Franz Mehring 19010123 Berliner Theater Björnson

Franz Mehring: Berliner Theater

Björnsons „Über unsere Kraft"1

23. Januar 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 540/541. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 107-110]

Den größten Theatererfolg dieses Winters hat Björnstjerne Björnson am 22. d. Mts. mit dem zweiten Teile seines Dramas „Über unsere Kraft" im Berliner Theater davongetragen. Die Dichtung ist nicht neu, sondern schon 1883 veröffentlicht und 1886 zum ersten Male in Stockholm aufgeführt worden. Sie hat damals eine sehr kühle Aufnahme, wenn nicht eine entschiedene Ablehnung erfahren, und wir möchten fast behaupten, dass sie im Berliner Theater das gleiche Schicksal gehabt haben würde, wenn sie als das Werk eines unbekannten Dichters aufgeführt worden wäre. Freilich lässt sich die Probe aufs Exempel nicht machen, schon deshalb nicht, weil keine Berliner Bühne diese Arbeit von einem unbekannten Dichter angenommen hätte.

Der Grundgedanke des Dramas ist durchaus mystisch. Es geht „über unsere Kraft", Wunder zu tun, selbst wenn uns die Sehnsucht nach dem Wunder beseelt; man begreift, dass dieser Gedanke erst in mystische Regionen entrückt werden muss, um ihm die abschreckende Banalität des Einmaleins zu nehmen. Im ersten Teil des Dramas, wo der Pfarrer Sang im Lande der Mitternachtssonne daran untergeht, dass er an seiner kranken Frau ein Wunder tun will, aber nicht tun kann, ist die Mystik immerhin bis zu dem Grade psychologischer Glaubwürdigkeit gebracht, deren die dramatische Handlung bedarf; über diesem Teile liegt eine einheitliche Stimmung, die in ihrer Art grandios genug ist. Anders im zweiten Teile, wo Elias Sang, der Sohn des Pfarrers, mitten im brennenden Tageslicht der großen modernen Klassenkämpfe sein Wunder tun will, aber nicht tun kann. Was uns das Milieu des ersten Teiles willig entgegenbrachte, versagt uns das Milieu des zweiten Teiles vollständig. Einige Dialoge, die sehr gedankenreich und sehr poetisch sein mögen, aber frei von jeder Gestaltungskraft sind, sollen uns vergegenwärtigen, dass Elias Sang, den wir wie einen verrückten Fanatiker handeln sehen, tatsächlich ein von göttlichem Wunderdrang beseelter Mensch ist, etwa wie Jesus, auf den er sich ausdrücklich beruft!

Elias mischt sich in einen Streik, den eine gänzlich verelendete Arbeitermasse gegen ihre reichen Ausbeuter begonnen hat. Tief unten in der „Hölle", einem alten Flussbett, in das nie ein Sonnenstrahl dringt, hausen die Proletarier, während von der Höhe im lachenden Sonnenschein die Burgen und Wälder der Fabrikanten winken. Elias beschließt, sein Vermögen den streikenden Arbeitern zu opfern, aber er tut das nicht in der Weise eines Mannes, der über seine fünf Sinne gebietet: er sendet vielmehr lauter einzelne Posten aus allen möglichen Himmelsgegenden ein, so dass die Streikenden in den Glauben versetzt werden, ihre Sache finde eine große Teilnahme in der Bevölkerung. Sobald Elias seine letzte Krone gespendet hat, platzt die Seifenblase: kein Mensch interessiert sich für den Streik, und die Streikenden sind hilfloser denn je in den Händen ihrer erbarmungslosen und durch ihren langen Widerstand zur höchsten Grausamkeit entflammten Fabrikanten. Diese Biedermänner versammeln sich nun auf ihrer ragendsten Burg, deren Fenster mit strahlendem Lichterglanz den Landen ihren Triumph verkünden, derweil sie selbst die Gewaltmaßregeln beraten, die nunmehr möglich und nötig sind, um die Arbeiter für immer zu knebeln.

Aber Elias Sang wacht für die Arbeiter. Er hat ihnen sein Vermögen geopfert, und nun will er ihnen, auch sein Leben opfern; er will für sie sterben, um ihre Sache unsterblich zu machen. Ein ungeheures Ereignis soll die Menschen aufschrecken, die an ein Ideal nur glauben, wenn sie das Pfand des Märtyrertums haben. Mit Hilfe eines Zigeuners unterminiert Elias die Burg, wo die Fabrikanten ihre Beratung halten; er selbst schleicht sich, als Diener verkleidet, in ihre Mitte, und nachdem sie in einer langen Debatte all ihre Gehässigkeit gegen die Arbeiter ausgeschäumt haben, sprengt er sie und sich und die ganze Burg in die Luft. Mit diesem Knalleffekt schließt der dritte Akt, aber es folgt noch ein vierter. Sobald sich der Vorhang hebt, steigen Blumengewinde aus brodelndem Dampfe empor; nachdem sie sich verzogen haben, belehrt uns Rahel, die Schwester Elias Sangs, dass ihr Bruder nicht umsonst gestorben sei, und zwar deshalb nicht, weil er Leiden erschlossen habe, aus denen Glaube und Hoffnung wieder emporsteigen. Beide erscheinen denn auch gleich leibhaftig, der Glaube als Jüngling Credo und die Hoffnung als Jungfrau Spera, um unter sanft-schwermütiger Musikbegleitung alle holden Geheimnisse des Manchestertums zu erschließen. Die Zukunft des Menschengeschlechts beruht darin, dass die Menschen sich durch eigene Kraft erlösen, besonders müssten viele Erfindungen gemacht werden, um das Leben für die Arbeiter billiger zu machen und so weiter. Selbst Herr Paul Lindau hat als Regisseur des Dramas ein menschliches Rühren gefühlt und die ärgsten dieser Trivialitäten gestrichen; man muss zur Buchausgabe greifen, wenn man sie in ihrer ganzen Herrlichkeit genießen will.

