Franz Mehring 19001107 Berliner Theater (Tolstois „Macht der Finsternis")

Franz Mehring: Berliner Theater

Tolstois „Macht der Finsternis"

7. November 1900

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 186-188. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 147-150]

Die erste öffentliche Aufführung von Tolstois „Macht der Finsternis", die am 3. ds. Mts. im Deutschen Theater stattfand, hatte einen großen, aber vielleicht nicht ganz echten Erfolg. Einen nicht ganz echten Erfolg insofern, als der Beifall schwerlich aus rein ästhetischen Gründen gespendet wurde. Immerhin konnte man sich di e etwa mitwirkenden Nebengründe gefallen lassen.

Zum Teile sollte wohl gegen die dumpfe Beschränktheit der Zensur protestiert werden, die dem einzigen oder doch so gut wie einzigen Drama des großen russischen Dichters so lange den Weg auf die deutsche Bühne versperrt hat. Würde die polizeiliche Willkür überhaupt nach Gründen handeln, so könnte man versucht sein, nach dem Grunde dieses Verbots zu suchen, selbst mit der Aussicht, ihn so schwer zu entdecken wie eine Nadel auf dem Meeresgrund. Es wäre eines jener verblüffenden Rätsel, die durch ihre Schwierigkeit den Ehrgeiz erwecken, sie zu lösen. Man kann es verstehen, wenn der polizeiliche Verstand nicht ausreicht, die ästhetische Sittlichkeit zu begreifen, die jedes erste Kunstwerk enthält, aber die „Macht der Finsternis" trägt ihre moralische, ja ihre moralisierende Tendenz schon an der Stirn, nämlich in ihrem Titel und mehr noch in ihrem Nebentitel: Reiche dem Bösen einen Finger, und er fasst die ganze Hand. In dem Verbot dieses Dramas, das zehn Jahre lang oder noch länger aufrechterhalten worden ist, hat die polizeiliche Theaterzensur ihr abschreckendstes Gesicht gezeigt.

Zum anderen Teile spielte auch der Respekt vor dem Namen des Dichters bei dem rauschenden Beifall mit. Wäre das Drama unter einem unbekannten Namen aufgeführt worden, so wäre sein Bühnenerfolg mindestens zweifelhaft gewesen. Tolstoi ist ein zu großer Epiker, um ein ebenso großer Dramatiker sein zu können. Er hatte seine gewaltigen Romane längst vollendet und stand schon an der Schwelle des Greisenalters, nahe dem sechzigsten Lebensjahr, als er sich zum ersten und – bis auf ein flüchtig skizziertes Lustspiel – einzigen Male im Drama versuchte.

Das ist bereits rein äußerlich Beweis genug für seinen Mangel an dramatischer Begabung; wer auch nur ein Äderchen eines geborenen Dramatikers besitzt, wartet nicht so lange, den Schritt auf die Bühne zu tun. Man kann sogar noch weiter gehen und, ohne dem Dichter zu nahe zu treten, unumwunden sagen, dass er dies Drama nicht in dem unwiderstehlichen Drange künstlerischen Schaffens, sondern aus moralischen Gründen und für moralische Zwecke geschrieben hat; es fällt der Zeit nach ins Jahr 1886, als Tolstois Umwandlung in einen poetisierenden Buß- und Moralprediger unlängst begonnen hatte. Man mag diese Umwandlung beklagen oder bewundern, man mag sie aus den historischen Lebensbedingungen des Dichters und seiner Zeit erklären, man mag behaupten und selbst beweisen, dass es so und nicht anders mit Tolstoi habe kommen müssen, aber man darf nicht bestreiten, dass der Dichter dabei unendlich verloren hat. Turgenjew, der selbst ein großer Dichter war, ließ noch von seinem Sterbebett die flehentliche Bitte an Tolstoi gelangen, dass dieser zu seinen künstlerischen Idealen zurückkehren möge, jedoch wann hätte je ein weltlicher, ob auch treuester Freundesrat einen religiösen Sektenstifter bekehrt!

