Franz Mehring 19021009 Berliner Theater (Maeterlinck, „Monna Vanna")

Franz Mehring: Berliner Theater

Maeterlinck, „Monna Vanna"

9. Oktober 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 60-63. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 116-121]

Am 8. Oktober wurde zum ersten Male Maurice Maeterlincks drei-aktiges Schauspiel „Monna Vanna" im Deutschen Theater aufgeführt. Als ein großes Ereignis angekündigt, erfüllte die Darstellung kaum die Erwartungen, die an sie geknüpft wurden. Nicht als ob das Drama ohne tiefen Eindruck geblieben wäre; es löste vielmehr einen starken Beifall aus. Allein in diesem Beifall war nichts von der hinreißenden Gewalt einer neuen Offenbarung. Maeterlinck ist aus der Traumsphäre seiner früheren Dramen herausgetreten, um sich dem Drama zuzuwenden, „das uns alle angeht und unser ganzes Leben umspannt", zu dem Drama „der Starken, Bewussten und Klugen". Aber er sucht diese Starken nicht vorwärts, sondern rückwärts.

In der ausgezeichneten Abhandlung, worin Henriette Roland Holst unseren Lesern eben über Maeterlincks dichterischen Entwicklungsgang berichtet hat, spricht sie am Schlusse die Hoffnung aus, dass dies feine und tiefe Talent nach vielen Irrfahrten noch den Weg zur sozialistischen Auffassung finden werde. Das neueste Schauspiel Maeterlincks weist nach einer anderen Richtung. Der Dichter wendet sich von der visionären Traumwelt des absterbenden Kapitalismus der Zeit zu, wo der aufstrebende Kapitalismus in der strotzenden Jugendfülle seiner ersten Kraft noch „stark, bewusst und klug" war. Das Drama spielt in den Zeiten der Renaissance, der Maeterlinck manchen treffenden Zug abgelauscht hat, um sie schließlich doch auch nur wie ein farbiges Nebelbild am Horizont der Geschichte zu erblicken.

Der dramatische Konflikt bewegt sich um das Seelenleben einer Frau, die sich zur Herrin ihres Schicksals macht. Monna Vanna ist die Gattin Guido Colonnas, der die Besatzung des von einem florentinischen Söldnerheer hart bedrängten Pisa befehligt. Die höchste Not herrscht in der Stadt, deren Mauern schon in Bresche geschossen sind. Aber Prinzipalli, der als Feldhauptmann im Solde von Florenz die Belagerung leitet, lässt weder stürmen, noch geht er auf die Verhandlungen ein, durch die sich die Belagerten zur Übergabe der Stadt erbieten. Endlich bringt Marco Colonna, den sein Sohn Guido als Unterhändler in das gegnerische Lager gesandt hat, die Lösung des Rätsels.

Dieser Vater Colonna ist vielleicht die gelungenste Figur des Stückes. Ein alter Humanist, der einige platonische Dialoge entdeckt und übersetzt hat, kehrt er heim, begeistert von der gastlichen Aufnahme, die er bei dem humanistisch gebildeten Prinzipalli gefunden hat. Er schwärmt von Aristoteles, Plato, Homer, von dem Torso einer Göttin, die am Arnoufer ausgegraben worden ist. Der Sohn unterbricht ihn ungeduldig: „Sprechen wir lieber von den dreißigtausend Menschenleben, die eine Unvorsichtigkeit, ein Augenblick des Zauderns verderben, oder ein Wort zur rechten Zeit, eine frohe Botschaft vielleicht noch retten können." Worauf der Vater: „Ganz recht, vergaß ich doch, dass Ihr im Kriege lebt, jetzt wo es Lenz wird und der Himmel von Glück strahlt, wie ein erwachender König, wo das Meer sich hebt wie ein Lichtbrecher, den eine azurene Göttin den Göttern im Azur kredenzt, wo die Erde so schön ist und die Menschen so liebt!… Aber Ihr habt Eure Freuden, und ich spreche von der meinen … Ihr habt ja auch recht, und ich hätte Dir die Botschaft, die ich bringe, gleich verkünden sollen… Sie rettet dreißigtausend Menschenleben, um eins zu betrüben, aber diesem einen bietet sie die edelste Gelegenheit, einen Ruhm zu erringen, der mir reiner erscheint als aller Kriegsruhm … Die Liebe zu einem einzigen Wesen ist glückbringend und löblich, aber die Liebe zur Menschheit ist besser." Er verkündet nun eine gar seltsame Mär.

