Franz Mehring 19000220 Berliner Theater (Ibsen, „Wenn wir Toten erwachen")

Franz Mehring: Berliner Theater

Ibsen, „Wenn wir Toten erwachen"

20. Februar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 826-828. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 98-101]

Ibsens neuestes Drama „Wenn wir Toten erwachen", das er selbst einen „dramatischen Epilog in drei Akten" nennt, wurde am 17. ds. Mts. im Deutschen Theater aufgeführt. Die tiefere Wirkung, die es auf einzelnen auswärtigen Bühnen erzielt hat, blieb hier aus, und es war nur eine Höflichkeitswendung, wenn der Direktor Brahm, der nach dem Schlusse des zweiten Aktes vor der Gardine erschien, um für den mehr aus Achtung als aus Begeisterung gespendeten Beifall zu danken, dem Dichter zu melden versprach, „wie rein und stark" seine Dichtung gewirkt habe. Weder von einer reinen noch von einer starken Wirkung konnte gesprochen werden, womit noch nichts weder gegen das Publikum noch gegen das Drama gesagt ist, sondern höchstens nur etwas gegen die Darsteller, und auch gegen sie nicht unbedingt. Die Aufgaben, die dies Drama den darstellenden Künstlern zu lösen gibt, sind so kompliziert und schwierig, namentlich in den Hauptrollen, dass man wohl fragen darf, ob sie sich ohne Rest lösen lassen.

Unter den Alterswerken Ibsens ist der „dramatische Epilog" das persönlichste. Sein Held, der Bildhauer Rubek, spricht einmal über das Meisterwerk seines Lebens, von dem seine Gattin Maja sagt, es sei über die ganze Welt gegangen und habe ihn berühmt gemacht, woran sich dann folgender Dialog knüpft. Rubek: „Das ist vielleicht das Unglück dabei, Maja." Frau Maja: „Wieso?" Rubek: „Als ich dies mein Meisterwerk geschaffen hatte (mit einer heftigen Handbewegung) – denn der ,Auferstehungstag' ist ein Meisterwerk! Oder war es doch im Anbeginn. Nein, ist es noch. Soll, soll, soll ein Meisterwerk sein." Frau Maja (blickt ihn verwundert an): „Rubek, das weiß ja doch die ganze Welt." Rubek (kurz und abweisend): „Nichts weiß die ganze Welt. Nichts versteht sie." Frau Maja: „Nun, so ahnen sie doch zum mindesten etwas -" Rubek: „- Was gar nicht da ist, ja. Was mir nie im Sinne gelegen hat. Siehst du, darüber fallen sie in Verzückungen. (Brummt vor sich hin.) Es ist nicht der Mühe wert, sich so immerfort abzunutzen für den Mob und die Masse und die ,ganze Welt'." Hier bricht etwas von der Stimmung hervor, die dem greisen Dichter die Aufnahme seiner Alterswerke durch die Mitwelt erweckt haben mag. Wer kann unbedingt bestreiten, dass alle „Verzückungen" über diese Werke aus Vorstellungen geboren sind, die der Dichter selbst nie gehegt hat?

Die Schuld daran trägt er aber nicht minder als der Mob und die Massen, wobei von Schuld natürlich nur im tragischen Sinne des Wortes gesprochen werden darf, im Sinne eines Aufeinanderstoßens von Gegensätzen, deren jeder in seinem Rechte ist. Ibsen dichtet seine Alterswerke, wie Tizian seine Alterswerke malte: da seine Hand nicht mehr stetig genug ist, den Pinsel zu führen, so trägt sie die Farbe tupfweise auf, wobei Ibsen aber immer Ibsen, immer ein großer Dichter bleibt. Wer will dem Genius verwehren zu schaffen, solange es Tag ist, wer will ihn tadeln, weil er dem Alter den Zoll zahlt, den ihm alle Menschen zahlen müssen? Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen dann auch die „Verzückungen" über seine „Meisterwerke" in einem milden und tröstlichen Lichte; mag dabei viel Modetorheit, viel zwecklose Verschwendung menschlichen Scharfsinns mit unterlaufen, es ist nicht die ärgste Torheit und nicht die schlimmste Verschwendung, dem Genius zu huldigen, auch wenn er nicht mehr in klarer Sprache, sondern nur noch in dunklen Runen spricht.

Nun freilich darf man nicht so weit gehen, wenigstens als ästhetischer Kritiker nicht, die Dinge auf den Kopf zu stellen und in dem Abfluten der dichterischen Kraft ihr Anschwellen zu bewundern. Das gerechte Urteil, das dem Dichter geschuldet wird, kommt dann sehr zu kurz gegen das verliebte Kokettieren mit der eigenen „Verzückung", die doch eine sehr beiläufige und flüchtige Sache ist. In der deutschen Literatur haben wir ein sehr naheliegendes Beispiel am zweiten Teile von Goethes „Faust": Jahrzehntelang galt nahezu für einen Banausen, wer ehrlich zu sagen wagte, dass dies Alterswerk Goethes nur getupft, aber nicht gemalt sei, dass es viel Mystisches, Verschrobenes, Wunderliches enthalte neben herrlichen Spuren eines unvergleichlichen Genius. Dagegen was wurde in „Verzückungen" über der Tragödie zweiten Teil geleistet; eine ganze Literatur entstand, um eine Masse von Vorstellungen hinein zu konstruieren, die dem Dichter niemals im Sinne gelegen hatten, ihm schon deshalb nicht im Sinne gelegen haben konnten, weil eine immer die andere verzehrte. Heute ist diese ganze Literatur verstaubt und versunken; der zweite Teil des „Faust" führt auch ein sehr beschauliches Dasein, wie alles, was der Greis Goethe gedichtet hat, dagegen lebt in unverwüstlicher Jugendfrische, was unserem großen Dichter in der Fülle seiner Kraft zu schaffen beschieden gewesen ist.

