an seinen Trägern vollzieht. Diese Leute leben schließlich nur noch in einem Bombast von hohlklingenden Worten, deren Sinn ihnen völlig gleich ist, vorausgesetzt, dass sie hohl klingen. Sie kämpfen heute für die „heiligen Interessen" und morgen gegen die „heiligen Interessen", aber sie kämpfen immer „voll und ganz", immer „unentwegt". Freilich gilt dies nur für ihren häuslichen Krieg mit Aristokratie und Monarchie, mit Thron und Altar: gegen das Proletariat sind sie von einer konsequenten Bissigkeit und Bosheit. Doch dies nebenbei. Ebenso nichtig wie Marechal ist seine Gattin: sie ist sogar noch um einen Grad eingebildeter und protzenhafter, eine unbehilfliche Madame, die in ihrem fetten Nichtstun den unfruchtbaren Sport harmlosen Ehebruchs mit den Schreibern ihres Mannes treibt.

Die Handlung des Stückes, die den politischen und namentlich auch den parlamentarischen Krieg zwischen Aristokratie und Bourgeoisie mit blendenden Schlaglichtern beleuchtet, braucht hier nicht näher zergliedert zu werden. Sie erläutert sich selbst gerade in diesen Tagen, wo die Auberive und die Marechal einmal wieder gemeinsam für die „heiligen Interessen" gegen den Umsturz kämpfen. Nur so viel noch, dass die tieferen Probleme, die das Schauspiel anregt, natürlich nicht zu einer wirklichen Lösung gelangen. Der Pelikan mag seine Brut mit seinem Herzblut tränken: er stürzt damit die Gesetze des Kapitalismus nicht um. Giboyers Sohn kommt nur dadurch in die „gute Gesellschaft", dass er Marechals Tochter aus erster Ehe heiratet, die in Wirklichkeit die Tochter des Marquis von Auberive ist. Alles ist nun ein Herz und eine Seele, und unter falschem Namen will Geldprotz Marechal sogar Giboyer in einem Winkel dulden. Der Marquis aber adoptiert Giboyers Sohn und schließt mit der feierlichen Erklärung: „Euch junge Leute warne ich dringend vor uns allen. Feile und unmoralische Mittel vergiften jede Gesellschaft, vergiften jede Partei. Seid ehrlich! Dann möget ihr gehören zu welcher Partei ihr wollt, ihr werdet glücklich sein und glücklich machen." Wie schnell verdummt doch das geistreichste Salz, wenn es eine verlorene Welt würzen soll!

Kommentare