Franz Mehring 19081225 Bücherschau (Hermann Gorter, Ein kleines Heldengedicht)

Franz Mehring: Bücherschau

Hermann Gorter, Ein kleines Heldengedicht

25. Dezember 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 496. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 122124]

Ein kleines Heldengedicht. Unter diesem Titel ist eben in dem Verlag von Maas und Van Suchtelen in Leipzig die deutsche Übersetzung eines proletarischen Epos erschienen, das unser holländischer Genosse Hermann Gorter in seiner Muttersprache veröffentlicht hat und das die holländischen Arbeiter mit großem Beifall begrüßt haben. Wir geben daraus eine Probe, Bruchstücke aus der Rede, die eine Vorkämpferin der proletarischen Frauenbewegung für den Achtstundentag hält:


Achtstundentag. Wir wollen ihn, weil wir

Frauen nicht kräftig genug sind, und weil

Die ewige Kraftanspannung der Fabrik

Uns Frauen bricht. Da sitzen wir und tun

Eintönige Arbeit, unsre zarten Nerven

Verstumpfen durch den Blick auf die Maschine.

Die Hirne werden stumpf wie stumpfe Messer -

Wir denken nicht mehr – unsre Hand schafft nur.

Aus unsrem Körper tropft die Seele fort.

Wir wollen den Achtstundentag, weil wir

Gesund sein wollen, so wie dort die Bäume,

So wie die Tiere, diese Sonne, deren

Goldschein ich hier in meinen Fingern habe …


Wir wollen den Achtstundentag deshalb,

Weil Schutz das Kind muss haben, das in uns

Lebt, hier in unsrem Schoß. Wenn dieser Leib,

Diese Arme, diese Beine, dieser Körper

Und dies Haupt nicht sacht gehn und nicht ans Kind

Denken – dann wird der Stoß, der hier mich trifft,

Fortgepflanzt auf das Kind. Und wenn mein Haupt

Nicht denkt fortwährend an mein kleines Kind,

Und wenn mein Haupt nicht reif verständig denkt

In meiner Schwangerschaft, dann wird mein Kind

Dumm oder arm und glanzlos wie so viele.


Wir wollen den Achtstundentag, weil wir

Das süße Plaudern unsres kleinen Kindes

Hören müssen. Wir wollen nicht hinscheiden

Von dieser Erde, ohne das gehört

Zu haben, diesen kleinen Wasserfall

Durch unser Haus. Sind wir im andern Zimmer,

Dann spricht's dort fern ganz leise, seine Seele

Bewegt sich, tut sich auf und klinget offen

Wie eine Blume. Sollen wir die Zeit

Nicht haben, das zu hören? Darum gebt

Uns den Achtstundentag, dass wir ein Stück

Für uns haben, um unsrem Kind zu lauschen.


Wir wollen sehn, wie unser Junge wird

Zum Mann – die ersten männlichen Gedanken

Auf seinem Antlitz sehn, die erste Sprache

Männlicher Tat vernehmen, seine blassen

Wangen unter den dunkelbraunen Haaren

Erforschen, wissen, wenn die Liebe pocht

Zuerst in seiner Schläfe, hoch am Antlitz

Und tief in seinem Herzen. Und wir wollen

Unsrem Mädchen erzählen, was die Liebe

Ist, was der Mann. Wir wollen bei ihr sein,

Bis sie Frau ist, wie ihre eigne Schwester.


Wir wollen bei unserem Manne sein,

Wir wollen unsre Liebe, o, auskosten

Bis an den Tod, weil unsre Kinder wissen

Sollen, was eine Ehe ist. Darum Achtstundentag.

Denn ohne den gibt's dazu keine Zeit.

Wir fordern den Achtstundentag, weil unser

Herz glüht. – Wir sind nicht die toten Menschen

Der Bourgeoisie, wir sind die Proletarier,

Die Blumen der Menschheit. In unsren Herzen

Brennt eine Fackel, wir wollen zur Höhe

Wie Flammen, die Natur ruft uns.


Hinaus in die Natur wollen wir, Schönheit

Suchen und finden in dem Schaum der See,

Wir wollen die Musik anhören,

Die aufsteigt von der Seefläche, wir wollen

Liegen am Strand und die Geheimnisse

Der Muscheln und des Sandes vor uns ausspähn

Wir wollen Vögel im Wald fliegen sehn,

Wir wollen Blumen dort erblühen sehn,

Die Sonne wollen wir wie einen Bruder

Fühlen. So frei, wie sie die Strahlen sendet,

Wollen wir, dass die Menschheit uns aussendet…

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