Franz Mehring 19030128 Berliner Theater Gorkis Nachtasyl

Franz Mehring: Berliner Theater

Gorkis „Nachtasyl"1

28. Januar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 574-576. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 151-155]

Das Kleine Theater, eine Bühne, die sich binnen kurzer Zeit vom Überbrettl in die erste Reihe der hiesigen Theater emporgearbeitet hat, errang am 23. Januar den größten und den verdientesten Erfolg dieses Winters mit Maxim Gorkis „Nachtasyl", einem Drama in vier Akten. Der Dichter selbst nennt sein Werk „Szenen aus der Tiefe"; von August Scholz sehr gut verdeutscht, ist es gleichzeitig als trefflich ausgestattetes Buch in München bei Dr. J. Marchlewski & Co., Verlag für slawische und nordische Literatur, veröffentlicht worden.

Das „Nachtasyl" ist die Schöpfung eines echten und großen Dichters. Wie Gorkis Erzählungen spielt es in der Welt der „gewesenen Leute", im russischen Lumpenproletariat, in einer Kaschemme, in die das Laster und das Verbrechen niedersickern, wie der Schmutz von ihren Wänden trieft. Aus dem Leben dieser Ausgestoßenen gibt Gorki in der Tat nur eine Reihe von Szenen, ohne jede dramatische Steigerung, ja ohne jeden inneren Zusammenhang; ein Totschlag, der dem dritten Akte einen gewissen Höhepunkt zu geben scheint, ist doch nur eine alltägliche Episode in dem Leben dieser Höhlen. Auch die zahlreichen Gestalten des Dramas sind durchaus alltägliche Typen: der habgierige Herbergsvater, der noch aus dem tiefsten Elend seinen Profit zu schlagen weiß, sein lasterhaftes Weib, ihr Onkel, der feile Polizist, dann die Gäste des Verbrecherkellers: der Dieb, der Falschspieler, der Trunkenbold, der Zuhälter, die Dirne: es ist nicht mehr und nicht weniger als zum ersten besten Kolportageroman hinreichen würde.

Nur eine Gestalt hebt sich in lichteren Farben von diesem düsteren Hintergrund ab: der greise Pilger Luka, der gegen das Ende des ersten Aktes erscheint und mit dem Schlusse des dritten Aktes verschwindet. Durchaus kein Mustermensch, vielmehr kaum etwas anderes als auch ein Landstreicher, kein aufdringlicher Moralprediger, aber ein Stück von einem Philosophen, der in dem entmenschten Menschen noch das letzte Stück Mensch zu finden, der den Sterbenden und den Verzweifelnden noch zu trösten weiß, und sei es auch nur durch eine gutmütige Lüge, gibt er dem bunten Wechsel dieser „Szenen aus der Tiefe" eine Art Mittelpunkt. Wohl steckt in ihm ein Stück lehrhaften Wesens, aber sicherlich nicht mehr, als in jenen russischen Sonderlingen, wie wir sie auch aus Tolstois Werken kennen, lebendig sein mag. Ihn mit dem Räsoneur des französischen oder deutschen Thesenstücks zu vergleichen, hieße total daneben greifen. Dazu ist die russische Atmosphäre des Dramas viel zu echt; sie durchdringt jede Gestalt des Dramas bis in die Fingerspitzen, jede Szene bis ins letzte Wort; mit der genialen Sicherheit eines schöpferischen Genius baut Gorki diese fremde Welt auf, so dass wir sie mit Händen greifen zu können glauben.

Deshalb fehlt seinem Drama auch ganz jener peinliche Zug, der von der Elendsmalerei deutscher oder französischer Poeten oft so sehr abstößt, und nicht etwa bloß die Spießbürger, die in ihrer Ruhe nicht gestört sein wollen. Wo es sich in den Tiefen aus eigener Kraft regt, wo längst der revolutionäre Kampf eingesetzt hat gegen die gesellschaftliche Organisation, deren notwendige Konsequenzen die Laster und die Verbrechen des Lumpenproletariats sind, da wird es einseitig und künstlerisch unwahr, wenn anders die Kunst ein Mikrokosmos der wirklichen Welt sein soll, immer nur das Elend zu schildern und nicht auch die Hoffnung, die aus dem Elend sprießt. Anders in Russland, wo ein dumpfer und immer noch ungebrochener Druck auf den Massen des Volkes lastet, wo der revolutionäre Kampf noch nicht seine offene Fahne entfalten kann, wo die immer vergeblich gehegte Hoffnung in mehr nachdenklichen als tatkräftigen Naturen zur müden Resignation umschlägt. Hier gedeihen die Lukas mit ihrer milden, patriarchalischen, ein wenig ratlosen und unsicher tastenden Weisheit, und hier erfüllt der begnadete Dichter seine höchste Mission, wenn er die trostlose Welt, die sich allein seinem Auge bietet, mit barmherziger Güte adelt und in die Höhe der Kunst erhebt.

