Franz Mehring 18950115 Berliner Theater (Ibsens „Klein Eyolf")

Franz Mehring: Berliner Theater

Ibsens „Klein Eyolf"

15. Januar 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 534-537. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 89-93]

Als die „Hallischen Jahrbücher" am Ende der dreißiger Jahre wieder einiges Leben in die deutsche Literatur und Philosophie zu bringen versuchten, veröffentlichte der bekannte Ästhetiker Vischer in ihnen einen Aufsatz, der mit derbem Humor die Kommentare zum zweiten Teile von Goethes „Faust" verspottete und zu dem Schlusse kam, dieser Teil sei „ein mechanisches Produkt, nicht geworden, sondern gemacht, fabriziert, geschustert". Das war grob, zumal sieben Jahre nach Goethes Tode, aber es war auch ein keckes Trompetensignal, das ein neues Geschlecht zu neuen Kämpfen rief. Vischer war kein Sozialdemokrat oder sonstiger Umstürzler, und später hat er gerade in dem satirischen dritten Teile, den er zum „Faust" dichtete, die Roten mit den abgeschmacktesten Schlagworten der offiziösen Presse attackiert. Aber er war ein Ästhetiker, dem die erleuchtetsten Spitzen der heutigen bürgerlichen Kritik nicht entfernt das Wasser reichen, und so wird er wohl seinen ästhetischen Grund gehabt haben, zu wünschen, dass Goethe seinen Helden an dem Bauernkriege hätte teilnehmen lassen sollen.

Uns fielen Vischers Kernworte über der Tragödie zweiten Teil unwillkürlich ein, als wir vor ein paar Monaten Ibsens neuestes Drama, „Klein Eyolf", zum ersten Male gelesen hatten, ohne es zu verstehen. Wir lasen es dann zum zweiten und dritten Male mit dem gleichen negativen Ergebnisse. Vergebens suchten wir Hilfe bei den zahlreichen Kommentatoren, die das Drama alsbald in der bürgerlichen Presse fand. Die Glücklichen hatten es freilich alle verstanden, aber da es jeder von ihnen anders verstand, so war auch hier keine wirkliche Lösung des dramatischen Rätsels zu finden. Ein letzter Rettungsanker blieb die Aufführung, die vorgestern im Deutschen Theater zum ersten Male stattfand. Das Premierenpublikum war sehr gnädig und begrüßte die Vorstellung mit lebhaftem Beifall, so dass Herr Brahm vor der Gardine erschien und ihm von dem Richterstuhle seiner unfehlbaren Kritik aus das schmeichelhafte Zeugnis ausstellte, es habe Ibsens Geist richtig aufgefasst. Unter all diesen fühlenden Herzen die einzige Larve, wären wir uns ganz zerknirscht vorgekommen, wenn uns nicht doch noch der Trost geblieben wäre, ein paar Genossen in unserem Unglück zu haben. Diese Genossen waren die vier oder fünf Schauspieler, die das Drama spielten. Sie statteten, namentlich Frau Sorma, die Heldin des Stückes, ihre Rollen mit allen virtuosen Mätzchen aus, die sie nur immer anbringen konnten, aber irgendeine konsequente Auffassung und Durchführung ihrer Aufgaben konnte man mit dem schärfsten Opernglase nicht entdecken. Das scheint uns nun allerdings mehr gegen den Dichter zu beweisen, als die tiefsinnigsten Kommentare für ihn beweisen können: wenn ein genialer Künstler und alterprobter Ibsen-Darsteller, wie Emanuel Reicher, drei lange Akte ratlos hin und her tappt, so muss es mit dem Stücke seinen besonderen Haken haben.