Prinzipalli ist als glücklicher Söldnerführer der Signoria von Florenz verdächtig geworden. Durch aufgefangene Briefe hat er erfahren, dass ihn, sobald Pisa erobert ist, in Florenz Gericht, Folter und Tod erwarten. So zögert er den Sturm hin, denn noch ist er Herr in seinem Lager; die Signoria darf nicht wagen, ihn abzuberufen am Tage vor einem Siege und an der Spitze eines Heeres, das seiner Beute harrt und ihm vertraut. So hat er sich denn dem Marco Colonna erboten, mit dem Kern seiner Truppen sich nach Pisa zu werfen und zugleich einen Zug von dreihundert Wagen mit Munition und Lebensmitteln, der just in seinem Lager angelangt sei, in die belagerte Stadt zu senden. Als Preis seines Verrats fordert Prinzipalli nur eins: Monna Vanna soll für eine Nacht in seinem Lager erscheinen; er wird sie mit dem ersten Morgenrot wiederschicken, doch zum Zeichen des Sieges und der völligen Hingebung soll sie allein und nur in ihren Mantel gehüllt kommen. Bei dieser Forderung schäumt Guido Colonna auf, aber sein eigener Vater verlangt dies Opfer; er hat die Signoria von Pisa bereits von Prinzipaliis Forderung unterrichtet, und sie legt die Entscheidung in die Hand Monna Vannas. Sobald diese auf der Szene erscheint, erklärt sie, dass sie ins Lager des Feindes gehen werde; auf die Bitten und Flüche ihres Gatten erwidert sie „mit starrer Haltung": „Nein, nein, nein, nein, Guido … Ich weiß … Ich kann nicht sprechen All meine Kraft verlässt mich, sag' ich nur ein Wort… Ich kann nicht… Ich will… Ich hab' es wohl bedacht, ich weiß, ich liebe Dich, ich danke Dir alles… Es ist entsetzlich … Und doch: ich gehe, ich gehe, ich gehe!"

Der zweite Akt spielt im florentinischen Heerlager. Er beginnt mit einer episodischen Szene zwischen Prinzipalli und Trivulzio, dem Kommissär der Republik Florenz. Die Szene ist offenbar eingeschaltet, um die krassen Unwahrscheinlichkeiten der Handlung zu mildern. Trivulzio hat die Signoria von Florenz gegen Prinzipalli aufgehetzt; dieser setzt ihm jetzt auseinander, wie er dadurch gezwungen worden sei, Verrat mit Verrat zu erwidern. „Heute Abend werd' ich Euch verkaufen, Euch und Eure erbärmlichen Herren, so grausam und vernichtend ich nur kann." Trivulzio rechtfertigt sich: Prinzipalli sei durch seine Siege zu groß geworden für die Republik; ein Mensch zähle nicht, wenn Florenz in Frage stehe; die Stadt sei alles, sonst gelte nichts. Das versteht Prinzipalli nicht; er hat keine Heimat: „Doch hab' ich ganz was anderes, was Ihr nie haben werdet und was kein Mensch in gleichem Maße besessen hat, wie ich… Ich werde es gleich haben, in einem Augenblick, hier an Ort und Stelle. Das wiegt mir alles auf… Geht, scheiden wir, wir haben keine Zeit, dies Rätsel zu ergründen … Wir sind zwei Gegensätze und berühren uns doch fast… Ein jeder hat ein Schicksal. Für den einen ist es ein Gedanke, für den anderen ein Wunsch … Und Euch würde es ebenso schwer, Eure Gedanken zu wechseln, als mir, meinen Wunsch zu ändern… Man geht ihnen bis zum Ende nach, sofern man mehr Glut und Feuer hat als die Mehrzahl der Menschen… Und was man tut, ist recht, denn man ist ja so wenig frei." So ist es doch wieder die Gebundenheit, die Unfreiheit, die Knechtschaft unter höheren Schicksalsmächten, die auch die „Starken" zwingt.