Wie Ibsen den „dramatischen Epilog" meint, den er seinem neuesten Drama an die Stirne geschrieben hat, gehört zu den Rätseln seiner alternden Arbeit, aber wenn er damit als Dramatiker sein Schlusswort hat sprechen wollen, so gilt dies Schlusswort nur für seine Alterswerke, nur für das, was er getupft, nicht für das, was er gemalt hat. Man mag dies Drama wohl im allgemeinen und weiten Sinne die Tragödie des Künstlers nennen, der über dem Schaffen vergisst zu leben, man mag darin einen tragischen Konflikt sehen, der keinem echten Künstler je völlig erspart geblieben ist, jedoch die besondere Fassung des dramatischen Problems gehört dem greisen Dichter, und es ist der unheilbare Zwiespalt des Dramas, dass es dem in voller Kraft schaffenden Künstler müde Stimmungen suggeriert, die doch erst mit der versiegenden Kraft entstehen. Das macht die Darstellung des Bildhauers Rubek auf der Bühne so schwierig, wenn nicht zu sagen unmöglich. Es liegt am nächsten, die Schuld auf den Schauspieler zu schieben, und im Einzelfall mag der Schauspieler auch nicht soviel aus der Rolle geschöpft haben, als sich trotz alledem daraus schöpfen lässt. Allein auch in der Wiedergabe durch den idealsten Schauspieler wird Rubek immer einen peinlichen und schwächlichen Eindruck machen; ein Künstler, der auf der Höhe seiner Kraft Meisterwerke schafft, kommt nicht als reue- und schuldbeladener Mann daran um, dass er ein weibliches Modell in all seiner jungfräulichen Herrlichkeit nur als Künstler betrachtet hat. Eben dies Modell, das in dem Künstler immer nur den Mann gesehen hat, das, von dem Manne verschmäht, irrsinnig geworden ist, fällt ihm das erschöpfende Urteil, er sei ohne Kraft und Willen, wenn er um seiner Kunst willen ihre Seele gemordet habe und sich dann selbst in Reue und Buße und Selbstanklage modelliere.

Diese Irene, die Rubek zufällig wiederfindet, nachdem ihn die Ehe mit einem fröhlichen und sinnlichen Weltkind mürbe gemacht hat, verheißt ihm eine Sommernacht auf den Bergen, und als er wie im Traume antwortet, das hätte das Leben sein können, und das hätten sie beide verscherzt, sagt sie: Was unwiederbringlich ist, sehen wir erst, wenn wir Toten erwachen; wir sehen, dass wir niemals gelebt haben. Irene handelt und spricht wie eine Wahnsinnige, und eine Diakonissin begleitet sie auf Schritt und Tritt, mit der Zwangsjacke im Koffer; Rubek aber meint, in allem, was sie sage, liege ein verborgener Sinn, und er sei der einzige, der diesen Sinn ahne. So schwer sind sie nun wohl nicht zu erraten, alle die wirren Reden der verschmähten Frau, die sich für tot hält, nachdem sie sich in einem wilden Leben erschöpft hat, und die aus diesem Tode nur erwachen kann, um zu sehen, dass sie nie gelebt habe, aber auf der Bühne ist diese Gestalt schwer oder gar nicht zu verkörpern; die Grenze zwischen dem Pathologischen und Psychologischen ist zu schmal, als dass sie selbst eine bedeutende Künstlerin sicheren Fußes beschreiten könnte. Es wird immer so etwas wie ein Gespenst herauskommen, dem sich der Held „ohne Kraft und Willen" gefangen gibt, womit dann völlig der Eindruck verwischt wird, als ginge ein aufrechter und großer Künstler in düsterer Tragik unter. Gegenüber diesen nicht sowohl hochgestimmten als überspannten Naturen treten die Gegenspieler in das hellere Licht, Frau Maja und der plumpe, rohe Bärentöter; ihr gewöhnliches Schicksal ist das menschlichere Schicksal, auch im dramatischen Sinne; sie steigen ins Tal, wo die Menschen wohnen, und werfen ihre zerbrochenen Existenzen zusammen, auf dass noch „so was wie Menschenleben" herauskomme, während Rubek und Irene von einer Lawine in den Abgrund gerissen werden, derweil sie zur Sommernacht auf die Berge klimmen.

Auf der Bühne wird der „dramatische Epilog" so wenig ein langes Leben gewinnen wie Ibsens andere Alterswerke. Was ihm seinen eigentümlichen und doch auch unverwüstlichen Reiz gibt, die persönliche Beichte des Dichters, lässt sich mit den robusten Mitteln des bretternen Gerüstes nicht verkörpern, wenigstens nicht so, dass ein reiner und starker Eindruck erreicht wird. Anders, wenn man das Drama liest. Wer diesen Dichter liebt und verehrt, wird es nicht ohne tiefe Anregung und Bewegung aus der Hand legen; er wird den Dichter selbst sprechen hören in den Reden seiner Geschöpfe und mit neuer Bewunderung erfüllt werden für die unerschöpfliche Künstlerkraft, die sich mit prometheischem Trotze noch auflehnt gegen das Menschenschicksal, von dem sie doch weiß, dass es unabwendlich ist.

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