In Gorkis Drama findet sich nicht eine einzige sentimentale oder wehleidige Phrase, aber die Gestalten seiner Ausgestoßenen sind alle beseelt wie von einemTropfen seines Herzbluts. Zuerst, mag man das Drama nun lesen oder auf der Bühne sehen, verwirrt ihre Fülle, aber dann treten sie immer klarer und plastischer hervor, bis sie vor uns stehen, jeder ein lebendiges Wesen, besudelt, verkommen, verworfen, aber immer doch noch ein Mensch, dessen wirkliche Schuld nur sein Schicksal ist, das er sich nicht bereitet hat. Wie erschütternd wirkt der hoffnungslose Trunkenbold von Schauspieler, der nur noch lallend mit dem ärztlichen Zeugnis prahlen kann, dass sein Organismus mit Alkohol vergiftet sei, und der dann doch gierig nach dem letzten trügerischen Hoffnungsschimmer greift, um noch einmal seiner Kunst zu leben, bis er mit dem schnellen Verflackern dieser Hoffnung die schauerliche Rechnung seines Lebens quittiert! Eine sterbende Frau, die nach einem Dasein voll fürchterlicher Qual den Tod herbeisehnt und vom Pilger Luka die Verheißung erhält, der Herr werde sie ins Paradies aufnehmen, sagt in ihren letzten Atemzügen: „Ich möcht' doch noch … ein Weilchen leben … ein ganz kleines Weilchen … Wenn's dort keine Qual gibt… könnt' ich am Ende hier noch ein wenig dulden." An solchen Zügen feinster Psychologie ist Gorkis Drama überreich, und es ist schwer, aus der fast unerschöpflichen Fülle einzelnes hervorzuheben. Doch mag noch der meisterhaften Szene aus dem vierten Akte gedacht sein, wo selbst der Zuhälter, der sonst in aller abschreckenden Gemeinheit seiner Zunft erscheint, sein Los als ein menschliches Los enthüllt.

Ibsen soll einmal gesagt haben, es sei eine verdammt schwere Sache, sich die acht oder wie viel Gestalten, die eine dramatische Handlung bewegen, in jedem Augenblick ihres Tuns und Lassens gegenwärtig zu halten. An diesem Maßstabe gemessen, besitzt Gorki sicherlich eine entscheidende Gabe des dramatischen Dichters, und sein „Nachtasyl" besteht auch insoweit die dramatische Feuerprobe, als es erst auf der Bühne recht lebendig wird. Allein deshalb hat es doch seinen guten Grund, wenn die Kritiker des „Nachtasyls" fast ausnahmslos dahin urteilen, dass der Schwerpunkt von Gorkis dichterischer Begabung auf epischem, nicht auf dramatischem Gebiet liege. Ein geborener Dramatiker hätte sich gewiss nicht so völlig, nicht bloß über die Regeln des Aristoteles, sondern über alle Gesetze des dramatischen Schaffens hinweggesetzt, wie Gorki in diesen „Szenen aus der Tiefe". Mit ihnen verglichen, sind Hauptmanns „Weber" ein Stück voll spannender dramatischer Aktion; will man das „Nachtasyl" überhaupt als Drama katalogisieren, so ist es das Milieudrama in seiner äußersten Konsequenz, in einer Konsequenz, wie sie bisher noch nicht dagewesen ist und schwerlich noch übertroffen werden kann. Es ist ein eigenes Zusammentreffen, dass Gorkis Werk sich mit Maeterlincks „Monna Vanna" und Hauptmanns „Armen Heinrich" in die literarischen Ehren dieses Berliner Theaterwinters teilen muss. Hauptmann ist mit seinem Drama, und nicht zum ersten mal, in die, wie seine Bewunderer sagen, „alten schönen Traditionen" der Bühne zurückgekehrt, und ebenso Maeterlinck mit seiner „Monna Vanna"; dieser Poet streifte den geheimnisvollen Mystiker sogar mit etwas unheimlicher Schnelligkeit ab, indem er sich auf einem jener banalen Ehrenfestessen, mit denen die Bourgeoisie ihre Größen feiert, von dem biederen Macher Sudermann antoasten ließ und in seiner Erwiderung nette Stichworte für die patriotischen Tamtamreden des Reichskanzlers ausgab. In scharfem Gegensatz zu der Wendung der Hauptmann und Maeterlinck vertritt Gorki das Milieu-, das handlungslose Stimmungsdrama in seiner denkbar schärfsten Konsequenz, und wenn sein „Nachtasyl" an dichterischem Gehalt hoch über der „Monna Vanna" und dem „Armen Heinrich" steht, so könnte es scheinen, als halte Gorki treuer zur Fahne der modernen Dichtung als Hauptmann und Maeterlinck.