Dann tritt Vanna in das Zelt Prinzipallis. Als Knabe hat er sie gekannt und geliebt, dann hat ihn sein Vater mit nach Afrika genommen, wo ihn wilde Abenteuer erwarteten; als er heimkehrte, war die geliebte Jugendgespielin die Gattin Guido Colonnas geworden. „Ich hatte Euch nur das unbehauste Elend (eines herd- und heimatlosen Abenteurers zu bieten. Das Schicksal selbst schien von mir dies Opfer zu verlangen." Aber Vanna ist kühner als der kühne Soldat des Glücks: „Wie schwach und feige sind doch die Männer, wenn sie lieben!… Irret Euch nicht, ich liebe Euch nicht, und ich kann nicht sagen, ob ich Euch geliebt hätte…

Aber da schreit in meinem Herzen die Liebe selbst entrüstet auf, wenn ich sehe, wie ein Mann, der mich so heiß zu lieben wähnt, wie ich ihn hätte lieben können, so wenig Mut zu seiner Liebe hatte." Prinzipalli entschuldigt sich: Mut hätte er gehabt, aber es sei zu spät gewesen.

Vanna antwortet: „Es ist nie zu spät für eine Liebe, die ein Leben füllt… Sie verzichtet nicht. Wenn sie nichts mehr erwartet, sie hofft doch noch … Wenn sie nicht mehr hofft, sie rafft sich doch noch einmal auf … Wenn ich geliebt hätte wie Ihr, ich hätte … Oh man kann viel sagen, was man hätte können … Aber das weiß ich, ohne Kampf hätte mir der Zufall mein Hoffen nicht geraubt… Ich wär' ihm Tag und Nacht gefolgt… Ich hätte zum Schicksal gesagt: Mach Platz, ich komme … Die Steine selbst hätt' ich gezwungen, für mich einzustehen, und der, den ich liebte, hätte mich hören müssen; er hätte den Spruch fällen müssen – und mehr als einmal fällen müssen." So ermutigt, fragt Prinzipalli, ob Vanna ihren Gatten liebe. „Als Guido mich freite, war ich allein und arm. Ein armes Mädchen, das allein steht, besonders wenn es schön ist und die Verstellungskunst nicht kennt, fällt bald tausend Verleumdungen zur Beute … Guido hörte nicht auf sie, er hatte Vertrauen zu mir, und dieser Glaube tat mir wohl. Er hat mich glücklich gemacht, soweit man es werden kann, wenn man den törichten Träumen entsagt, für die unser Menschenleben nicht zu passen scheint… Meine Liebe zu Guido ist minder seltsam als die, welche Ihr zu empfinden meint, aber gewiss ist sie gleichmäßiger, treuer und beständiger … Es ist die Liebe, die das Schicksal mir bestimmt hat; ich war nicht blind, als ich sie annahm; ich werde keine andere haben, und wenn sie einer bricht, ich werde es nicht sein. Ihr habt Euch geirrt. Wenn ich Worte sprach, die Euren Irrtum erklären, so sprach ich nicht für Euch und nicht für uns, sondern im Namen einer Liebe, die das Herz im frühesten Dämmerschein zu sehen wähnt, die es vielleicht auch gibt, die aber nicht die meine ist und nicht die Eure, denn Ihr tatet nicht, was eine solche Liebe täte." In dieser Art philosophiert sich Vanna in die Liebe zu Prinzipalli hinein, doch kommt es nur zu einem Kusse, den sie ihm auf die Stirne drückt. Dann nimmt sie ihn als ihren Gast mit zurück nach Pisa, als die Schreckenskunde erschallt, dass Prinzipaliis Verrat misslungen und ein neues florentinisches Heer im Anrücken begriffen sei.