Wäre der Dichter in Tolstoi nicht von dem Buß- und Moralprediger bedrängt worden, so wäre Tolstoi wohl sowenig auf den Gedanken verfallen, ein Drama zu schreiben, wie Ibsen je auf den Gedanken verfallen ist, einen Roman zu dichten. Die in der bürgerlichen Ästhetik üblichen Vergleiche zwischen Ibsen und Tolstoi sind im allgemeinen nicht mehr als ganz von der Oberfläche geschöpfte und deshalb gewöhnlich sehr schiefe Redensarten, aber eine rein technische Parallele zwischen dem Bau von Tolstois Drama und einem der Ibsenschen Meisterdramen ist wohl ohne Bedenken zulässig, und diese Parallele zeigt sofort, dass es der „Macht der Finsternis" so ziemlich an aller dramatischen Kraft fehlt. Sie ist eine dramatisierte Begebenheit, die Tolstoi einer wirklichen Begebenheit nacherzählt, um den moralischen Satz zu illustrieren, dass der Böse die ganze Hand ergreift, wenn man ihm den kleinen Finger reicht. Man braucht nicht vom spießbürgerlichen Standpunkt aus irgendwelchen Anstoß an den „Gräueln" des Stückes zu nehmen, an dem Gatten- und Kindesmord und dem gehäuften Ehebruch, aber vom ästhetischen Standpunkt aus vermisst man die weise Ökonomie in der Wahl der Motive, womit der echte Dramatiker seine stärksten Wirkungen erzielt. Das Drama gliedert sich nicht sowohl in fünf Akte, als dass es in fünf dramatische Bilder auseinanderfällt. Tolstoi hat seinen Stoff in Akte eingeteilt wie in chronologische Kapitel, da er hoffen mochte, dass seine moralische Tendenz von der Bühne aus die wirksamste Propaganda machen würde.

Die einzelnen Gestalten des Dramas treten von Anfang an fertig auf; einige psychologische Arbeit ist fast nur an dem Helden zu spüren, dem Knechte Nikita, einem leichtfertigen, aber nicht eigentlich bösartigen Burschen, den die Leidenschaft für die Weiber von Schuld zu Schuld treibt, bis er jammernd zusammenbricht: „Was haben sie mit mir gemacht! Mein Gott – was haben sie mit mir gemacht!" In seiner Buße und Reue nimmt er alle Untaten auf sich, die im Hause geschehen sind, auch wenn er selbst sie nicht vollbracht hat, sondern sein böses Weib und seine bösere Mutter. Sein alter Vater aber steht ihm helfend und tröstend bei: „Sprich, mein Kind, sprich alles von der Seele herunter, dann wird es dir leichter sein. Tue Buße vor Gott, fürchte dich nicht vor den Menschen!" Mit dieser hausbacken-religiösen Moral löst sich der seelische Konflikt und schließt das Drama; noch einmal – hätte es ein unbekannter Dichter damit wagen wollen, wer weiß, was sein Schicksal gewesen wäre! Auf keinen Fall hätte er den stürmischen Beifall gefunden, womit Tolstois Drama begrüßt wurde.

Dennoch wäre es eine arge Übertreibung, seinen Erfolg allein auf die paar ästhetisch unechten Bestandteile zurückzuführen, die darin enthalten sein mochten. Wenn Tolstoi kein großer Dramatiker ist, so ist er immer ein großer Dichter, der sich als solcher niemals ganz verleugnen kann und sich in der „Macht der Finsternis" weniger verleugnet als in irgendeinem sonstigen Werke aus Tolstois moralisch-poetisierender Periode, wenn man etwa noch von seinem neuesten Roman absieht. Die Schilderung des russischen Bauernlebens in der „Macht der Finsternis" ist bei alledem voll des eigenartigsten Reizes. Mag der Dichter weder die Charaktere noch die Situationen entwickeln, so bewegen sich die einmal geschaffenen Charaktere in den einmal gegebenen Situationen mit einer überwältigenden Lebenswahrheit. Hier sieht man doch den gewaltigen Schöpfer am Werke, der seinen Geschöpfen menschlichen Odem einzublasen vermag. Nicht nur die von wilder Leidenschaft, von der „Macht der Finsternis" bewegten Gestalten treten mit plastischer Kraft hervor, sondern auch der Buß- und Moralprediger, der Vater des Helden, der die Religion als einzigen Lichtstrahl in die Finsternis dringen lässt. Es gibt kein höheres Lob für die Kunst des Dichters, die sich in diesem Drama doch noch immer siegreich gegen die fixe Idee des Sektenstifters wehrt.

Eins freilich wird für einen starken Bühnenerfolg der „Macht der Finsternis" immer noch nötig sein: eine vollendete Darstellung. Je schwächer die spannende Kraft des Dramas selbst ist, je mehr es nur durch seine epische Stimmung, durch sein gegenständliches Wesen wirkt, desto mehr wird darauf ankommen, ob die Schauspieler diese intime poetische Kraft auszuschöpfen wissen. Im Deutschen Theater ist es ihnen so gelungen, dass jedes Wort des Lobes überflüssig erscheint. Die Darstellung war eine meister- und musterhafte Verkörperung dessen, was der Dichter Tolstoi in dies Drama gelegt hat, und so eine wohlverdiente Huldigung an den Genius des greisen Poeten.

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