Man sieht aus dieser kurzen Inhaltsangabe, dass der mystische Grundgedanke des Dramas auch sein Grundfehler ist. Macht man einen mystischen Schwärmer zur treibenden Kraft der modernen Arbeiterbewegung, so muss notwendig eine Karikatur herauskommen. Als soziales Drama ist das Stück auch nichts als eine Karikatur, was unumwunden ausgesprochen werden muss, da sich im Laufe der Jahre ein Sagenkreis darum gebildet hat, als wäre es ein oder gar das soziale Drama der Gegenwart. Gleichwohl hat die Dichtung ihre großen Vorzüge, die ihren Erfolg wohl erklären, und Herr Lindau, der als Leiter des Berliner Theaters seine alten Sünden ausgleichen zu wollen scheint, hat sich ein Verdienst damit erworben, dass er sie endlich doch von der Zensur los geeist hat, die das „Revolutionsdrama" lange nicht freigeben wollte.

Verglichen mit Ibsen und Hebbel, steht der Dramatiker Björnson erst in zweiter Reihe; es gelingt ihm nicht, einen dramatischen Stoff so ohne Rest künstlerisch zu gestalten, wie es jenen beiden in ihren Meisterwerken gelungen ist; er besitzt nicht ihre konzentrierte Schlagkraft, weil neben dem Dramatiker noch ein Politiker in ihm steckt, der dem Dichter ins Handwerk pfuscht und ihn selbst, wie im vierten Akte des hier besprochenen Dramas, an den Klippen einer dürren und geschmacklosen Prosa stranden lässt. Aber was den Dramatiker Björnson hinter Ibsen und Hebbel stellt, gibt ihm doch auch wieder einen gewissen Vorsprung; als Politiker kennt er gewisse Seiten des modernen Lebens viel besser, als Ibsen und namentlich als Hebbel sie kannte. Über die Heilmittel der sozialen Frage mag Björnson sehr abstruse Ansichten haben, und sobald sein Held Elias Sang auftritt, wird die Sache überhaupt hoffnungslos, allein die Arbeiterversammlung im ersten, die Verhandlung zwischen der Arbeiterdeputation und dem Fabrikanten Holger im zweiten, die Fabrikantendebatte im dritten Akte sind doch Zeugnisse einer in ihrer Art ganz meisterhaften Beobachtungs- und Darstellungsgabe. Wir wüssten nicht, was dem in der modernen Bühnenliteratur zu vergleichen wäre; es ist ein großer Fortschritt selbst über Hauptmanns „Weber" hinaus, die doch nur erst in seinen Anfängen zeigen, was Björnson schon in einem viel entwickelteren historischen Stadium darzustellen weiß. Die überzeugende Wahrheit dieser Szenen gab dem stürmischen Beifall, womit das Werk aufgenommen wurde, wohl den lebenskräftigen Akzent.

Dazu kamen dann der Ruf des Dichters, das polizeiliche Verbot und namentlich auch die sorgfältige Einstudierung. Das Berliner Theater verfügt nicht über die schauspielerischen Kräfte des Deutschen Theaters, aber Herr Lindau hat in seinem Meininger Exil Regiekunst gelernt, und bei der dankenswerten Sorgfalt, die er dem Drama Björnsons gewidmet hat, kommt auch nicht viel darauf an, ob er in dieser oder jener Szene des Guten vielleicht ein wenig zu viel getan hat. So wird das Berliner Bourgeoispublikum voraussichtlich eine lange Reihe von Abenden die Fabrikanten einer ganzen Provinz mit Dynamit in die Luft sprengen sehen, um dann mit dem beruhigenden Bewusstsein nach Hause zu gehen, dass der Glaube und die Hoffnung des Menschengeschlechts doch immer in dem Evangelium von St. Manchester 2besiegelt sind.

1 Björnsons bekanntestes Drama „Over evne" (1883) ist in Deutschland unter den Titeln „Über unsere Kraft" und „Über die Kraft" bekannt. – Es sei auf die ausgezeichnete, sehr ausführliche Analyse des Dramas verwiesen, die Clara Zetkin in der „Gleichheit" veröffentlichte (Clara Zetkin: Über Literatur und Kunst, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 44-79).

2 Evangelium von St. Manchester – Doktrin des schrankenlosen wirtschaftlichen Liberalismus und Freihandels (nach der engl. Stadt Manchester).

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