Der dritte Akt bringt dann die Auseinandersetzung mit dem Gatten. Er will das Paar ziehen lassen, aber erst will er wissen, ob sie sich in der verhängnisvollen Nacht schon angehört haben. Als Vanna nur den Kuss auf die Stirn einräumt, soll Prinzipalli gefoltert werden, und um ihn zu retten, lügt Vanna jetzt, dass er sie vergewaltigt habe, aber dass sie die Rache selbst nehmen wolle. Sie tobt öffentlich gegen Prinzipalli, während sie ihm heimlich zuflüstert, dass er schweigen solle, dass sie ihn liebe, dass sie ihn retten werde. Beglückt schließt Guido sie in seine Arme: „Jetzt ist's vorüber, und alles ist vergessen über der guten Rache. Es war ein böser Traum." Zweideutig antwortet Vanna: „Es war ein böser Traum … der schöne fängt jetzt an … der schöne fängt jetzt an." Darüber fällt der Vorhang.

Um solche kurze Inhaltsangaben dramatischer Dichtungen steht es immer misslich; sie verwischen die feineren psychologischen Übergänge und überhaupt den Blütenstaub, der auf dem Werke eines echten Dichters liegt. Aber sie lassen sich schwer umgehen, wenn die Frage so steht wie bei diesem Drama, das eine neue Epoche in Maeterlincks künstlerischem Schaffen eröffnen soll. Es ist richtig, dass Maeterlinck sich darin mehr als früher dem realen Leben nähert, aber es ist fraglich, ob diese Mischung von Traum und Wirklichkeit nicht künstlerisch unvollkommener ist, als seine Traumdichtungen eben wegen ihres einheitlichen Tones waren. Handeln Prinzipalli und Vanna nicht aber auch wie im Traum? Ist es nicht ihr „Schicksal", auf das sie sich berufen, wenn sie Handlungen begehen, die sich psychologisch nicht begründen lassen?

Am ehesten ist die Heldin des Dramas ausgereift; offenbar soll sie „bewusst, stark und klug" in dem Sinne von Maeterlincks neuer Kunst sein. Sie bricht das „Schicksal", das sie an Guido Colonna gefesselt hat, aber weder bewusst noch stark noch klug. Sie hat nicht einmal etwas gemein mit den in ihrer Art gewaltigen Frauengestalten der Renaissance, geschweige denn mit der Frau, die frank und frei die Rechte ihres Geschlechtes vertritt. Sie ist alles in allem die unverstandene Frau, die einer schon sehr verbildeten Periode der Bourgeoisie angehört, die zu spät den „Rechten" findet und dann noch, statt sich ihm mit dem Rechte der Leidenschaft hinzugeben, die solide Gattin spielt, bis sie, gereizt durch die beleidigenden Zweifel an ihrer anatomischen Unschuld, sich entschließt, dem braven Ehemann ein X für ein U zu machen. Der dritte Akt mit den feierlichen Versicherungen, dass nur ein Kuss auf die Stirn und nichts Verfänglicheres vorgekommen sei, streift manchmal hart an die Karikatur, und es ist nicht allein technische Unbeholfenheit, es wurzelt im Grundfehler des ganzen dramatischen Konfliktes, dass der Dichter die Lösung dazu durch das leidige Hilfsmittel des Beiseitesprechens dem Hörer zu verraten weiß.

In mancher Hinsicht erinnert das Drama Maeterlincks an diejenigen von Hebbels Dramen, in dem dieser deutsche Dichter die unverstandene Frau seiner Zeit in antike oder mittelalterliche Kostüme steckte. Aber der Vergleich fällt durchaus zu Hebbels Gunsten aus, der dies sexuelle Problem psychologisch viel tiefer zu fassen und dramatisch viel klarer zu lösen verstand. Hebbels Dramen gewinnen deshalb durch die Aufführungen, während Maeterlincks Drama dadurch verliert. Es wurde nicht besonders gut im Deutschen Theater gespielt, was immerhin nicht die Schuld der Schauspieler war. Spielten sie es als historisches Leben, wie es gespielt sein will, so verfliegt der „Dämmerschein", der, rein künstlerisch, doch immer Maeterlincks größte Stärke bleibt, und der derbe Schritt der dramatischen Aktion zertritt viele der mit freigebiger Hand über das Drama gestreuten Gedankenperlen, an denen der Leser seine aufrichtige Freude haben mag.

Kommentare