Meines Erachtens jedoch trügt dieser Schein. Sosehr es heute Mode geworden ist, auf Lessing als einen alten, braven, aber längst überholten Schulmeister herabzusehen, so findet sich doch manches Körnlein Gold in seiner Ästhetik, mit dem sich die heutigen Aristarche gut und gern schmücken könnten, und namentlich Pol und Gegenpol der Frage, wie eng oder wie weit die Grenzen der dramatischen Kunst zu ziehen seien, hat er sehr gut gekennzeichnet, das eine Mal mit dem Satze, das Genie spotte aller Regeln und das andere Mal mit dem Satze, dass er mit dem Ansehen des Aristoteles schon fertigwerden würde, wenn er nur mit den Gründen des Aristoteles fertigwerden könne. Drama ist Handlung; an diesem Satze ist nun einmal nichts abzudingen. Deshalb kann das Milieudrama doch ästhetisch berechtigt, doch eine Verfeinerung und Vertiefung der dramatischen Kunst sein. In ihm vollzieht sich ein ähnlicher Fortschritt, wie wir ihn in analoger Weise auf wissenschaftlichem Gebiet beobachten können. Vor dem geschärften Blicke der historischen Kritik verschwinden die Helden, in deren Brust sich die Konflikte des Völkerlebens abspielen, verschwinden die Haupt- und Staatsaktionen, in denen die großen Perioden der Geschichte sich abzulösen scheinen; dafür studieren wir, wie sich der historische Prozess in stetem, unmerkbarem Flusse der Dinge selbst abspielt. Aber wie man in der historischen Forschung niemals vergessen darf, dass schließlich die Menschen ihre Geschichte machen, so kann die dramatische Kunst nicht in der bloßen Schilderung von Zuständen bestehen; sie bedarf der Handlung, die ihr innerstes, ihr unveräußerlichstes Leben ist.

Das soll nicht gesagt sein, um an dem genialen Wurfe Gorkis durch die Brille des Schulmeisters nach Flecken zu spähen; im Gegenteil kommt ihm auch in dieser Beziehung zugute, was schon über den Mangel an historischer Handlung in den „Tiefen" des russischen Volkes gesagt worden ist. Vielmehr kam es nur darauf an, die paradoxe Erscheinung zu erklären, dass Gorkis Drama trotz seiner unvergleichlichen Schönheiten, und obgleich es erst auf der Bühne zur vollen Geltung kommt, dennoch in der szenischen Darstellung auf die Dauer ermüdet. Es kann mit manchen Sünden des Berliner Premierenpublikums versöhnen, dass es dem „Nachtasyl" bei der ersten Aufführung einen durchschlagenden Erfolg bereitet hat, aber bei der dritten Aufführung war dies Interesse schon wesentlich erkaltet, und dem Rundgang des Dramas über die Provinzbühnen, sosehr er zu wünschen wäre, stehen fast unübersteigliche Hindernisse entgegen. Im Kleinen Theater waren die meisten oder doch viele Rollen mit schauspielerischen Kräften ersten Ranges besetzt, die sich mit nicht genug anzuerkennendem Eifer und Verständnis ihrer künstlerischen Aufgabe widmeten, aber ob das „Nachtasyl" mit gar nicht einmal schlechten, sondern selbst recht passablen Darstellern noch bestehen kann, ist keineswegs sicher.

Das ist um so mehr zu bedauern, als gerade dem deutschen Arbeiter der Genuss dieser wunderreichen Dichtung zu wünschen wäre.

1 Leider ist die vorliegende Rezension die einzige Arbeit Mehrings über Gorki geblieben. Wie aus einem Brief Kautskys an Mehring vom 2. März 1906 hervorgeht, bestand wohl die Absicht, Gorkis „Kinder der Sonne" zu rezensieren. Der Artikel kam nicht zustande.

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