Inzwischen hat Erich Schlaikjer in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift eine Analyse des Dramas gegeben, von der wir gern bekennen, dass sie sich sehr gut liest. Einen besseren Ausleger könnten sich die bedingungslosen Bewunderer des norwegischen Dichters gewiss nicht wünschen. Nur scheint uns Schlaikjer in der besten Absicht von der Welt mehr unter- als abzulegen. Was immer Ibsen gemeint haben mag, das hat er jedenfalls nicht gemeint, was Schlaikjer ihn meinen lässt. Ibsen hat nicht den sittlichen Bankerott einer haltlosen Kompromissnatur darstellen wollen; das Drama klingt vielmehr in einen melancholischen, aber nach Absicht des Dichters doch auch weihevollen Ton aus. Auf keinen Fall hätte Ibsen, wenn er ein Charakterstück hätte schreiben wollen, den dramatischen Konflikt auf so märchenhaft-kindlichen Voraussetzungen aufgebaut, wie er es tatsächlich getan hat. Der Übel größtes ist im Grunde, dass im Hause Allmers das uralte Hausgerät einer Wiege unbekannt ist. Klein Eyolf liegt als Säugling auf einem Tische und wird von seinem Vater bewacht, als dieser von der Mutter zu einem ehelichen Schäferstündchen abgerufen wird. Derweil fällt Klein Eyolf vom Tisch und fällt sich zum Krüppel. Hierüber entsetzt, macht sich Vater Allmers an sein Lebenswerk, ein Buch über die menschliche Verantwortlichkeit. Mit dicken Ballen weißen Papiers reist er ins Hochgebirge, um an dem Buche zu schreiben, kehrt aber nicht nur unverrichtetersache zurück, sondern hat auch seinen Entschluss dahin geändert, das Buch nicht zu schreiben, dagegen sich ganz der Erziehung Klein Eyolfs zu widmen. Bräutlich geschmückt, empfängt ihn seine Gattin bei der Heimkehr; „der Champagner stand da, doch er trank ihn nicht". Am Morgen darauf kommt die Rattenmamsell, ein unheimliches Geschöpf, das mit ihrem Goldmops die Ratten lockt, dass sie ihm ins Wasser nachlaufen und ersaufen. Im Hause Allmers gibt es keine Ratten, dagegen läuft Klein Eyolf der geheimnisvollen Person ins Wasser nach und ertrinkt wie eine Ratte, derweil die brünstige Mama von wegen des nicht getrunkenen Champagners den saumseligen Papa abkanzelt. Im zweiten Akt überhäufen sich die Ehegatten Allmers, gequält von dem Gespenste Klein Eyolfs, mit harten Vorwürfen, um im dritten Akte sich wieder zu vereinigen und zu „läutern" durch die edle Absicht, die arme Jugend des Dorfes an Stelle ihres verlorenen Kindes zu pflegen.

Die wohlfeile Absicht, Ibsens Drama dadurch abtun zu wollen, dass wir die sonderbaren Gipfelpunkte der Handlung flüchtig streifen, liegt uns durchaus fern. Wir heben sie nur hervor, um zu beweisen, dass Ibsen sein Drama unmöglich anders als symbolisch gemeint haben kann. Er lässt die schnellen Wechsel in den Entschlüssen seines Helden nicht aus dessen Charakter entspringen, sondern aus einem geheimnisvollen „Gesetze der Umwandlung", was immer er darunter versteht. Dies „Gesetz der Umwandlung" klingt wie ein Wagnersches Leitmotiv durch das ganze Drama und hätte bei seiner stereotypen Wiederkehr im dritten Akt beinahe noch den hierzulande üblichen Premierenspektakel entfesselt. Unseres Erachtens ist deshalb Schlaikjers Hypothese nicht haltbar, so vorteilhaft sie sich vor dem ästhetischen Gedusel der bürgerlichen Kritiker dadurch auszeichnet, dass Schlaikjer mit verzweifeltem Entschlusse dennoch einen menschlich greifbaren Inhalt aus dem Drama zu retten sucht. Ein solcher Inhalt ist aber wirklich nicht darin. Ibsen mag die schönsten und tiefsinnigsten Gedanken gehabt haben, als er „Klein Eyolf" dichtete, aber es ist ihm nicht gelungen, sie der Welt zu offenbaren. Und da sollten wir den Mut der „Hallischen Jahrbücher" haben und das Werk beim richtigen Namen nennen: ein mechanisches Produkt, nicht geworden, sondern gemacht, fabriziert, geschustert. Was für Goethe recht war, wird für Ibsen nicht unbillig sein. Und wir haben dringenderen Anlass als die Stürmer und Dränger der „Hallischen Jahrbücher", uns bei den Gespenstern der Vergangenheit nicht lange aufzuhalten.

Goethes Faust endet im zweiten Teile auch als eine Art sozialer Wohltäter, aber Vischer meinte, am Bauernkriege hätte er teilnehmen sollen. Ibsens Held und seine Heldin schwingen sich zu den „Gipfeln" und zu den „Sternen", indem sie die Suppenkelle und die Wohltätigkeit über der armen Dorfjugend schwenken, aber wenn er sich zu einem rechten Manne und sie sich zu einem rechten Weibe „läutern" will, dann sollten sie an dem großen Befreiungskampfe der Zeit teilnehmen. Wir wissen recht gut, dass diese Auffassung von den Brahm und Genossen dadurch hat lächerlich gemacht werden sollen, dass sie sagten, die Schriften von Marx und Engels sollten wohl in fünfaktige Dramen umgedichtet werden. Hinter diesem Schwatze verbirgt sich aber nur die feige Ratlosigkeit hilfloser Epigonen. In ihren großen Tagen hat sich die bürgerliche Ästhetik nie auf dem Phantom der „reinen Kunst" ertappen lassen, die durch keine Berührung mit den sozialen Kämpfen ihrer Zeit befleckt werden dürfe; solange die bürgerliche Literatur lebensfähig war, haben sich ihre größten Vertreter, von Boccaccio und Rabelais bis auf Lessing und Voltaire, den Teufel durch die „reine Kunst" hindern lassen, mit glänzenden Waffen an den Kämpfen ihrer Klasse teilzunehmen. Ibsen selbst ist gewiss kein Epigone, und in der „Neuen Zeit" sind seine großen Leistungen stets rückhaltlos anerkannt worden. Aber diese Leistungen, wie „Nora" und die „Stützen der Gesellschaft", sind auch durchaus soziale Kampfdichtungen und bestehen sehr schlecht vor dem Richterstuhle der „reinen Kunst". Nun ist die historische Entwicklung wie anderen Leuten so auch dem norwegischen Dichter über den Kopf gewachsen; er kann oder will nicht den entscheidenden Schritt über die Grenze zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Welt tun, aber er ist zu ehrlich und zu einsichtig, um an den dauernden Sieg der großen Bourgeoisie zu glauben; so mystifiziert er sich ihre Ängstesprünge in allerlei geheimnisvollen Kram. Wir haben vor Ibsen ebenso aufrichtigen Respekt, wie Vischer vor Goethe hatte, aber wenn der alte Herr mit seiner Zeit nicht mehr mitkann, so gehen wir deshalb nicht weniger mit unserer Zeit vorwärts, sei es auch über die Rattenmamsell und den Goldmops hinweg.

Man muss sich überhaupt darüber klarwerden. Für das kämpfende Proletariat gibt es zwei diskussionsfähige Standpunkte, die es zur Kunst einnehmen kann. Entweder sagt man: Die Kunst, und namentlich die Bühne, hat für die Emanzipation der arbeitenden Klasse nicht entfernt dieselbe Bedeutung, die sie namentlich in Deutschland für die Emanzipation der bürgerlichen Klasse gehabt hat; lassen wir also die Kunst Privatsache sein und konzentrieren wir unsere ganze Kraft auf das entscheidende Schlachtfeld der Ökonomie und der Politik. Oder man sagt: So gewiss die sozialistische Gesellschaft eine herrliche Wiedergeburt der Kunst schaffen wird, so unmöglich ist es, dem kämpfenden Proletariat das Gebiet der Kunst zu verschließen, nach dem es um so eifriger drängt, je höher es sich entwickelt; suchen wir uns also, in wohlbemessenem Abstande nach den Forderungen des ökonomischen und politischen Kampfes, über die Bedingungen einer proletarischen Ästhetik zu verständigen! Jeder dieser Standpunkte ist in sich konsequent und für wie gegen jeden lässt sich manches anführen. Aber was dazwischen liegt, ist unter allen Umständen vom Übel. Die bürgerliche Ästhetik anzunehmen und etwa nur durch einige besondere Geistreichigkeiten steigern zu wollen, heißt nichts anderes, als den muffig gewordenen Geisteskram der Bourgeoisie zum Hinterpförtlein wieder einschmuggeln, nachdem er eben zur Vordertüre hinausgeworfen worden war, womit wir übrigens nicht Schlaikjer gemeint haben wollen. Um unsere Ansicht an einer Frage zu erläutern, die auf den sozialdemokratischen Parteitagen oft erörtert worden ist, so ist die Kritik sozialistischer Jugendschriften nach den überkommenen Maßstäben der bürgerlichen Ästhetik ebenso geistreich und überzeugend wie die Kritik der bürgerlichen Jugendliteratur durch christlich-feudale Traktätchen. Die sozialistische Jugendliteratur muss von total anderen Voraussetzungen ausgehen als die bürgerliche, einfach weil die Kinder des Proletariats unter total anderen Verhältnissen und demgemäß auch in total anderen Anschauungen und Vorstellungen leben als die Kinder der Bourgeoisie. Es gibt nichts Reaktionäreres, als die Revolution, welche die große Industrie in den Köpfen der proletarischen Kinderwelt angerichtet hat, wieder rückgängig machen zu wollen durch Fabeln und Märchen, die den Anschauungen und Vorstellungen der groß- oder kleinbürgerlichen Kinderwelt einmal ganz angemessen gewesen sein mögen oder vielleicht auch noch angemessen sind.

Doch um auf „Klein Eyolf" zurückzukommen, so bekennen wir freimütig und auf die Gefahr hin, unsere Schande zu bekennen: Wir haben den Lesern nicht das kleinste Hypotheschen über die Rattenmamsell und den Goldmops vorzusetzen, und wenn wir die geistreichste Hypothese darüber besäßen, so wäre es uns nicht der Mühe wert, sie erst niederzuschreiben.

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